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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

bedeckten Orden, ein Ordensband mit einem großen Stern daran schlang sich um den Hals. Der Mann konnte vierzig oder mehr Jahre alt sein, er hatte unverkennbar slavische Gesichtszüge und schien sehr dunkel. Sein Blick war hochmüthig, seine starken Lippen deckte ein kleiner Bart.

„Die Briefe werden Aufschluß geben, was mir das Bild soll,“ sagte Rahel bebend.

Von Lea war kein Brief da, nur von den Eltern. Sie nahm den der Mutter und las:

„Mein Kind, ich bin sehr unglücklich, daß Du an Weihnachten fern von uns bist. Ich bat Papa, Dich mit Malchen nach Wiesbaden kommen zu lassen, aber wir gehen schon vorher nach Paris. Die kleine Kiste schicken wir im Augenblick der Abreise, des Zolles wegen. Die Zeit in Paris liegt entsetzlich vor mir. Ich halte Leas Wahl für übereilt und kann mich nicht daran gewöhnen, daß dieser Russe mein Schwiegersohn sein soll …“

Weiter kam Rahel nicht. Sie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.

„Was ist Ihnen?“ rief Lüdinghausen und sprang auf. Er hatte mit wachsender Angst die Veränderung in ihren Zügen bemerkt.

Rabel faßte sich gewaltsam.

„Nichts! Ich will Papas Brief lesen.“

„Meine liebe Rahel! Dein Papa ist selig. Sei Du es mit ihm! Unsere Lea macht ihr Glück. Ich sage Dir: märchenhaft! Habe mich nach Dasanoff bei den Botschaften in Paris und Berlin erkundigt, trotzdem das überflüssig war, denn er ist hier bei allen ersten Persönlichkeiten der Gefeierte. Lea wird eine der reichsten und ersten Fürstinnen Rußlands. Dasanoff ist gestern nach Paris gegangen, wir folgen morgen. Die Hochzeit wird natürlich auf Römpkerhof und schon im Beginn des Februar abgehalten. Anbei sein und ihr Bild! Nächstens mehr! Dein Papa. 

P. S. Welche tragische Geschichte mit den Clairons! War übrigens ein merkwürdiger Zufall: am selben Tag, als Mama diese Nachricht von Malchen erhielt, erklärte Lea, daß sie Dasanoff nehmen wolle.“

Rahel stand auf. Sie sah aus wie der Tod.

„Lesen Sie!“ sprach sie rauh.

Lüdinghausen fuhr zurück, als sie ihm den Brief hinbot und hart hinzusetzte:

„Lea wird in sechs Wochen Fürstin Dasanoff. Sie hat sich mit ihm verlobt am Tage, wo sie vernahm , daß Clairon Herr auf Westernburg geworden sei.“

Aber plötzlich brach ihre Härte in leidenschaftliche Klagen aus.

„Lea!“ rief sie, „Lea! Wie spielst Du mit Dir und allem! Mit der Liebe und dem Leben!“

Sie barg ihr Antlitz in ihren Händen. Lüdinghausen war aufs tiefste erschüttert.

„Rahel,“ bat er, „um Gotteswillen, fassen Sie sich! Wer kann ermessen, was in diesem Herzen voll dunkler Abgründe vorgegangen ist! Wer entscheiden, ob es nicht lange verhehlte Verzweiflung war, die Lea zu diesem Schritt getrieben hat!“

„Könnte ich zu ihr,“ klagte Rahel fiebernd, „um sie abermals aufzuhalten, um ihr noch einmal in die Arme zu fallen, wenn sie auf den Wegen zum Unglück dahinrast.“

„Diesmal,“ sagte er ernst, „diesmal würde Ihr Zuruf vergeblich sein. Denn Lea hat jetzt mit eiserner Entschlossenheit und kalter Ueberlegung wiederholt, was sie damals in thörichter Verblendung wollte.“

„Meine arme, unglückliche Schwester! Fühlen Sie denn nicht, was das heißen will: gerade am Tag, als sie von Clairons Lebenswendung erfuhr, gerade da gab sie dem noch glänzenderen Bewerber die Hand. Das war eine That dämonischen Trotzes gegen das eigene Herz und gegen ihn, den dies Herz geliebt.“

„O Rahel, Sie haben recht, Lea zu beweinen, helfen aber können Sie ihr nicht, denn durch diese That entfernt sie sich weit und für immer von Ihnen, ihrem Elternhause, ihrem Vaterland.“

Und während er das aussprach, ging ein Erschrecken, ein glückliches und besinnungraubendes, durch sein Inneres. Wenn Lea so die Ihrigen verließ, so bewies sie, daß sie sich loslösen wollte von allen, die sie liebten und bereit waren, sich für sie zu opfern, dann – ja, dann stand ihre Gestalt auch nicht mehr wie eine drohende Abwehr zwischen ihm und der Geliebten.

„Rahel!“ sagte er mit einer Stimme, welche ihr in die Seele drang.

