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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Idas Augen folgten dem Gemahl, der ruhelos auf und ab schritt; beider Gedanken waren nicht beim Vortrag. Die Leserin selbst wußte kaum, was sie ihren Hörern bot, sie machte lange Pausen, während welcher sie lauschte.

Der Wind ward Sturm; in die Glocken der Stadtkirche greifend, meldete er sich selbst an und stürzte sich heulend gegen die Burg. Die Läden im Wohnzimmer klapperten, ein offenes Fenster im Nebenraum ging in Scherben. Vitus eilte, es zu schließen und die Läden vorzulegen; er dachte an das Hochwasser und horchte hinaus, durch das Pfeifen und Heulen des Orkans klang es wie Wogenrauschen.

„Wird das Gewitter zum Ausbruch kommen?“ fragte Verena den Zurückkehrenden.

„Mehr als eins,“ erwiderte Ida statt des Angeredeten mit einem Anflug wilder Laune, „aber keines will den Anfang machen. Ich kann das lange Fackeln nicht leiden. Bald zehn Uhr! Helmuth kommt nicht mehr. Willst Du nicht schlafen gehen?“

Ein Donnerschlag ersparte Verena die Antwort. Das Unwetter „fackelte“ nicht mehr.

Nach einer Schreckensnacht voller Gewitter, die wie das wilde Heer die Burg umtobten, schlief das Ehepaar erst gegen Morgen ein. Als sie ins Wohnzimmer traten, lag ein wunderbar blauer Himmel vor den Fenstern. Aber für sie war der Tag kein Freund.

Die Magd brachte den Kaffee, ihr auf dem Fuße folgte der alte Amtsdiener, er sah blaß und verstört aus. „Frau – Herr – Herr Amtsrichter!“ stammelte er, „es ist – man hat – die Thüren drüben stehen sperrangelweit auf, die Schränke sind aufgebrochen. Kommen Sie, sehen Sie – –“

„Bleib!“ sagte der Richter zu Ida.

Nach wenigen Minuten kehrte Strobel allein zurück. Der Herr lasse der gnädigen Frau mittheilen, daß nachts im Amtsgericht eingebrochen und die Kasse mit den Mündelgeldern gestohlen worden sei. Eben sei Herr Tannhauser eingetroffen, schloß er seinen Bericht, und er müsse gleich wieder hinüber.

Sobald Ida allein war, sank sie in die Kniee, streckte die Arme gen Himmel und rief aus befreiter Seele: „Gerettet!“


7.

Inzwischen war Tannhauser in die Amtsstube des Gerichts eingetreten, nachdem er jede Thür untersucht und betastet hatte. „Wie ich erwartete,“ hatte er wohlgefällig gebrummt, „mit Gewalt, dennoch mit Geschick – Schlosserarbeit!“

Vitus Müller saß unweit des aufgesprengten Eichenschrankes, von der jähen – durfte er sagen: glücklichen? – Wendung betäubt. „Guten Morgen, Herr Stadtrichter!“ redete ihn der Nachfolger an, indem er ihm mit ungewöhnlichem Freimuth die Hand bot. „Vor allem meinen Glückwunsch!“

„Wozu?“ fragte Vitus mit schwacher Stimme. „Zu diesem Abgang?“

„Auch dazu. Für Sie ist das Ereigniß eine Art Rechtfertigung. Ich bezeuge, daß Sie wiederholt an maßgebender Stelle auf die Nachtheile und Schäden der alten Burg als Amtsgebäude aufmerksam gemacht, daß Sie vergebens auf Vorsichtsmaßregeln und Aenderungen gedrungen haben. Sie brauchen sich nichts vorzuwerfen. So mußte es kommen.“ Er warf den Kopf zurück, steckte die Hände in die Taschen und durchmaß das Zimmer, jetzt sein Gebiet. „Um dem Heren Kollegen vorläufig in Kürze die Ergebnisse meines Eingreifens mitzutheilen –“

Dieser Hinweis auf eine schon vorgenommene Untersuchung traf Vitus wie ein Schlag. Was mochte zu Tage gefördert worden sein? „Wenn auch Ihr neues Amt Sie zu solchem Vorgehen ermächtigt,“ fiel er Tannhauser ins Wort, „so würde es doch freundschaftlich gewesen sein, mich beizuziehen.“

Tannhauser nahm den Vorwurf gelassen hin und fuhr in halb geschäftsmäßig kühlem, halb wichtigthuendem Tone fort: „Als voraussichtlicher Gehilfe bei dem Einbruch ist der Schreiber Franz zur Haft gebracht. Die Kasse –“ Er hielt inne, denn der Amtsschreiber war inzwischen eingetreten. „Kommen Sie näher, Herr Huber! Stellen Sie die Kasse auf den Tisch! – Die Kasse ist, wie der Augenschein zeigt, gefunden – allerdings erbrochen und geleert.“

Vitus war beim Anblick der Kasse emporgeschnellt, jetzt sank er aufathmend in den Stuhl zurück.

