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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

sich von selbst. Längs des Wienflusses, der damals noch ein viel gewundeneres Bett hatte als heute, lagen zahlreiche Mühlen, die gegenwärtig noch theilweise erhalten, aber außer Gebrauch gesetzt sind. Die Bärenmühle, die Schleifmühle, die Heumühle stehen heute noch da. Das älteste dieser Gebäude, die Staubmühle bei der Stubenthorbrücke, ist erst vor wenigen Jahren ein Raub der Flammen geworden.

Als zu Ende des 17. Jahrhunderts die Einfälle der Kurutzen, eines wilden Reitervolkes aus den ungarischen Ebenen, immer kühner und verwegener wurden, ließ Prinz Eugen im Jahre 1704 von den Bürgern der Stadt rings um die Vorstädte einen Erdwall errichten, der in wenigen Wochen zustande kam und erst 34 Jahre später durch eine kunstgerechtere Anlage aus Ziegeln mit einem breiten Graben ersetzt wurde. Durch diesen Wall, der „Linienwall“ genannt, bekam die Stadt eine natürliche Abgrenzung; denn alle jene Liegenschaften, Gehöfte und kleineren Gemeinden innerhalb desselben wurden nunmehr der Stadt einverleibt und genossen deren politische und Gemeinderechte. Jener Wall, welcher bald seinen Zweck als Befestigungswerk verlor, diente später als Grenze des Verzehrsteuergebietes; die Verbindungen mit dem Flachlande wurden durch Einlaßthore, sogenannte „Linien“, vermittelt. An diesen Thoren werden noch heute die städtischen Verbrauchssteuern auf Lebensmittel und die Pflastermauthen für Fuhrwerke erhoben, und erst die folgenreichen Beschlüsse der jüngsten Zeit, welche uns den Anstoß zu diesen „Wanderungen“ gaben, haben darin Wandel geschaffen. Mit dem Schluß dieses Jahres wird die alte Steuergrenze durch eine neue ersetzt, weit, weit draußen vor den letzten Häusern der heutigen Vorstädte, und keine hemmende Schranke trennt dann mehr die Glieder von Groß-Wien.

Herr Hainfelder, welcher seinem Gast als kundiger Führer durch die innere Stadt, sowie durch das Stadterweiterungsgebiet gedient hatte, zeigte sich auch erbötig, ihn durch die Vorstädte zu geleiten.

Im Kaffeehause zur „Casa piccola“ am Eingang der Mariahilfer Straße trafen sie zusammen. Es ist eines jener alten Stammlokale, welche in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gebaut wurden und die durch ihre vornehme Einfachheit und wohlige Behaglichkeit noch heute mit den modernen Prachträumen erfolgreich wetteifern.

„Sehn S’, lieber Herr von Werner,“ sagte Hainfelder zu seinem Schützlinge, „an dem Tisch is mein seliger Vater 40 Jahr’ lang jeden Tag g’sessen; net länger als a halbe Stund’; denn er war pünktlich wie eine Uhr. Da war halt seinerzeit ein schönes Platzl. Vor sich hat man die ganze Stadt mit’m Burgglacis g’sehn, links das Wagen- und Menschengewühl der Mariahilfer Straß’n, rechts die ‚’Treidmarkkasern‘ mit dem ‚’Treidmarktbergel‘, an derselben Stell’, wo jetzt die Rahl-Stieg’n steht. Im Winter, wenn viel Schnee g’fall’n is, sind wir Bub’n mit unseren Schlitten wie der Blitz über das ‚’Treidmarktbergel‘ hinabg’saust. Das war’n damals ganz andere Winter wie heutzutag; da is der Schnee monatelang liegen blieb’n. Ich weiß net, hat sich ’s Klima verändert oder räumt die Transportgesellschaft den ganzen Schnee weg; mir is halt so, als ob damals die Jahreszeiten pünktlicher ihr Programm eing’halten hätten. Jetzt is auf die Jahreszeiten gar kein Verlaß mehr. Grad’ so, wie sich die Wienerstadt geändert hat, is auch das Klima ein anderes word’n.

Zu meiner Zeit war in den Vorstädten oder ‚Gründen‘, wie man sie g’heißen hat, ein viel patriarchalischer’s Leben. Der Vorstädtler ist viel seltener in die innere Stadt gekommen, denn die Wanderung übers Glacis erschien ihm wie eine Landpartie. Tramway und Omnibusse hat’s damals auch nicht gegeben. Die Zeiselwagen vor den Linien hat man meist nur für Fahrten übers Land benutzt. So ist der seßhafte Bürger auf seinem ‚Grund‘ geblieben und hat sich in die Eigenart seines ‚Grundes‘ so eingelebt, daß ihm schon eine andere Vorstadt fremdartig erschienen ist. An Sonntagen ist er wohl nach Lerchenfeld, wo die zahlreichen Weinburgen g’standen sind, hinausg’wandert, oder weiter auf die ‚Länder‘ zum Heurigen. Manchmal im Jahr’ war auch ganz Wien auf den Beinen. So am 8. September, wo der Mariabrunner Kirchtag viele Tausende hinausg’lockt hat auf den Hadersdorfer Berg, oder zum Brigittakirchtag, wo es in der Brigittenau hoch her’gangen is. Damit war sein Bedürfniß, zu seh’n, wie’s draußen in der Welt zugeht, vollkommen befriedigt. An solchen Festtagen sind die alten Wiener zusammen gekommen wie die Eidgenossen aus den entlegenen Alpenthälern und haben beim Wein und beim Klang der Lannerschen Walzer erkannt, daß sie eines Stammes sind.