Sie ließ die Hände vom Gesicht sinken und sah ihn an.

Und mit jenem schnellen und geheimnißvollen Verständniß, welches nur zwischen Liebenden sich entzünden kann, wußte sie seine Gedanken.

„Rahel,“ begann er wieder und erfaßte ihre Hände, „soll ich wirklich ihretwegen ewig fern stehen und nie bekennen dürfen, daß ich sie nie geliebt habe, nie, mit keinem Herzschlag? Nicht gestehen, daß ich Dich liebe? Dich, so lang ich athmen werde?“

Sie schloß die Augen, aber sie sprach kein Wort.

„Mein Gott!“ rief er in heiß erwachender Angst, „kannst Du nicht verzeihen und vergessen? Einem Mann nicht glauben, der sich einmal so irre leiten ließ?“

Seine Hoffnung wollte versinken, aber voll Leidenschaft versuchte er noch einmal, das Glück zu zwingen.

„Rahel, so liebst Du mich nicht?“

Da richtete sie ihr Gesicht empor und blickte ihn an, und plötzlich hatte er sie umfaßt und küßte ihre Lippen und ihre Augen.

Sie hatten sich ohne weitere Worte für immer gefunden. –

Fräulein Malchen fiel beinahe in Ohnmacht, als sie das Vorgefallene hörte. Sie blieb bis an ihr Lebensende der Meinung, daß, wenn sie bei der Partie Bésigue nur ein bißchen mehr auf Raimars Scherze eingegangen wäre, der Abend mit einer Doppelverlobung geendet hätte, eine Ansicht, welche sie natürlich in der Tiefe ihrer Brust verbarg und nicht einmal ihrer lieben Alide anvertraute. Raimar dagegen sprach noch jahrelang von der „schauderhaften“ halben Stunde, wo er mit Fräulein Malchen beim Kartenspiel Höllenqualen der Langenweile ausgestanden hatte.

„Unsere berühmte Partie Bésigue“ wurde oft citiert, aber jedes dachte sich dabei in recht verschiedene Erinnerungen hinein.

Für jetzt wurde, als die Sammlung ein wenig wiedergekehrt war, beschlossen, daß Lüdinghausen und Rahel ihre Vereinigung vor Rahels Eltern und Lea noch verschweigen sollten.

Rahel war nicht ganz frei von der Furcht, ein Wort oder nur ein Blick von Seiten Leas könne ihr noch wehthun und ihr jene böse Rede der Schwester wieder ins Gedächtniß rufen: „Du wolltest ihn für Dich selbst haben.“ Sie empfand wohl, daß es kleinlich gehandelt sein würde, ihre Liebe deshalb zunächst zu verbergen, und war ganz froh, daß es außerdem noch Gründe für die Heimlichkeit gab.

Daß es Lea sowohl wie Lüdinghausen angenehmer sein mußte, sich jetzt noch nicht zu begegnen, war sehr begreiflich, obwohl Lüdinghausen in ehrlicher Ueberzeugung den Wunsch hegte, ihr in jeder erlaubten Form zu zeigen, er habe sie nie geliebt.

Ferner mußte es für Herrn von Römpker leichter sein, in Lüdinghausen zum zweiten Mal den Schwiegersohn zu begrüßen, wenn Lea nicht mehr im Hause war.

Rahel sprach auch für die arme Mama, Malchen für ihre liebe Alide, die gewiß ohnehin schon unter den Sorgen über Leas Brautstand zusammenbrach.

Und so schien es denn am besten, den Eltern diese unerwartete Neuigkeit erst am Tage nach Leas Vermählung mitzutheilen. Onkel Raimar versprach, die Liebenden wie bisher unter seine Fittiche zu nehmen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich zu sehen.

„Ich danke Dir,“ sprach Rahel zu Lüdinghausen als Schlußwort dieser Verständigungen, „ich danke Dir, meinetwegen und auch ihretwegen, daß Du Dich geduldest. Denn so kann ich ihr, die in den kalten Glanz der Welt hinausziehen will, noch einmal das Herz zu erwärmen suchen, damit sie für alle Zeiten schöne und traute Erinnerungen mit hinwegnimmt von der Stätte unserer gemeinsamen Kindheit.“

Thränen schimmerten in Rahels Augen. Alle Liebe, alles Kinderglück, einst geteilt mit der verlorenen Schwester, war wieder wach in ihrem Herzen, aber auch alle Leiden, die sie erduldet hatte durch die eitle Selbstsucht der andern.

Und in dem Frieden dieses Augenblicks vermählten sich die heitern und die schmerzlichen Erinnerungen zu einer liebevollen Wehmuth. Ihr großes, treues Gemüth war ebenso erfüllt von eigener Seligkeit als von dem Wunsch, auch die Schwester einst glücklich zu wissen.

Der Mann aber, mit dem sie ihre Zukunft theilen wollte, küßte ihr voll Andacht diese schönen Thränen von den Wimpern.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_482.jpg&oldid=- (Version vom 6.9.2023)