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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)


Das Mädchen warf sich aufschluchzend an die Brust der Mutter. „Ach, ich war so glücklich!“

„Und sollst es wieder werden,“ antwortete Ida gerührt. „Was von Mann und Weib gilt, gilt auch von Verlobten. Du verläßt uns, jedoch mit unserem Willen, unserem Segen.“

Mit einer schlichten Bewegung legte Verena die Hand aufs Herz. „Gott weiß, wie lieb ich den Helmuth habe, aber ich verlasse meine Eltern im Unglück nicht!“

„Ueberlege Dir’s, meine Tochter!“

„Da ist nichts zu überlegen. Ich fühle, was recht ist.“

Ida blickte in den Schoß. „Sei’s denn! Du stellst Helmuth vor eine harte Entscheidung. Indeß – wenn auch er das Rechte fühlt, wird er handeln, wie er schreibt, und lieber auf den bunten Rock als auf seine Braut verzichten.“

Ein Wort schwebte auf Verenas Lippen, doch sie unterdrückte es. Nach einer Pause äußerte sie: „Helmuth ließ mir durch den Diener mittheilen, daß er vor seiner Abreise einen Brief von mir erwarte. Ich werde ihm schreiben.“

„Willst Du mir den Brief zeigen?“

„Dir, ja, aber versprich mir, daß er für Papa ein Geheimniß bleibt!“

„Gut – und was darf ich ihm sagen?“

„Daß ich seine treue und dankbare Tochter bin.“

Die Richterin entfernte sich schweigend; als sie nach einiger Zeit wieder zu Verena zurückkehrte, saß diese an ihrem Schreibtischchen, den Kopf aufgestützt, still und blaß.

„Der Diener ist da. Bist Du fertig?“

Verena nickte und reichte ihr die wenigen Zeilen hin, die sie aufs Papier geworfen hatte. Sie lauteten:

„Lieber Hellmuth! 0 Dein Vater wird Dir alles erklären. Halte ihn nicht für hart und füge Dich seinem Willen! Ich muß Dir entsagen. Helmuth, ich muß! Mit der Zeit wirst Du mir recht geben. Erinnere Dich, daß ich niemals unglücklich sein kann, wenn ich Dich glücklich weiß … Verena.“  

Ida faltete den Bogen und sagte: „An diesen Ausweg hab’ ich nicht gedacht.“

„Es ist kein Ausweg, sondern meine Pflicht.“

„Schon wieder das traurige Wort! Und darüber bricht Dir das Herz.“

Das Mädchen lächelte wehmüthig. „Du hast gebrochene Herzen immer zu den dichterischen Uebertreibungen gezählt – jetzt werden wir ja sehen.“

Während sie den Briefumschlag versiegelte und überschrieb, trat die Mutter ans Fenster und schaute gedankenvoll nach der ferngelegenen Bahnhalle hinüber. Dann nahm sie der Tochter den Brief ab. Sie selbst werde ihn dem Boten geben; so verweint könne sich Verena keinem Fremden zeigen.

Nach wenigen Minnten kam sie zurück; wortlos sank das weinende Kind in ihre Arme.

Als die Richterin mit Verena bei ihrem Gemahl erschien, waren auch ihre Augen feucht, aber erfüllt von Lebensmuth wie immer. „Da!“ sprach sie, „frage nicht, wie sie den Knoten gelöst hat, laß Dir mein Wort genügen, daß wir beisammen bleiben. Das heißt, ich verschwinde vorläufig.“

„Wir begleiten Dich,“ sagte Vitus, der seine Frau an der einen Hand und seinen Liebling an der andern führte.

„Ich muß zum Tapezierer, zum Fuhrherrn, zur Bahn – hab’ ein Dutzend Gänge, bei denen Ihr nur im Wege seid. Ich nehme das ‚Wiesel‘ mit.“ Die vielbeschäftigte Kleine mit der großen Schürze hieß in der Familie das „Wiesel“. „Quält Euch inzwischen nicht mit schwarzen Gedanken, nicht mit dem, was war und sein wird. Politisiert, spielt Schach! Wenn ich um fünf nicht daheim bin, so geht zu Onkel Anton, fliegt aus! Was ich sagen wollte, Vitus: versprich mir, weder heut noch morgen den kranken Tannhauser zu besuchen. Der Bezirksarzt empfiehlt die größte Schonung; auch haben die Raben-Mutter und zwei junge Raben die Pocken. Meide um unsertwillen das Haus! Und nun gebt mir jedes einen Kuß und gehabt Euch wohl. Auf Wiedersehen!“

Sie begab sich in die Küche; das „Wiesel“ – jetzt die Küchenmagd – spülte das Tischgeschirr. „Laß das jetzt und mache Dich zum Ausgehen fertig, Du begleitest mich zur Bahn.“

Ida trat an den Herd, in welchem für das Spülwasser ein Feuerchen brannte. Sie zog einen Brief aus der Tasche, drehte ihn nachdenkich hin und her, betrachtete die Aufschrift – „Herrn Lieutenant von Imhof“ – dann bückte sie sich, und mit einem Ruck flog das Ganze in die Flammen.

