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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

So lang die Epistel war, Ernst Claudius las sie sogleich zum zweiten Mal, hastig, fieberhaft. Sein Herz pochte fast hörbar; es war so still um ihn her. Ein kleiner, weißer Schmetterling kam zum offenen Fenster herein und setzte sich zutraulich auf den Brief, den er vor sich hingelegt hatte. Er lächelte das Thierchen an, als gehöre es mit in das Glück dieser schweigsamen Nachmittagsstunde. Und als der kleine Gast die leichten Flügel zur Weiterreise ausspannte, da gab er ihm leise den Namen „Martina“ wie eine Botschaft mit auf den Weg.

Martina … Martina … das lautete wie Glockenton! Also hatte die Stimme seines Herzens dennoch nicht getrogen, also war die Erträumte dennoch da und konnte gesucht, gefunden, gewonnen werden!

Geraume Zeit verging, bevor Claudius sich ganz wiederzufinden und sein Thun und Lassen für die nächste Zeit vernünftig zu durchdenken vermochte. Und jetzt erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß der Name Martina, so süß und vielbedeutend er ihm auch klang, bei weitem nicht genug besage. Die Adresse – wo war die Adresse? Richtig, da auf der letzten Seite des dritten Briefbogens war sie in eine Ecke gekritzelt! Er las, las laut, weil er seinen Augen nicht traute und das Zeugniß seiner Ohren zu Hilfe nehmen wollte: „Martina Ronald. Kronfurth. Lindenhaus.“

War es möglich? Das Traumbild, dessen Verkörperung er in der weiten Welt draußen gesucht hatte, es war ihm seit Jahren leibhaftig nahe gewesen! Und zu allem hin war sie die Tochter des Mannes, dessen Bücher ihm nun schon über Jahr und Tag liebe Gefährten einsamer Abendstunden gewesen waren. Niemand hatte je mit ihm davon gesprochen, daß der Autor der „Weltwanderungen“ in Kronfurth lebe; allerdings kannte auch niemand seine Vorliebe für Ronalds Schriften, und außerdem stand er selbst den städtischen Dingen so fern, daß es keinem Kronfurther in den Sinn kommen konnte, ihm besondere Einzelheiten mitzutheilen.

„Ein Roman, ein regelrechter Roman!“ sagte sich Claudius, als er seine bunten Gedanken und Gefühle ein wenig geordnet hatte. „Aber ich bin entschlossen, ihn zu baldigem Ende zu bringen.“

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Noch an demselben Nachmittag schlenderte der Doktor, vergnügt wie ein Schulknabe am ersten Ferientage, durch das kleine alte Städtchen. Kronfurth muthete ihn heute freundlicher als jemals an und die außerhalb des südlichen Stadtthors beginnende, von blühenden Hecken eingefaßte Landstraße erschien ihm stimmungsvoll wie ein Gedicht. An dieser Straße, etwa eine Viertelstunde vom Thore entfernt, lag inmitten eines ausgedehnten Gartens das Lindenhaus. Claudius kannte das hübsche, aus rothen Ziegeln aufgeführte Gebäude sehr wohl von früheren Gängen her, allein um seine Bewohner hatte er sich nie bekümmert. Jetzt sagte er sich, daß es eine überaus friedliche und freundliche Heimstätte sein müsse. Die uralten Lindenbäume, welche dem Hause den Namen gegeben hatten, umstanden es gleich treuen Hütern in unregelmäßigen Gruppen, beschatteten es aber nur zum Theil, ohne Licht und Luft abzuschließen. Die Sonne war Hausfreundin bei den Ronalds und von jeher daran gewöhnt, an allen Familienvorgängen bevorzugten Antheil zu nehmen. Sie kümmerte sich um des Professors Manuskripte und bedeckte sie ganz nach Belieben mit ihren goldenen Zeichen – sie guckte in Kochtopf und Wäscheschrank der alten Tante Seraphine und ging vor allem gern, so viel ihre hohe Stellung es gestattete, mit der Tochter des Lindenhauses. Sie liebte jene Menschenkinder, bei denen sich nichts ihrem leuchtenden Tiefblick verschloß, in denen alles wahr und klar war und werth, ans Licht gebracht und von obenher vergoldet zu werden.

Martina Ronald war im Garten beschäftigt und band Rosenbäumchen an den Pfählen fest, ohne eine Ahnung davon, welches anmuthige Bild sie inmitten ihrer stillen Gartenwelt abgab und daß von der Gartenpforte her ein Paar dunkler Männeraugen sehnsüchtig auf sie hinschauten. Claudius sah auf den ersten Blick, daß dieses schlanke brünette Mädchen im einfachen braunen Hauskleide durchaus keine Schönheit, gleichzeitig aber auch, daß sie gerade so die vollkommenste Verkörperung seines Traumbildes war! Alles an ihr: das ruhige Ebenmaß der mittelgroßen Gestalt, das charaktervolle, fast ein wenig strenggeschnittene Antlitz mit seiner reinen Blässe, mit dem frischen lieblichen Munde und den Augen, von denen er aus der Ferne nur zu erkennen vermochte, daß sie groß und dunkel waren – alles das muthete ihn wie etwas längst Gekanntes, längst Geliebtes an. Und er fand es plötzlich lächerlich und unnatürlich, daß er vor ihr wie vor einer Fremden den Hut abnehmen und sie mit „mein Fräulein“ anreden sollte. War es ihm doch, als sei es sein gutes Recht, ohne weiteres den fremden Garten zu betreten, Martinas Hand zu ergreifen und sie fortzuführen – dorthin, wo sie ja schon so lange daheim war, wenn auch nur als Bild seiner Phantasie!

