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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Da wird denn doch Helmuth auch mitreden!“

„Er ist Offizier.“

„Also tapfer.“

„O Vitus, wenn ich mir alles ausmale – die Verhandlung, die Strafe, die Zeitungen! Du wirst des Amtes entsetzt – wir erholen uns von diesem Schlag nicht mehr. Und warum das alles? Aus lauter Hochachtung vor der heiligen Justiz! Wenn jeder öffentlich beichten wollte, was er gegen den einen oder andern der ungezählten Paragraphen verbrochen hat, die halbe Welt wäre im Gefängniß!“

„Die Strafbarkeit wächst mit der Einsicht. Wenn ein Richter strauchelt –“

„Aus Liebe zu seiner Frau strauchelt. Ich bat, ich drängte Dich –“

„Laß Dich aus dem Spiel!“

„Um mich weißzuwaschen, willst Du Dich schwärzer machen. Aber ich rede mit! Wenn schon die Geschichte an die große Glocke kommt, sollen sie auch mich ausläuten. Mir ist es nur um Verena leid!“

„Noch einmal: Dich und Verena berührt die Sache nicht. Ihr begebt Euch zu Deinen Verwandten in Wien. Von dort reichst Du den Scheidungsantrag ein.“

Ida horchte auf. „Was sagst Du?“

„Du kannst diese Rechtswohlthat beanspruchen.“

„Das wäre eine Wohlthat! Vitus! Lernt ihr als Richter so schlecht von uns Frauen denken? Scheidung! In meinen Augen bist Du so schuldlos und brav und liebenswerth wie immer. Der Strahlenkranz, den sie gestern um Dein Haupt gelegt haben, ist wohlverdient und ich sehe Dich nie wieder ohne ihn.“ Sie drückte seine Hand an ihr Herz. „Da, da ist der Paragraph, nach dem ich mich richte!“

„Ich will dies Opfer nicht.“

„Opfer? Ich denke, Treue ist meine Pflicht!“

Vitus zog sie fest an sich. „Nein, meine schöne, lebensfrohe Ida soll nicht mit mir theilen. Jetzt fühlst Du Dich stark, denn noch stehen wir im Kampf. Allein nach der Aufregung kommen die grauen Tage. Ich denke nicht gering von den Frauen, doch daß ihr gegen Nadelstiche empfindlicher seid als wir, das weiß ich. An der Seite des Bestraften würdest Du vergehen. Ich finde im schlimmsten Fall Schutz in der Einsamkeit; ich fürchte sie nicht, ich kenne sie. Aber Du!“

„Aber ich, meinst Du, müsse meine Kaffeeschwestern und Klatschbasen um mich und Hinz und Kunz hinter mir her haben. Die Frau Baronin in allen Ecken! – Seit ich weiß, was ein fahriger Sinn für Unheil stiften kann, bin ich damit zu Ende. Vor Nadelstichen ist mir nicht bange, ich steche wieder. Und wenn es uns zu toll wird, gehen wir ein Haus weiter. Selbander ist man nicht einsam.“

Und sie bot ihre Rechte so treuherzig hin und ihr Blick war so warm, daß Vitus einschlug.

Verena trat mit einem offenen Brief ins Zimmer. Sie war blaß, ihre Miene verstört.

„Eben war Helmuths Diener da,“ sprach sie. „Helmuth schreibt mir – Was soll ich davon halten? Ich bitte Euch, lest, sagt mir: was bedeutet das?“

Die Gatten schauten sich rasch an, dann nahm Vitus bestürzt das Blatt aus der Hand seiner Tochter und las mit halblauter Stimme:

„Liebe Verena! Papa wünscht oder, um genau zu sein, befiehlt, daß ich meine Koffer packe und mit ihm abreise. Meine Rechnung hat er aus seiner Tasche bezahlt. Sehr nett, aber warum soll ich heute nicht mehr nach der Burg? Bei aller Ehrfurcht vor meinem Vater: traue einer diesen Staatskünstlern! Gestern waren doch Papa Excellenz und Stiefpapa Stadtrichter noch die besten Freunde! Sollten sie Montecchi und Capuletti aufführen? In diesem Fall Dein Romeo!

