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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

13.

In einem der größten und elegantesten deutschen Ostseebäder war die Hauptzeit des Besuches vorüber. Das heißt, die Familien mit den Kinderscharen waren davongezogen, Schul- und Gerichtsferien zu Ende, und die nun noch ankommenden Gäste lebten stiller, gemessener dahin. Der Adel des Hinterlandes, die Besitzer der Güter in der Provinz hatten seit vielen Jahren die Gewohnheit, sich hier im September ein unverabredetes Stelldichein zu geben. Man war gewiß, um diese Zeit immer gute Gesellschaft und gute Wohnungen zu finden.

Hoch über dem breiten, weißsandigen Strand zog sich, im tiefsten Buchengrün, die Reihe der Villen hin. Von der Gartenpforte einer jeden führte eine kleine Treppe hinab zu der Strandfläche, die, weit und glatt, den herrlichsten Raum gewährte. Hier lebten die meisten Badegäste fast den ganzen Tag. Gruppen von Strandkörben standen da und dort beisammen. Fischerboote lagen umgestürzt im Sande. Weit ins Meer hinaus war eine Brückenpromenade gebaut, die gekreuzten eisernen Rippen, auf denen die Balken lagen, waren durchschäumt von den heranrollenden Wogen, über die Bretter des Stieges schritten elegante Spaziergänger. Fern, abwärts und aufwärts am Strand, ragten zwei mächtige Holzpavillons in die See, das Herren- und das Damenbad.

Der Glanz eines ungetrübten Septemberhimmels lag über Meer und Land. Die Wellen glänzten wie dunkle Saphire und rollten in ruhevoller Majestät strandwärts, wo sie sich in gehaltener Bewegung überschlugen und kurz weiß aufschäumten. Auf dem Strand war es menschenleer. Die Mittagshitze flirrte, und stumm flog eine Möve mit trägem Flügelschlag dicht über das Wasser hin und setzte sich endlich auf das Geländer des Steges, furchtlos dicht neben einen kleinen Knaben, der dort stand.

Er war schon lange da und schaute mit nachdenklichen Kinderaugen in die sich ewig verändernden Wogen. Sein schlankes Körperchen war von einem dunkelblauen Trikotwams und kurzen Höschen eng umschlossen. Seine Beinchen staken in schwarzen Strümpfen und die Füße in gelblichen Lederschuhen. Sein Gesicht war von dem Rand des weit zurückgesetzten Strohhutes wie von einem gemalten Heiligenschein umgeben. Blonde Locken fielen, quer geradegeschnitten, auf seine Stirn und kamen unter dem Hutrand an den Schultern hervor. Der Knabe hatte die Hände auf dem Rand des Geländers gefaltet und das Kinn aufgestützt. Mit der Geduld und Ausdauer, die Kindern eigen ist, beobachtete er alles, was die Wogen herantrieben und wieder vom Ufer ableckten. Auf die Menschen, die vereinzelt vorübergingen, achtete er gar nicht. Er sah auch nicht auf die Dame, welche jetzt am Strand allein daherschritt, obschon sie von jener Seite kam, der er sein Gesicht zugewandt hatte.

Sie war groß und schlank, der Wind, der übers Meer her wehte, erfaßte ihr Kleid, so daß es sich rechts eng an ihren Körper legte und links in bauschigen Falten flatterte. Langsam, in aufrechter Haltung, näherte sie sich. Sie trug gelbbraune Handschuhe und schräg vor sich einen geschlossenen weißen Spitzenschirm. Ihren Kopf bedeckte ein großer weißer Hut, weiß war auch ihr wollenes Gewand. Hut und Gesicht waren von meergrüner Gaze umhüllt.

Die Dame war an einigen Leuten vorübergegangen, an einer Frau, die in einem Strandkorb saß und las, und dann an einem Mann, der auf seinem Plaid im Sande lag. Sie bemerkte niemand. Mit der vollkommensten Gleichgültigkeit schaute sie ins Leere.

Der Knabe indeß zog ihre Augen auf sich. Sie stand still und blickte ihm zu, wie er regungslos die Wogen beobachtete. Der Schnitt seiner Züge war schön und vornehm und gemahnte die Frau an etwas – an etwas –

Sie schritt langsam weiter, trat auf die Brücke und stellte sich neben den Knaben. Der ließ sich, nach flüchtigem Aufblick, nicht stören.

Sie aber fühlte sich, je länger sie ihn betrachtete, desto mehr gezwungen, ihn anzureden.

„Wonach siehst Du da, Kleiner?“ fragte sie. Es war eine tieftönige, doch etwas verschleierte Stimme, mit welcher sie sprach.

Der Knabe machte eine leise Bewegung mit der Schulter und antwortete nicht.

„Ich habe Dich noch nicht bemerkt. Bist Du erst angekommen?“ forschte sie weiter.

„Gestern,“ sagte er kurz; seine kindliche Lebhaftigkeit und Ursprünglichkeit konnte dem Befehl der Mama, mit Unbekannten nicht zu sprechen, nur sehr schwer folgen.

