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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Und Tells Knabe, zieht er nicht allgemein

„Mit dem Pfeil, dem Bogen
Durch Gebirg und Thal – –
Früh im Morgenstrahl,“

anstatt des wörtlichen, aber wieder ungewöhnlicheren „am“ Morgenstrahl?

„So kann ich hier nicht ferner hausen,
Mein Freund kannst du nicht länger sein,“

läßt der Schüler mit dem Brustton der Ueberzeugung den Amasis zu Polykrates sprechen und stößt sich nicht im geringsten daran, daß in seinem Schiller „nicht weiter sein“ die einzig angegebene Lesart ist. Der Verfasser – und gewiß mancher der Leser mit ihm – hat in seiner Jugend in schwerer Arbeit über dem Thema gebrütet: „Wo viel Licht ist, ist viel Schatten,“ ohne zu ahnen, daß die Worte, die Götz dem Weislingen gegenüber äußert, genauer lauten: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ –

„Die Nürnberger henken keinen,
Sie hätten ihn denn zuvor –“

ruft man wohl scherzhaft demjenigen zu, der irgend eine Drohung einem Manne gegenüber ausspricht, dessen er zunächst noch gar nicht habhaft geworden ist. Man meint, so habe der Edle von Gailingen, als er, zum Tode verurtheilt, kurz vor seiner Abführung zum Richtplatz durch einen tollkühnen Sprung „hoch zu Roß“ über den Nürnberger Stadtgraben sich rettete, den mit etwas verdutzten Gesichtern ihm nachblickenden Nürnbergern zugerufen. Der Ueberlieferung nach drückte er sich ein wenig anders aus, nach ihr lautete der zweite und wichtigste Theil seines Ausspruches: „Sie hätten ihn denn vor.“ Eine spätere Zeit hat natürlich dieses ihr mehr ungeläufig als unverständlich gewordene „vor“ in „zuvor“ umgewandelt. Aber noch Schiller in den „Räubern“ läßt seinen Razmann den Ausdruck wortgetreu anführen. – Bei Räubern wie die Schillerschen, die noch „Lieder haben“, sollte man sich übrigens nach Seume mit einer gewissen Seelenruhe ansiedeln können, denn

„Wo man singt, da laß dich ruhig nieder,
(Ohne Furcht, was man im Lande glaubt.
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt.)
Böse Menschen haben keine Lieder.“

Ganz recht, nur daß der erste Vers wörtlich heißen muß: „Wo man singet, laß dich ruhig nieder,“ und der letzte: „Bösewichter haben keine Lieder.“ Uebrigens ändert das an der Sache nichts, man kann sich bei singenden Räubern nichtsdestoweniger ruhig niederlassen. „Mein Liebchen, was willst du noch mehr?“ Nun, das Liebchen könnte zunächst mit großer Berechtigung die Entfernung des bei Heine in diesen Worten durchaus nicht vorhandenen, erst durch die bekannte Komposition des Liedes eingeschmuggelten „noch“ verlangen, ebenso wie es sich nicht gefallen zu lassen braucht, daß es gemeiniglich mit: „Du hast ja die schönsten Augen“ angesungen wird, anstatt einfacher und richtiger mit: „Du hast die schönsten Augen.“ Ja, diese Lieder! „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter“ singt das Volk unbeirrt fort und fort, obwohl Matthias Claudius, der Schöpfer des Liedes in seiner heutigen Gestalt, und mit ihm unsere Unzahl von Volksliederbüchern dafür lesen lassen: „wie treu sind deine Blätter,“ das heißt: wie beharrlich und selbst im Winter dauernd, wo andere Bäume von ihrem Blätterschmucke treulos verlassen werden.

Ironie des Schicksals! Je mehr Liederbücher auftauchen, um so zäher hängt das Volk an seinen Umänderungen. „Erkläret (oder gar löset) mir, Graf Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur!“ Müllners Originalausdruck: „Und erklärt mir, Oerindur,“ wird ängstlich gemieden. – „Je näher Rom, desto schlechter der Christ“ – freilich, Till Eulenspiegel, der Vater dieses Wortes, würde sich mit Hand und Fuß gegen die angegebene und, wie es scheint, unverdrängbare Fassung sträuben und immer wieder betonen, daß er eigentlich gesagt habe:

„Je näher Rom, je böser’ Christ.“

Ein Beispiel aus allerneuester Zeit, das uns zeigt, wie schnell sich derartige kleine Fälschungen vollziehen: „Behüt’ dich Gott! Es wär’ so schön gewesen!“ singt man nach dem bekannten Trompeterliede Scheffels, „Behüt’ dich Gott! Es hat nicht sollen sein!“ So schön wäre es gewesen? Gewiß, auch! Aber im Scheffelschen Texte steht nichtsdestoweniger: „Behüt’ dich Gott! Es wär’ zu schön gewesen!“ Ist das dasselbe?

