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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

trotzdem würde ich das Nöthige zur Heirath beigesteuert haben. Aber nachdem Du mir mit diesem verrückten Gedanken kommst – für Ueberschwang habe ich weder Verständniß noch Geld. Punktum!“

Bei diesem „Punktum!“ nahm ihm der Wind, der da oben kräftig blies, den Hut fort. „Such’, such’!“ rief Furtenbacher, allein Azor rührte sich nicht; der dicke Herr mußte dem Flüchtling selbst nachspringen. Vitus blieb stehen und schaute thalauf, thalab, ohne der Schönheit rings gewahr zu werden; den Schuldigen grüßt nicht der Glanz der Welt. – –

In der Hohenwarter Bahnhalle wurde Vitus vom Bürgermeister und vom Gerichtsschreiber erwartet und sofort in die Mitte genommen. „Er ist gefunden!“ sagte Zappel mit seiner dumpfen Stimme. Vitus warf einen scheuen Blick auf ihn.

„Der – der Dieb?“

„Ja, tot, ertrunken. So gegen vier trieb beim Fährhaus ein Leichnam vorbei. Die Arbeiter fischten ihn heraus. Grausig war er zugerichtet, doch männiglich erkannte den ‚Pfannen–Gide‘. Das Wasser muß ihn über Gestein und Gestrüpp geschleift haben, denn er hat tiefe Risse am Leibe.“

„Ja, und die Papiere treiben wer weiß wo im Fluß,“ fiel der Schreiber ein, „die kriegen wir nimmer!“

„Ich ließ den Todten einstweilen in der Wache aufbahren. Da Herr Tannhauser krank daniederliegt, haben wir mit der Protokollaufnahme bis zu Ihrer Ankunft gewartet.“

Im Zwielicht der Wachtstube lag der Verunglückte auf einem Schragen. Sein Gesicht war nicht viel blässer als das des Richters.

Nach einem häßlichen Leben ein häßliches Ende! Da lag er, von niemand betrauert, der Trunkenbold, Wegelagerer und Dieb und – Vitus wandte sich bebend ab – der Ehrenretter dessen, der sein Richter war.


8.

„Und nun,“ sagte Herr Zappel, während er sich Bahn brach durch den Haufen Kinder, die mit scheuer und doch neugieriger Miene vor der Wache standen, „nun, da wir das traurige Geschäft hinter uns haben, sollen Sie etwas Erfreuliches hören, Herr Stadtrichter. Der Erbprinz hat die Regierung übernommen und der Vater Ihres Herrn Schwiegersohnes ist Ministerpräsident geworden! Sehen Sie nur, alle Läden sind geschlossen, denn die ganze Bevölkerung ist im Schloßkeller oder auf dem Weg dahin. Ein Ausschuß ist in aller Eile zusammengetreten, um über den Empfang Seiner Excellenz zu berathen. Morgen wird alle Welt erfahren, daß der neue Minister die Hohenwarter Moorbäder gebraucht. Und Sie wußten wirklich von all diesen Ereignissen nichts?“

„Man kann vorbereitet sein und doch überrascht werden.“ Vitus ging müde neben seinem strammen Begleiter her und erwiderte gedankenlos die Grüße. Der Bürgermeister blieb stehen.

„So geht’s!“ rief er. „Immer kommt alles auf einmal. Während sonst Monate lang der Tag nichts bringt als höchstens eine neue Grenzsperre, die uns arme Fleischer zu Grunde richtet, reißt seit gestern der Faden nicht ab. Ueberschwemmung, Einbruch, gewaltsamer Tod, Richter, und Ministerwechsel! Gestern waren die Leute noch ganz hingenommen von der Nachricht, die Sie betraf, und heute versetzen andere Dinge, die nicht nur uns angehen, die Gemüther in Aufruhr. Aber Sie dürfen nicht glauben, Herr Stadtrichter, daß wir über den Angelegenheiten der großen Politik Sie selbst vergessen und das, was wir mit Ihnen verlieren: einen Ehrenmann, den rechtschaffensten Beamten des ganzen Landes! Glauben Sie mir, Ihre Versetzung ist für jeden Hohenwarter ein Familienfall.“

Vitus hing bei den letzten Worten mit dürstendem Blick am Munde des Redenden: ein Ehrenmann, ein rechtschaffener Beamter? Ja, niemand kann ihm das bestreiten. Der, welcher dort in der Wache liegt, dessen Mund allerdings – doch die Toten schweigen!