Die Fremde aber hatte ein merkwürdiges und ihr selbst unerklärliches Verlangen, das blonde Haar des schönen Knaben zu streicheln, sein Pagenköpfchen ohne Hut zu sehen.

Sie nahm ihm den Hut ab und fuhr sanft über sein Haar.

Da riß er ihr den Hut aus der Hand.

„Nicht anfassen!“ schrie er und lief davon.

Die Villa gerade gegenüber der Brücke mußte seine Wohnung sein, denn er eilte dort die Treppe hinauf. Und von dem Garten aus mußte man ihn auch beaufsichtigt haben, denn eine kleine reizende Frau erschien in der Pforte und gesellte sich zu dem Flüchtling, der auf der obersten Stufe stehen blieb.

Die weißgekleidete Dame verharrte auf dem Brückensteg. Ihr war zu Muth, als habe man ihr eine schwere Beleidigung angethan, ihre Kniee zitterten. Doch sofort hob sie in Selbstverspottung hochmüthig die Lippe über diese „alberne Empfindung“. Um vor dem Knaben und seiner Mutter nicht zu thun, als habe sie bloß seinetwegen die Brücke betreten, blieb sie, machte sich mit dem Sonnenschirm zu schaffen und spannte ihn gegen den Wind auf.

Dann gab sie sich den Anschein, eine Weile ins Wasser zu schauen, denn da oben standen noch immer diese Menschen, jetzt um die Person eines Mannes vermehrt, und beobachteten sie. Wahrscheinlich ängstliche Leute aus der Provinz, die dachten, daß man ihnen den Sohn rauben wolle, wenn man freundlich mit ihm spreche. Sie ging bis an das Ende der über dem Wasser stehenden Promenade und kehrte langsam zurück. Ihre Schritte klappten hohl, der Wind zerrte an ihren Kleidern und schob förmlich ihre ganze, überschlanke Gestalt landwärts. Mit dem Schirm deckte sie sich den Nacken.

Jetzt musterte sie mit scharfem Auge nochmals die Gruppe vor der grünen Laubwand des Gartens.

Und ihre Wangen wurden fahl und ihre Nasenflügel bebten.

Sie glaubte den Mann zu erkennen, der da oben stand, den Knaben, sein Ebenbild, an der Hand, die fremde Frau am Arm. Dieses stolze Gesicht, dieser blonde lange Bart auf der Oberlippe, diese Gestalt …

Aber sie begab sich mit denselben gleichmüthigen Schritten an den Strand zurück und in derselben hoheitsvollen Haltung. Nur geschah es ihr, daß sie, anstatt weiter aufwärts zu gehen, wie sie gewollt hatte, gedankenlos sich umdrehte und den gleichen Weg wieder herunterkam.

Die Familie dort drüben sah ihr noch immer nach. Der Knabe lief jetzt wieder an den Strand, der Mann aber sagte:

„Welch eigenartige Erscheinung! Fast Modejournal und doch so sehr besonderer, siegesgewisser Schick, daß ich mich in Ostende oder in Biarritz nicht über diese Frauengestalt wundern würde. Wie kommt das in diesen still-vornehmen Ort? Und was für ein famoses Gefühl der Junge hat! Schreit einfach: ‚nicht anfassen‘ und läuft davon.“

Er lachte. In seinem Gedächtniß war nichts wach geworden, kein unbestimmtes, banges Erinnern, kein zitterndes Ahnen.

Seine Gattin blickte der interessanten Fremden nun doppelt neugierig nach. Aus den sicher umhegten Grenzen eigenen, friedlichen Lebens fliegen die Gedanken einer Frau gern halb scheu, halb wißbegierig zu dem räthselvoll Pikanten.

„Wie merkwürdig,“ meinte sie, „alles, was diese Dame anhat, ist an sich nicht auffallend. Und doch ist das Ganze zusammen herausfordernd.“

„Beruhige Dich nur darüber, das liegt außer Deiner Welt. Sage mir lieber, ob Du vor Tisch nicht noch liegen willst.“

„Nein, Schatz. Ich gehe noch ein wenig mit Dir auf und ab.“

Sie hing sich an seinen Arm und so wanderten sie miteinander im weißen Sand.

„Sieh, da giebt es noch mehr unverständige Menschen, die in der Mittagssonne ihren Teint verderben. Auch ein Ehepaar, wie es scheint, doch vielleicht erst von gestern. Sie sprechen so innig ineinander hinein,“ rief die Frau, auf einen Herrn und eine Dame deutend, welche ihnen entgegenkamen.

Ihr Gatte stutzte und blieb stehen.

„Ich meine, diesen Mann sollte ich kennen – unmöglich – und doch …“

„Was ist Dir, Robert?“ fragte sie ängstlich. „Eine unangenehme Begegnung?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_483.jpg&oldid=- (Version vom 6.9.2023)