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Ueber dem sommerreifen Gelände spannte sich ein Himmel von durchsichtigem Blau. Das Geläute der Kirchenglocken gab dem Landschaftsbilde eine Sonntagsstimmung. Aber im Widerspruch mit diesem Frieden wehte ein frischer kräftiger Wind, er wühlte im Land und trieb mit den Spaziergängern allerlei Kurzweil. Die Richterin fühlte ihn als angenehme Kühle und sanften Druck im Nacken, als sie auf der Straße zum Bahnhof dahinschritt, festen und doch leichten Fußes. In kurzem Abstand hinter ihr trieb das „Wiesel“ – jetzt Kammerjungfer – mit einer großen Pappschachtel in der Rechten vor dem Winde. Glockenschläge vom Bahnhof her verkündigten das baldige Nahen des Eilzugs.

Ida sah auf die Uhr über dem Eingang des Bahngebäudes. Jetzt erhält Vitus die Zeilen, die sie vor ihrem Weggang in Hast und Heimlichkeit an ihn geschrieben hat. Zurückgeholt kann sie nicht mehr werden, dazu ist es zu spät, und sie selbst denkt nicht an Umkehr. Sie trat ein und an den Schalter.

In der Nähe des Wartezimmers für hohe und höchste Herrschaften stand ein Schwarm Hohenwarter; sie hatten gehört, daß der Minister mit diesem Zug abzureisen gedenke, und wollten es sich nicht nehmen lassen, durch ihre Anwesenheit dem hohen Besucher ihres Bades eine letzte Ehre zu erweisen, die freilich von diesem nicht in ihrem ganzen Umfang gewürdigt zu werden schien. Denn Excellenz Imhof war mit einem verdrießlichen Gesicht durch ihre Reihen hindurchgeschritten und harrte nun, umgeben von einem Kreis staatlicher und städtischer Würdenträger, schweigend der Zeit zur Abfahrt.

Lieutenant Helmuth stand in trüber Stimmung am Fenster, das auf den Bahnsteig ging. Verena hatte nicht geschrieben. „Näheres mündlich!“ ließ ihm die Baronin durch den Burschen sagen. Helmuth warf einen finsteren Blick aus dem Fenster. Dort stolzierte sein Schütz im Gedränge der Geschäftigen und Müßigen mit gespreizten Beinen, und dessen Braut Kathi schmiegte sich zärtlich an ihn. Wie verliebt sie ihren Bräutigam anblickt! Diese glücklichen kleinen Leute!

Ein langgedehnter Pfiff, ein gelles Läuten nebenan – der Zug fährt in die Halle. Nun geräth die stille Gesellschaft in Bewegung. Der Bahninspektor reißt vor Seiner Excellenz beide Thürflügel auf. Draußen rennen die Reisenden, die Bleibenden, die Beamten wirr durcheinander.

Imhof Vater und Sohn sind bereits in der für sie freigehaltenen Abtheilung eines Wagens erster Klasse. Man giebt das zweite, das dritte Zeichen. Da, im letzten Augenblick, wird die schon geschlossene Thür von dem Bahninspektor diensteifrig noch einmal aufgerissen und Excellenz macht große Augen – die Baronin steigt ein.

„Excellenz haben doch nichts dagegen?“ sagt sie mit ihrem freundlichsten Lächeln, „auch ich fahre nach der Residenz.“

Das Gesicht des Lieutenants strahlt. „Ausgezeichnet!“

(Schluß folgt.)




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Mehr Licht!

Wer als Arzt auch bedeutende Menschen in ihrer letzten Stunde beobachtet hat, der glaubt nicht so recht an tiefsinnige, weitausschauende Aussprüche der sterbenden Größen; Stärke und Stimmung dazu fehlen fast überall in jenen Augenblicken, wo Körper und Geist sich trennen. So hat wohl auch Goethe, als er die Worte sprach, welche über diesen Zeilen stehen, nur gefühlt, wie die Schatten des Todes sein lichtgewohntes Auge verdunkelten, und hat deshalb nach mehr Licht nicht im geistigen, sondern im natürlichen Sinne verlangt, nach „dem Urquell des lieblichen Lebens“, wie er die Sonne in einem Briefe an Schiller nennt. Und in diesem Sinn knüpfen wir an seinen letzten Ausspruch im Folgenden nicht etwa eine litterargeschichtliche Abhandlung,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 568. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_568.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2023)