Unsere kleine Sammlung ist zu Ende; derjenige, welcher auf sich selbst und auf die Ausdrucksweise anderer bei Wiedergabe derartiger Worte achtet, wird leicht noch manches anziehende Beispiel hinzufügen können. Es ist das gar keine undankbare Aufgabe. „Es liegt ein tiefer Sinn im kind’schen Spiel,“ auch wenn man mit Schillers „Thekla“ richtiger sagt: „Hoher Sinn liegt oft im kind’schen Spiel“. Und wer mit seinen Beobachtungen dahin sich wendet, wohin ihn Goethes „lustige Person“ mit den Worten weist:

„Greift nur hinein ins volle Menschenleben,
Und wo ihr’s packt, da ist es int’ressant,“

der hat gleich den Anfang der eigenen Sammlnng gefunden, denn nicht, wie es soeben in landläufiger Gestalt angeführt wurde, lautet das Citat, sondern wörtlich:

„Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
(Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,)
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.“

Dr. Söhns.     


Blätter und Blüthen.

Im Kampf mit der Straßenschleppe. Was man vom Standpunkt des gebildeten Geschmacks aus von der Straßenschleppe zu halten habe, das ist in Nr. 8 dieses Jahrgs. der „Gartenlaube“ deutlich ausgesprochen, und wir hoffen, daß das dort Gesagte einigermaßen Früchte getragen habe, weil wir der Ueberzeugung sind, daß das Unfeine dieser Mode jeder vernünftig denkenden Frau einleuchten müsse. Daß aber der Kampf mit dem geschwänzten Unhold damit noch nicht zu Ende sein werde, das war von vornherein klar. Nun hat in unseren Tagen glücklicherweise ein Wort eine größere Geltung als je in langer Frist von Jahrhunderten, es heißt „Hygieine“, und in dieser Großmacht der Gegenwart ist dem guten Geschmack ein bedeutender Bundesgenosse erwachsen. Der niederösterreichische Landessanitätsrath hat sich dahin geäußert, daß ein Verbot des Tragens von Damenschleppkleidern auf den Straßen entschieden empfehlenswerth sei, da durch das Nachschleppen langer Kleider der Staub in hohem Maße aufgewirbelt werde und so den Athmungswerkzeugen Stoffe zugeführt werden können, welche Infektionskrankheiten verursachen. Wirklich hat auch die Wiener Polizeidirektion Erhebungen darüber angestellt, ob ein solches Verbot wohl durchführbar sein würde, und wenn sie zu dem Ergebniß gelangen sollte, in der That von Amts wegen gegen die freiwilligen Straßenfegerinnen einzuschreiten, so können wir ihr nur einen vollen Erfolg – wünschen. Aber hübscher wäre es doch von der verehrlichen Damenwelt, wenn sie selbst sich den Geboten der Gesundheit und des Geschmacks unterordnen würde und nicht wartete, bis der Büttel kommt und sie dazu zwingt.

Sonntagmorgen bei der Kirche von Ullenswang am Hardangerfjord. (Zu dem Bilde S. 552 u. 553.) Der Maler führt uns in eine echt norwegische Scenerie, zu dem Hardangerfjorde mit seiner krystallgrünen Fluth und dem ewigen „Schneelaken“ des Folgefjeld, zu jenem lieblichen Ufersaume, der mit herrlichen Fruchtbäumen bedeckt, von freundlichen Menschen bewohnt ist, über dem sich der dem skandinavischen Norden eigenthümliche Himmel durchsichtig wie eine Glasglocke und blau wie der Himmel Griechenlands ausbreitet. Es ist Sonntag und die Bewohner kommen von nah und fern, oft meilenweit, in ihren hübschen, leichtgebauten Kähnen, die pfeilschnell über den Wasserspiegel gleiten und nach dem Ufer streben, auf dessen Höhe die kleine, aber uralte „Stave-Kirche“, das heißt die Holzkirche, steht und die Gäste erwartet. Die Norweger sind ein frommes Volk; das lehrt sie schon ihre Natur und der lange dunkle Winter, wo die Steinlawinen niedergehen und der Fjord so manchen in die Tiefe reißt; sonntags fahren sie alle zur Kirche, nicht bloß die Männer und die Frauen, die mit ihrer Flügelhaube (Skaut) an Holbeinsche Bilder erinnern, sondern auch die ganze lustige Jugend, der frische Bursche, der ein paar Centner zu tragen vermag, die Töchter und Mägde der Bauern und der höher gebildete Backfisch, den man in Schweden „Rebhühnchen“ nennt. Sogar der Säugling wird mitgenommen und ruht an der Brust der glücklichen Mutter; denn wer sollte ihn wohl in dem leeren verschlossenen Hause daheim warten? Sie sind in der That alle da. Aber die Fahrt ist weit und der Sonntagsstaat verlangt Schonung. So nehmen denn die Frauen alles in einem „Löb“ oder einer „Tine“ mit, was sie doppelt schön machen soll. Nach der Landung flechten sie dann noch einmal ihr wunderbar schönes, hellblondes Haar, so licht und glänzend wie Weizenähren, sie bekleiden ihre nackten Füße mit weißen Strümpfen und knüpfen zierlich das Schuhband fest. Die eine hat gar einen kleinen Spiegel mitgenommen, die kleine Schwester hält ihn der Erröthenden vor, und beide schauen glücklich darein.

In der Kirche selbst – ich habe sie von Christiania ab bis nach Vadsö, nahe der russischen Grenze, manchen Sonntag besucht – sind Männer und Frauen getrennt; andächtig sitzen sie da und lassen sich keineswegs stören, wenn die Säuglinge gelegentlich ein mächtiges Geschrei

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1891, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_563.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2023)