Jetzt – er hatte die Pforte bereits geöffnet – bemerkte ihn das Mädchen und schritt ihm mit einer großen Gartenschere und der zusammengerafften Schürze voll welker Blätter unbefangen entgegen.

„Wollen Sie zu den Bewohnern des Lindenhauses, mein Herr?“

Diese in höflichem Tone, mit wohlklingender Stimme an ihn gerichtete Frage brachte den Doktor wieder zu sich selbst und gab ihm seine weltmännische Gewandtheit zurück.

„Ich bin ein Unbescheidener,“ sagte er lächelnd, „einer, der einen Ueberfall auf dieses stille Heim wagt, obgleich ihm bekannt ist, wie ungern es sich fremden Eindringlingen erschließt."

Nun lächelte auch sie; zwei Grübchen in den Wangen ließen ihr Gesicht plötzlich weich, beinahe kindlich erscheinen.

„Aber Sie sind doch kein Wolf im Schafspelz, das heißt, kein überneugieriger Zeitungsberichterstatter – das ist ein Milderungsgrund,“ entgegnete sie schelmisch und fügte dann, wie um einer Vorstellung vorzubeugen, rasch hinzu: „Herr Doktor Claudius von Hermannsthal, nicht wahr?“

„Kennen Sie mich?“

„Ein wenig, so vom Sehen und Hörensagen,“ antwortete sie einfach. „Es giebt hier der guten Reiter nicht viele; wir hatten oft unsere Freude an Ihrem prächtigen Rappen und wie Sie mit demselben förmlich zusammengewachsen waren beim schnellen Ritt. Zufällig befand sich einmal der Kronfurther Pfarrer beim Vater, als Sie vorüberkamen, und nannte uns Ihren Namen. Später vernahm ich denselben im Zusammenhang mit dem Geschick einer durch Brandunglück verarmten Tagelöhnerfamilie in Grünau, welche ihr Wiederaufkommen lediglich den Unterstützungen aus Hermannsthal zu danken hatte. Dieser letztere Umstand macht es, daß ich Ihnen nicht wie einem Fremden entgegenzutreten vermag, Herr Doktor; auch mein Vater wird sich sehr freuen, Sie kennenzulernen.“

Das klang alles schlicht und aufrichtig. „Ich danke Ihnen, mein Fräulein,“ entgegnete Claudius ebenso – „ich werde Ihre Güte sicherlich nicht mißbrauchen. Erscheint es mir doch als eine hohe Schicksalsgunst, dem Manne, mit dessen Geistesleben ich mich seit langem aus seinen Werken vertraut fühle, meine Bewunderung und Verehrung Auge in Auge aussprechen zu dürfen.“

„Ohne Zweifel wird mein Vater die Echtheit Ihrer Zuneigung ebenso wie ich selbst herausfühlen, Herr Doktor; leider befindet er sich zur Zeit nicht daheim. Wenn Sie aber wiederkehren wollen – –“

Er bückte sich, um eine kleine, zu ihren Füßen blühende Aurikel zu pflücken; die Blume hatte dasselbe tiefe Sammetbraun wie Martinas Augen und sollte ihn zu Haufe darüber vergewissern, daß das Erlebniß dieser letzten Stunde mehr als ein lichter Maientraum gewesen sei. „Ich werde wiederkehren,“ versetzte er.

Martina ließ es mit leicht verwundertem Aufblicke geschehen, daß er ihre Hand ergriff und kräftig drückte.

„Leben Sie wohl!“ sagte sie in ihrer gelassenen freundlichen Art und wandte sich wieder ihren Blumen zu. Er stand noch eine Weile und schaute dem braunen Kleide nach, wie es hier und da zwischen den grünen Sträuchern verschwand und wieder auftauchte – dann wanderte er, seine Aurikel gleich einem Siegeszeichen in der Hand tragend, langsam und gedankenvoll in die Stadt zurück.

Auf den goldenen Sonntag folgte eine schlimme Regenwoche, eine Woche, während welcher Claudius, da sein Direktor in Geschäften abwesend war, reichlich Arbeit hatte. „Ueberlegsames“ Wetter pflegte der schöne Amadeus solche Tage zu nennen, an denen man sich durch die rinnenden Regenfäden wie durch eine Mauer von der ganzen übrigen Welt abgeschieden fühlt, und der Alte bemerkte dabei, daß diese Nässe draußen und diese Trockenheit und Stille in der behaglichen Stube dem Fortschreiten der „Nachteule“ erfahrungsgemäß am förderlichsten seien.

Claudius machte jetzt eine sehr ähnliche Erfahrung. Er fand, es lasse sich köstlich nachdenken und im eigenen Innern „aufräumen“ bei dem verschwiegenen grauen Zwielicht und dem gleichmäßig eintönigen, alle Aufregung beschwichtigenden Regengeplätscher. Er wußte jetzt ganz genau, was er wollte und in welcher

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