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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

15. November 1677 machte er in der Sitzung der Königlichen Gesellschaft den erstaunten Zuhörern die Mittheilung, daß auch er im Pfefferaufguß eine Anzahl ungewöhnlich kleiner Thiere gesehen habe, ja er lud die Zuhörer ein, sich von der Wahrheit durch Augenschein zu überzeugen. Jetzt unterlag das Vorhandensein einer unsichtbaren Welt von Organismen keinem Zweifel mehr; ein Protokoll wurde unterzeichnet, und berühmte Männer wie Nehemia Grew, der Begründer der Pflanzenanatomie, und Christoph Wren, der Erbauer der Paulskirche, setzten ihre Namen darunter.

Die Nachfolger Leeuwenhoeks, der 1723 starb, verfielen in einen großen Fehler — sie verlangten zu viel. Wie die unerfahrenen Anfänger in unseren Tagen wollten sie nur mit möglichst gesteigerten Vergrößerungen arbeiten. Sie beobachteten bei direktem Sonnenlicht unter Anwendung allzu starker Okulare; dadurch wurde natürlich die Klarheit der Bilder beeinträchtigt, um so mehr, als jene Mikroskope keineswegs achromatisch waren, sondern die Bilder in der Regel von Farbenringen umgeben zeigten.

Infolgedessen häuften sich ungenaue Beobachtungen; mit solchen Mikroskopen und bei solcher Benutzung derselben konnte man alles sehen, was man eben wünschte. Die Mikroskopie gerieth dadurch bei strengen Forschern in Mißachtung, bis eine neue Zeit des Aufschwungs kam.

In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, um das Jahr 1830, wurde sie nämlich durch die Untersuchungen Ehrenbergs wieder zu Ehren gebracht, und deutsche Forscher waren es auch, welche die Arbeiten eines Leeuwenhoek, Hooke und Grew fortsetzten. Die Botanik eilte wieder den anderen Wissenschaften voraus. Durch die Arbeiten Browns, von Mohls, Ungers, namentlich aber Schleidens wurde festgestellt, daß alle Gewebe der Pflanzen weiter nichts seien als Anhäufungen von mehr oder weniger veränderten Zellen. Man hatte die Grundeinheit, den Baustein des pflanzlichen Lebens gefunden — die Zelle; alle höher organisierten Pflanzen, die Gräser, Kräuter und Bäume, erschienen als Zellenstaaten, als Gesellschaften von Zellen.

Man hatte auch Zellen im thierischen Körper gefunden, in der Haut, in Drüsen, in den Nervencentren; aber man hielt deren Vorkommen mehr für eine Ausnahme, die meisten Gewebe des thierischen Körpers zeigten keinen Zellenbau.

Einer der gewandtesten Mikroskopiker jener Zeit, die unter dem Altmeister Johannes Müller in Berlin in die Geheimnisse des Baues und der Thätigkeiten unseres Körpers eindrangen, war der Arzt Theodor Schwann. Eines Tages speiste er mit Schleiden zu Mittag, und der berühmte Botaniker erzählte dem Mediziner von seinen soeben abgeschlossenen Untersuchungen, von der wichtigen Rolle, welche der Zellenkern in der Entwicklung der pflanzlichen Zellen spiele. Da erinnerte sich Schwann, daß er einen ähnlichen Kern in den Zellen eines thierischen Gewebes[1] gesehen habe, und wie ein Blitz schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, welche Bedeutung seine Entdeckung erlangen würde, wenn er nachweisen könnte, daß die Rolle der Zelle im thierishen Körper ähnlich wie jene in der Pflanze beschaffen sei. Dieser Gedanke war eines der Blitzlichter, mit welchen der Genius der Menschheit neue Wege offenbart. Sofort begaben sich die beiden Forscher in das anatomische Laboratorium, um die fragliche Zelle anzusehen, und Schleiden erklärte, daß ihr Kern durchaus dem der Pflanzenzellen gleiche.

Schwann ging nunmehr unverdrossen an die mühselige Arbeit, seinen Fund durch thatsächliche Beweise zu stützen. Damals lag die mikroskopische Technik völlig danieder, aber der Schüler des unermüdlich nach Klarheit ringenden Meisters Johannes Müller überwand alle Schwierigkeiten und wies mit voller Bestimmtheit nach, daß auch im thierischen Organismus die Zelle die lebendige Grundeinheit bilde, daß alle Gewebe des thierischen Körpers, also auch des menschlichen, aus Zellen entstanden und nur veränderte Zellen seien. Schwann veröffentlichte seine „Mikroskopischen Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen“ im Jahre 1839. Und heute nach einem halben Jahrhundert ist seine Lehre ausgebaut und fest begründet, heute ist sie nicht nur dem engen Kreise der Gelehrten bekannt, sondern durch volksthümliche Schriften und durch die Schule in die weitesten Kreise verbreitet.