Die 34 Vorstädte haben alle ihre Eigenart gehabt, wie die Kantone der Schweiz, ja selbst die Sprache war verschieden. Wie oft habe ich eine Mutter, wenn ihr Bub’ einen ‚allzuharben‘ Dialekt angeschlagen hat, mit lokalpatriotischem Stolz sagen hören: ‚Schamst Di net, Bua, Du hast ja a Aussprach’ wie a Liachtenthaler;‘ denn der Dialekt von ‚Lichtental‘ oder vom ‚Thuri‘ hat ein ganz anderes Bukett g’habt wie der Dialekt von Erdberg oder Lerchenfeld. Der Bewohner der Vorstadt Wieden bildete sich ein, daß seine Aussprache klassisch sei im Vergleich zu der Redeweise derer vom ‚Ratzenstadtl‘.

Der Wiener der vormärzlichen Zeit (vor dem Jahre 1848) war an seine Vorstadt geheftet wie die Auster an den Meeresgrund, und es war der größte Stolz, wenn einer hat sagen können: ‚I bin a Kind von Grund; mei Vater und Großvater und Urgroßvater san alle in derselben Pfarr’ ’tauft worden.‘ Und hat ja einen einmal das Schicksal getroffen, daß er in eine andere Vorstadt hat übersiedeln müssen, so war ihm das grad’ so hart, als wenn er hätt’ nach Amerika auswandern müssen.

Aber zu leben, lustig und fidel zu leben hat der Wiener damals verstanden. Im Apollosaal, im Odeon, beim Dommayer in Hietzing, im Elysium und beim Sperl haben unsere Alten ihr Leben bei Tanz und Spiel genossen; Strauß Vater und Josef Lanner haben ihre seelenvollsten Weisen gefiedelt und der alte Silberzwanziger war damals noch die Wünschelruthe für ein ‚Tischlein deck’ dich‘ mit Backhendln und Salat. In den kleinen Wirthshausgärten der Vorstädte hat es bis in die späte Nacht geklungen vom ‚picksüßen Hölzl‘ (Flöte) und ‚Schunkenban‘ (Geige). Dazu haben die Volkssänger ihre lustigen Schnurren, Bänkel und Gassenhauer aufgeführt. An Sonntagabenden sind die Vorstädter in Scharen durch die Linien hereingezogen, singend und jauchzend, voran der Harmonikaspieler, der unermüdlich die feschen Tanz’ aufgespielt hat. Die Zuhausegebliebenen sind auch nicht ganz leer ausgegangen. Die Werkelmänner (Drehorgelmänner) und Harfenisten, die Liedersänger und Evangelienaufsager sind von Haus zu Haus gezogen und haben jung und alt mit ihren zweifelhaften Genüssen erfreut.

Ja, lieber Herr, unsere Alten haben es verstanden, ihr Leben zu genießen. Aber zu ihrer Ehre muß es gesagt sein, sie haben auch rechtschaffen gearbeitet. Manche blühende Industrie, die heute nur noch kümmerlich fortbesteht, hat damals Wohlstand und Behaglichkeit verbreitet. Die Band- und Seidenzeugfabrikanten von Schottenfeld haben’s zu großem Reichthum gebracht. Freilich haben sie auch eine Menschengattung in die Welt gesetzt, die Fabrikantensöhne vom ‚Brillantengrund‘, die’s verstanden haben, den erworbenen Reichthum mit vollen Händen zu vergeuden, und wie der Wettkampf mit dem Ausland schwieriger ’worden is, sind die Geschlechter rasch verarmt. Jetzt sind sie im Aussterben begriffen, die Fabrikanten vom Brillantengrund. Die Vorstadt Mariahilf war von jeher das gewerblichste Viertel der Stadt und die Mariahilfer Hauptstraße bildet noch heute die belebteste und gewerbfleißigste Verkehrsader unter den Wiener Vorstädten. Die Vorstadt Spittelberg war bekannt durch ihre Möbelfabrikation, die auch heute noch blüht. Auf der Wieden, Laimgrube und in Margarethen war die Meerschaumpfeifenindustrie zu Hause, die damals Tausenden reichlichen Verdienst bot. In der Rossau ist der Holzhandel im großen betrieben worden. Seinerzeit hat auch das Schanzel, eine Uferstrecke nächst der Stefaniebrücke, für den Handel mit Oberösterreich, Bayern und Württemberg große Bedeutung gehabt. Auf den mächtigen Getreide- und Obstschiffen sind sie herabgeschwommen, die biedern Bayern und Schwaben, und haben sich hier niedergelassen. Mit diesem stammverwandten Blut ist unser Wienerthum stark vermischt und der Charakter des Wieners hat etwas von dem rührigen und hitzköpfigen Schwaben, wie von dem schwerblütigeren gemächlichen Bajuvaren behalten.

Das patriarchalische Leben der Vorstädte hat aber eine gründliche Umwandlung durch die Stadterweiterung erfahren. Dadurch, daß der nicht überbaute Gürtel zwischen Stadt und Vorstadt gefallen ist, sind auch die schroffen Uebergänge geschwunden. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 507. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_507.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)