Wie dem sei, wenn ich nicht schon wüßte, wo mein Glück liegt, diesen Nachmittag würde ich es inne geworden sein. Zum ersten Mal im Leben ein schweres Herz! Aber sei nicht bange! Ich würde Dir zulieb Papa den Frieden und dem Fürsten den Dienst kündigen! Sage Dir das, liebe Seele, wenn auch Du beunruhigt bist. Tausend Grüße und Küsse und bald Neues aus der Hauptstadt von
Deinem Helmuth.“ 

Vitus wandte sich zu Verena und sah das jugendliche Gesicht zum ersten Mal von Schmerz entstellt. Er dachte nicht an die Opfer, die er Mutter und Tochter so manches Mal gebracht hatte, ebenso wenig daran, daß Verena die unschuldige Ursache seiner Leiden sei, er fühlte nur, daß sein Liebling nicht ins Verhängniß mitgerissen werden dürfe. Er las zum zweiten Mal das Schreiben, Wort für Wort, und fand seine gute Meinung von Helmuth bestätigt. Der treuherzige Junge wird den Kampf mit seinem Vater wacker ausfechten, aber man muß ihn dabei unterstützen, indem man Verena aus dem Ungewitter entfernt. In Wien lebt ein Schwager Idas, arm wie Hiob, allein auf das neue Wappen der Gatterburg ebenso stolz wie ein Spanier auf einen tausendjährigen Stammbaum. Verena verzichtet auf die Verbindung mit dem Hause Müller, und der alte Onkel wird ihr Vormund und Anwalt.

Zunächst ist Vitus seiner Stieftochter die Wahrheit schuldig. Doch gegenüber diesen unschuldigen, vertrauensvoll auf ihn gerichteten Augen – wie soll er da beginnen? Der kühle Vortrag, der ihm beim Minister gelang, wird ihm hier unmöglich. Er möchte sich vor ihr vertheidigen, den harten Namen, den das Gesetz für seine Handlung hat, mildern. Und er kann das nicht, ohne seine Beweggründe, sein Innerstes, seine volle Zärtlichkeit für die Seinen aufzudecken. Das war dem schlichten Mann nun vollends nicht gegeben. Mag Ida sprechen! Sie wird weder zu wenig noch zu viel sagen.

Er ließ die beiden Frauen allein. Sie saßen auf dem Sofa und die Richterin erzählte, wie alles gekommen war.

„Armer Vater!“ flüsterte Verena.

Die Mutter drückte ihr dankbar die Hand. „So ist’s recht, mein Kind! Wie schwer Dir auch das Leben in der nächsten Zeit werden mag, denke, daß Papa am meisten leidet. Ein Richter als Verbrecher angeklagt!“ Sie streckte die Arme von sich und faltete und rang die Hände. „Mußte es sein? So frage ich immer und kann nicht in seinem Sinne antworten. Alles ließ sich vermeiden. Aber höre ihn das Ungeheuerliche vertheidigen und sei ihm dann noch gram!“

Die Tochter hob betroffen die Augen zur Mutter empor. „Wie meinst Du, wie hätte sich’s vermeiden lassen?“

„Wenn Papa klugerweise geschwiegen hätte. Der Nachruf des ‚Pfannen-Gide‘ wird um kein Titelchen besser, wenn die Welt erfährt, daß er die leere Kasse gestohlen hat. Das Geld wurde von uns ersetzt, niemand kam zu Schaden und wir drei blieben glücklich.“

Verena, das Haupt vorgeneigt, entgegnete ganz leise: „Papa hielt die Anzeige für seine Pflicht.“

„Pflicht!“ rief Ida. „Mir ein Unglück vom Leibe halten, ist auch meine Pflicht. Wenn ich zwischen einer Pflicht, die mir nützt, und einer andern, die mir schadet, zwischen ‚ja‘ und ‚nein‘ wählen muß, bin ich für ‚ja‘.“

„Aber Mama, Unrecht bleibt Unrecht, auch wenn es nicht entdeckt wird. Gerade weil Papa aus diesem Gefühl heraus gehandelt hat, wird den Guten das Herz schlagen für den Mann, der nicht heucheln kann.“

Ida wurde ungeduldig. „Du glaubst doch nicht, den Vater vor mir verteidigen und loben zu müssen? Er mag thun, was er will – ich liebe ihn und Liebe verzeiht alles. Ob er recht hat oder nicht, ich stehe zu ihm. Allein Dein Glück, Deine Verlobung steht in Frage.“

Verena schlang den Arm um die Mutter. „Der Brief erschreckt mich nicht mehr. Wenn Helmuth die Wahrheit erfährt, hält er auch zu uns.“

„Wir wollen’s hoffen, doch dann muß er seinen Abschied nehmen.“

„Unmöglich!“ rief Verena, mit einer Gebärde des Schreckens. „Er – am Anfang der Ehren, so stolz auf seinen Beruf, so ganz erfüllt von ihm! Unmöglich!“

„Oder Du mußt uns verleugnen. Onkel Gatterburg in Wien –“

Ein Kuß verschloß Idas Mund. „Nicht weitersprechen, Mama! Jedes Wort davon ist eine Sünde an Dir und mir! Ich verlasse den Vater im Unglück nicht.“

„Dann bleibt für Helmuth nur der Abschied.“

Verena blickte trüb vor sich hin. „Ich würde mir das eine wie das andere nie verzeihen.“

„Aber Du hast nur diese Wahl –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_567.jpg&oldid=- (Version vom 6.8.2023)