Das Mikroskop hat noch eine andere wissenschaftliche Frage aufgerollt, die Frage von der „Urzeugung“: woher kommen die Zellen, woher die in dem Tropfen Regenwasser wimmelnden winzigen Wesen? Entstehen sie aus unorganischen Stoffen von selbst, oder muß jeder Zelle eine andere vorausgegangen sein? Der Streit um die Urzeugung führte zu den glänzenden Untersuchungen über die in der Luft enthaltenen Keime, und wenn die Akten über jene Frage noch nicht als gänzlich abgeschlossen betrachtet werden können, so ist wenigstens mit Bestimmtheit erwiesen, daß in allen uns bis jetzt bekannten Fällen jede Zelle die Tochter einer älteren sei, daß es im menschlichen Körper und in dem Wassertropfen keine Urzeugung gebe. Wichtiger als dieser theoretische ist aber der praktische Gewinn aus den mikroskopischen Studien. Sie führten uns zu der näheren Erkenntniß der Bakterien, sie enthüllten uns in einigen derselben die Träger von allerlei Krankheiten und gaben uns Mittel an die Hand, uns zu schützen. Und wenn diese Mittel auch vielfach noch der Vervollkommnung bedürfen, so ist das bisher Erreichte darum doch nicht gering zu schätzen, wir dürfen es vielmehr als eine Bürgschaft für künftige segensreiche Fortschritte betrachten. Welchen Gewinn die Menschheit schon heute von jener Bakterienforschung zieht, das lehrt uns, um nur das Beispiel anzuführen, die antiseptische Wundbehandlung. Blutvergiftung, Hospitalbrand, langwierige Eiterungen und andere schwere Komplikationen, welche früher mit Verwundungen so oft verbunden waren und den Schrecken der Lazarethe bildeten, sie sind heute zu den größten Seltenheiten geworden, seitdem die Aerzte in den Bakterien deren Ursache erkannt und die Krankheitserreger unschädlich zu machen gelernt haben. Es wäre müßig, den Einfluß des Miksroskops auf andere Zweige der Wissenschaft und der Industrie zu erörtern. Jedermann weiß ja, wie unentbehrlich dieses Instrument im Laufe der Zeit geworden ist. Es entlarvt die Fälscher und spielt vor dem Richterstuhl eine bedeutende Rolle; wie oft wurde mit Hilfe des Mikroskops ein scheinbar unbedeutender Fleck, ein einziges Härchen zum Schuldbeweis gegen den Verbrecher!

Diese großartigen Erfolge verdanken wir aber auch der rastlosen Thätigkeit der Optiker und Mechaniker, die das früher so unhandliche und unzuverlässige Instrument auf eine Stufe hoher Vollkommenheit gebracht haben. Wie wir schon erwähnt haben, hielt man früher diejenigen Mikroskope für die besten, welche am stärksten vergrößerten. Heute wissen wir längst, daß die Güte eines Mikroskops keineswegs allein in dessen vergrößernder Kraft liegt; es kommt vor allem auf die Klarheit des Bildes an. Die neueren Instrumente mit verbesserten Linsen, die nur zweihundert- bis dreihundertmal vergrößern, zeigen daher viel mehr Einzelheiten als die älteren mit einer 600 bis 700fachen Vergrößerungskraft. „Ein gutes Instrument,“ sagt Vogel, „muß scharf umrissene Bilder zeigen; der Gegenstand, den man beobachtet, muß wie in Kupfer gestochen aussehen und einen eleganten Anblick darbieten.“

Ursprünglich pflegte man die Güte des Mikroskops an der Betrachtung des Flohs zu prüfen. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wurden als Prüfungsgegenstände verschiedene Haare oder Schmetterlingsschuppen genommen. Heute greift man zu noch feineren Zeichnungen der Natur, wie sie z. B. in dem Kieselpanzer der Diatomeen zu entdecken sind. Sehr leistungsfähige Instrumente zeigen auf demselben ein System in die Länge gezogener sechseckiger Feldchen. Von der Kleinheit dieser Objekte können wir uns kaum eine Vorstellung machen; denn von diesen feinen Längslinien gehen 3200 auf den Raum eines Millimeters!

Trotz aller Fortschritte der Mikroskopie ist es uns aber noch lange nicht gelungen, bis in die letzten Einzelheiten der Kleinwelt einzudringen. Die feinsten Gebilde der Materie, die Atome und Moleküle, kann selbst das best bewaffnete Auge nicht erblicken. Nach den Berechnungen der Forscher umfassen die kleinsten Raumgebilde, die wir mit den besten Mikroskopen wahrnehmen können, immer noch etwa zwei Millionen Moleküle!

Wir sind an den Grenzen der heutigen Forschung angelangt. In der Kleinwelt bildet jede Zelle eine Welt für sich, ihr Inneres ist ein unermeßlicher dunkler Welttheil, der noch des Entdeckers harrt, welcher kühn in sein Herz eindringt und Licht hineinbringt in die ewigen Geheimnisse des Lebens! C. F. 




  1. Es handelte sich um die Zellen in der chorda dorsalis, dem Rückenstrang.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_527.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2023)