„Das ist freilich unangenehm,“ setzte Tannhauser hinzu und sah nachdenklich vor sich hin, „aber für mich ohne Belang. Ich weiß, wer der eigentliche Thäter ist, und das weitere wird sich finden. Auch Sie, Herr Kollege, werden über die Hauptperson bei dem Anschlag nicht im Zweifel sein!“

„Der ‚Pfannen Gide‘?“

„Errathen! Noch ist er flüchtig, doch da bekannt ist, wo er steckt, läuft er nicht lange. Von Stund an, Herr Stadtrichter, bitte ich Sie um Ihren werthen Beistand. Herr Huber, verlesen Sie den Bericht, den ich Ihnen heute früh diktiert habe!“

Der Schreiber nahm die Bogen näher an sich heran, räusperte sich und begann mit eintöniger Stimme zu lesen. Der Verfasser stand mit der Haltung und Würde eines Porträts am Tische; Vitus saß beiden gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte starr auf das Schriftstück.

Ich, Thomas Tannhauser, wollte mich mit dem neuesten Regierungsblatt spät abends noch zu meinem Amtsvorgänger begehen. Drohende Gewitter standen am Himmel; als sie losbrachen, war ich noch unterwegs. Ich beschloß umzukehren, verlor aber in der plötzlichen Dunkelheit den Fußsteig, den ich eingeschlagen hatte um rascher daheim zu sein, und mußte nun wohl oder übel wieder aufwärts, denn so kam ich wenigstens zur Burg und konnte von dort aus mich wieder zurechtfinden. Der Wind blies stark und mir entgegen, auf der Plattform droben packte er mich so, daß ich taumelte. Ich suchte nach einem Halt und ergriff einen menschlichen Arm. ‚Holla!‘ rief ich. Gleichzeitig empfing ich einen Stoß gegen die Brust und erkannte beim Schein eines Blitzstrahls den Mann als den kürzlich aus der Haft entlassenen Schreiber Franz. Der Bursche warf sich auf mich, wir rangen und fielen beide. Er war zuerst auf und entsprang, ich verfolgte ihn schreiend den Burgweg hinab bis zum Kurhause. Dort hielt ein Fuhrwerk, dessen Kutscher auf meinen Ruf herbeieilte und mir den Flüchtling dingfest machen half. Wir verbrachten ihn ins Kurhaus, von wo ich Nachricht in die Stadt sandte. Nach kurzer Zeit erschien der Wachtmeister mit einem Gendarmen, und wir begaben uns mit unserem Fang auf die Polizeiwache. Dort wollte ich den Schreiber verhören, allein dieser heuchelte völlige Erschöpfung, warf sich auf die Erde und rührte sich trotz alles Redens und Rüttelns nicht mehr. Was sollte ich machen? Die Sache war äußerst verdächtig; denn was hatte der Mann so spät auf der Burg zu schaffen? warum griff er mich an? Da erinnerte ich mich der Kameradschaft des Verhafteten mit dem berüchtigten ‚Pfannen-Gide‘; vermuthlich hatten beide einen gefährlichen Anschlag miteinander ausgeheckt. Ich schickte nach dem gewöhnlichen Unterschlupf des ‚Pfannen-Gide‘, der Strolch war nicht anwesend. Nun zog es mich nach der Burg, dort war vielleicht eine Spur zu entdecken. Allein da ich eben aufbrechen wollte, traf die Nachricht ein, daß der Sturm einen großen Baum der Allee entwurzelt und zwischen Kurgarten und Schloßkeller über den Weg gelegt habe; gleichzeitig kam ein triefender Mann – angeblich mit Lebensgefahr – von der Furt: das Fährhaus drohe mit Mann und Maus fortgeschwemmt zu werden. Die Feuerwehr wurde zusammengeblasen; die Gendarmerie, alle Hände waren am Fluß nöthig. So mußte ich auf meinen Plan verzichten. Nachgerade fühlte ich mich auch todmüde, ich streckte mich auf einer Holzbank aus und schlief ein. Gegen sieben Uhr erwachte ich, alle rüstige Mannschaft war noch am Fluß. Alte Leute mußten aufgeboten werden, um den Burgweg frei zu machen. Man meldete mir, daß er binnen einer halben Stunde gangbar sei. Ich benutzte die Frist, um Vorstehendes dem Gerichtsschreiber zu diktieren.“

Der Vorleser machte eine Pause. Ohne die Augen von dem Schriftstück zu verwenden, sagte Vitus tonlos und doch mit einer Stimme, die vor verhaltener Spannung zitterte: „Und weiter hat sich nichts ergeben?“

„Doch, Herr Kollege! Wie Ihnen die Kasse dort verrathen dürfte, sind wir auf guter Spur.“ Tannhauser sah bei dieser Antwort den zusammenzuckenden Vitus im Bewußtsein seiner richterlichen Findigkeit überlegen an, und auf seinen Wink las der Schreiber weiter:

„Während ich die Niederschrift meines Berichtes durchflog, wurde mir ein hiesiger Badegast. Herr Lieutenant von Imhof, gemeldet. Er erschien in Begleitung seines Dieners und hinterlegte eine eiserne Kasse. Sie wurde von mir sofort als diejenige erkannt,

welche im Amtsgerichte hier zur Verwahrung der Mündelgelder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_520.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2023)