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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

bedarf, noch jetzt. Ohne mich wäre sie rathlos in dieser Welt. Ich lebe ihr, ich lebe damit zugleich dem theuren Verstorbenen, indem ich ihr Dasein soweit ausfülle, als ihre Forderungen an das Glück nur immer gehen, und so bleibt mir das schreckliche Gefühl fern, daß ich um den Preis von meines Bruders Leben reich und glücklich geworden wäre.“

Lüdinghausen schwieg erschüttert. Er fühlte aus jedem Wort, welches den Mangel an innerster Befriedigung verbergen sollte, doch diesen Mangel heraus. Wenn Clairon auch nicht gerade leiden mochte, so war ihm doch offenbar eine höhere, geistige Vereinigung mit seinem Weibe versagt. Die Gräfin mochte ein gutes, reines Kindergemüth haben, aber größere Charaktereigenschaften schien sie nicht zu besitzen.

Es war, als ob Clairon in seinen Gedanken lese, denn plötzlich sprach er hochaufathmend:

„Ich habe meinen Sohn!“

Rahel kam ihnen nach. Ihr war eingefallen, daß Lea geäußert hatte, sie werde vielleicht die Geschwister am Strand treffen. Wenn sie jetzt erscheinen würde! Wenn sie Clairon so unvorbereitet begegnete!

„Clairon,“ versetzte sie hastig und halblaut, damit die Gräfin, welche sich noch mit dem Knaben unterhielt, sie nicht höre, „Sie wissen nun, daß Lea hier ist. Werden Sie ihr entgegentreten wollen? Was sollen wir thun? Ihre Frau scheint ahnungslos.“

„Meine Frau,“ erwiderte Clairon, „ist ein liebes, herziges Kind, das man nicht unnöthig mit vergangenen Geschichten beunruhigen darf. Wenn es sein muß, werde ich ein Wiedersehen auf mich nehmen. Feige der Fürstin auszuweichen, kann nicht meine Pflicht sein.“

Er war bleich geworden.

„Und Lea? Wie wird sie diese Begegnung auffassen? Sie ist unberechenbar. Seit sechs Jahren haben wir uns nicht gesehen, uns nur leere Briefe geschrieben. Jetzt bei unserem ersten Zusammentreffen wehrt sie meine Liebe nicht weniger kühl ab wie damals vor ihrer Vermählung; mit meinem Manne verkehrt sie in einer so großartigen Gleichgültigkeit, als wäre sie vorher ihm niemals nahe gewesen. Und dennoch, dennoch möchte ich Sie ersuchen: schonen Sie Lea!“ bat Rahel, die mit zitternder Stimme und kurzem Athem sprach.

„Es wäre zudringlich und unbescheiden,“ antwortete Clairon

Begehrte Ware.
Zeichnung von W. Zehme.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 493. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_493.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2023)