Nach dem Befunde des Arztes ist Gide schon mehrere Stunden tot. Wahrscheinlich stürzte er in der Hast von einem Steg, verletzte sich beim Fall und wurde bewußtlos vom Wasser fortgewirbelt. Hat er zwischen seiner Entdeckung durch Helmuth und seinem Sturz noch jemand gesprochen? Möglich, aber nicht wahrscheinlich.

Er war verfolgt und auf einem Gebiete, das auch für den erfahrenen Schmuggler ein gefährliches war. Der Boden war durchwühlt, alles in Bewegung, alles Schlund, Wirbel, Falle. Da war sicher außer dem Flüchtling keine Menschenseele in dieser todbringenden Gegend gewesen. Er ging unter, ohne das Geheimniß der Kasse verrathen zu können, morgen deckt es die Erde. Und Vitus scheidet als Ehrenmann, als rechtschaffener Beamter!

Denn auch Tannhauser ist nicht mehr zu fürchten. Wie der Fall jetzt liegt, bietet er selbst für den größten Tiftler und Schwarzseher keine Haken und Schlingen mehr, um einen Dritten zu fangen; die Sache ist klar und abgethan. Der Schreiber Franz wird für seine verbrecherische Absicht verdientermaßen bestraft, und Vitus Müller, als gekränkter feinfühliger Mann, ersetzt das Geld. Wenn er die Uebersiedlung in die Hauptstadt zum Vorwand nimmt, kann er sein Hab und Gut zu Gelde machen und den Ersatz leisten. Nach den gebuchten Nummern der Werthpapiere wird dann wohl niemand fragen; ist kein Mensch weiter geschädigt, so wird auch nirgends die Unterlassung des Ausschreibens auffallen. Und wenn so die Gefahr der Entdeckung beseitigt, die Schuld gesühnt ist, dann darf Vitus die Vergangenheit vergessen!

Was hat er denn überhaupt verbrochen? Zum ersten Male kommt ihm der kühne Glaube, daß nicht alle Handlungen unter das Urtheil eines Paragraphen gebracht werden dürfen. Er spricht sich, er fühlt sich frei! Und sein braver Begleiter hat nicht übertrieben: das Scheiden des Richters geht den Bürgern nahe. Nie haben ihn die Frauen und Mädchen so freundlich, die Männer so tief gegrüßt wie heute. Er ist jetzt sehr aufmerksam auf die Vorgänge und Erscheinungen um sich her, er prüft die Mienen und liest in allen: ein Ehrenmann, der rechtschaffenste Beamte!

Am Eingang des Kurgartens erwartete Ida ihren Gemahl und nahm ihn dem Bürgermeister ab. Als sie nach dem Bahnhof gewollt hatte, war sie von Helmuth über die traurige Pflicht aufgeklärt worden, die der Richter bei seiner Ankunft zunächst zu erfüllen habe.

Während das Brautpaar in der Kurhalle mit Bekannten sich erging, harrte Ida wohl eine Stunde lang vor dem Garten und sah auf das Gewoge der heiteren Menge, nicht kummervoll, aber mit ernsten Augen. Alles hatte der Himmel zu glücklichem Ende gefügt, dennoch fand sie den gewohnten leichten Sinn nicht mehr. Zu tief und nachhaltig war sie in ihrem innersten Wesen erschüttert. Sie rühmte sich niemals großer Belesenheit und war aus naheliegendem Grunde sparsam mit geflügelten Worten. In dieser Stunde qualvollen Wartens jedoch – eine verschwindende Spanne Zeit und ein unendliches Maß von Leid! – fiel ihr ein Vers ein. Sie wußte nicht, wo sie ihn gelesen oder gehört hatte, er kam ihr angeflogen und verließ sie nicht mehr, wie uns zuweilen eine Melodie verfolgt:

„Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein …“

Nein, der Himmel hatte sie nicht verlassen, der Himmel war ihr gnädig. Dort kam ihr Gemahl, Arm in Arm mit dem ersten Bürger der Stadt, und trug den Kopf hoch und grüßte heiter nach rechts und links.

Während das Ehepaar tiefer in den Garten ging, um sich unter die Gesellschaft zu mischen, fragte Ida leise: „Geschwind, geschwind, Vitus! Bist Du jetzt zufrieden? Hast Du nichts mehr zu fürchten?“

„Nichts mehr.“

„Gott sei gelobt! Gott, ich danke Dir!“ Ihre Lippen zitterten, ihre Augen schwammen in Thränen.

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_536.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2023)