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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

ob es wirklich wahr sein werde, ob sich der Laufbursche nicht geirrt haben könne – in dem Viertel am Monte Pincio werde so viel gebaut, das Unglück könne ebensogut in einer anderen Straße geschehen sein, als in der Via Sardegna. Aber bei alledem war der junge Maler von Unruhe erfüllt, er hob sich fast jede Minute von seinem Sitz empor, um die Straße entlang zu sehen, und feuerte den Vetturino in einem ziemlich fließenden Italienisch, dem man jedoch ohne jede Mühe die deutsche Zunge anhörte, zu einem noch schnelleren Tempo an.

Jetzt endlich! Sie bogen in die Via Sardegna ein.

Schon während ihrer Fahrt liefen aufgeregte Menschen aus verschiedenen Richtungen herbei. Sie riefen einander zu und zeigten besorgte Gesichter; von allen Seiten, vom Corso d’Italia, an der Via Sicilia und Via Boncompagni, strömten neue Gruppen herbei, sie stießen einander beiseite, sie liefen sich athemlos, jeder wollte zuerst an der Stätte des Unglücks sein.

Der Vetturino sah sich mit fragender Miene nach seinen beiden Fahrgästen um und wies auf eine brausende wimmelnde dunkle Menschenmasse, welche die halbe Straße einnahm und sich von Minute zu Minute vergrößerte.

„Vorwärts! Vorwärts!“ befahl der Maler ungeduldig.

Die Pferde gingen noch ein paar hundert Schritte, dann verbot sich das Weiterfahren von selbst.

Der junge Mann sprang hastig auf das Pflaster, ohne an die Bezahlung zu denken, ohne sich nach seinem Gefährten umzusehen. Seine Augen gingen nach der Richtung, die ihm die vielen erhobenen Arme wiesen, und sein Gesicht wurde fahl vor Schreck.

„Also doch! Um Gotteswillen!“

Er versuchte, vorwärts zu dringen. Aber wie ein brandendes Meer umgaben ihn diese wild durcheinanderschreienden, aufgeregten Menschen, die sich rückwärts stauten, ungestüm vorwärts drängten und den Einzelnen wie einen wehrlosen Strohhalm hin- und herschleuderten. Gestikulierende Hände, gen Himmel geballte Fäuste hoben sich zuweilen aus diesem Getümmel hervor – ein Jammern und Fluchen, daß die Lüfte schallten – kreischende Kinder, die fast zertreten wurden, und dazwischen die Schutzleute zu Fuß und zu Pferd, bis jetzt ohne jeden Erfolg bemüht, Ordnung zu schaffen.

„Welches Haus ist’s?“ stieß der junge Maler mit Anstrengung heraus und faßte seinen nächsten Nachbar unsanft am Aermel; er hoffte noch, er könne sich dennoch geirrt haben – der Lärm, das Getümmel hatte ihn betäubt, es war gewiß ein anderes Haus …

„Casa Bortenyi!“ Der Angeredete riß sich unwillig los und stieß mit den Ellbogen, um weiterzukommen.

„O über das Unglück, das Unglück!“ jammerte eine durchdringende Weiberstimme. „Mein Mann wird noch drin gewesen sein und ist nun auch verschüttet – o Jesus Christus! Er hat es immer zu mir gesagt, der Palazzo wird zu schnell gebaut, alles soll wie durch ein Wunder fertig werden, so hat’s der reiche ungarische Graf, der sich den Palazzo aufbauen ließ, bestimmt! Ja, die Reichen, die herzlosen Kreaturen! Was fragen die nach ein paar Dutzend Menschenleben, wenn sie nur ihre verrückten Einfälle erfüllen können!“

„Schämt Euch doch, Frau!“ sagte eine rauhe Baßstimme in ihrer Nähe. „Der Graf kann nichts dafür, was versteht der von einem Bau! Er ist eben verlobt mit einer schönen Sieneserin und hat deshalb mit der Hochzeit und mit der Fertigstellung des Hauses geeilt. Aber den Ciorboso von Mailand, den Schuft von einem Architekten, der schon mehr solcher Bauten ‚über Nacht‘ ausgeführt hat – den könnt Ihr verfluchen!“

Sie waren während dieser Reden, die in dem wüsten Lärm um sie her niemand hörte und beachtete, der Unglücksstätte näher gekommen – das arme Weib, der Maler und der dicke Bürgersmann, der den Grafen vertheidigte. Und jetzt sah man eine ungeheure Wolke von Schutt und Kalk, welche die Luft erfüllte und die Sonne verdunkelte, sah in dem trüben Licht eine große feste Masse in sich zusammengesunken daliegen und daraus einzelne Balken und Trümmerstücke hervorragen, die sich wie zeigende Finger emporhoben.

Bereits war die Feuerwehr zur Stelle. Die wackeren Männer arbeiteten nach Kräften, unbekümmert um die eigene Lebensgefahr, die das unaufhörlich nachstürzende Gebälk ihnen brachte, unbekümmert auch um den immer wachsenden Tumult der Volksmenge, die sie umtoste, um die angstvollen Fragen, die man ihnen zuschrie, die Jammerrufe, die zu ihnen drangen. Sie konnten aber mit dem Werk, das ihnen oblag, allein nicht fertig werden und riefen den das Publikum abhaltenden Polizeisoldaten zu, man möge ihnen so rasch als möglich Verstärkung schicken – Sachverständige – von den Pionieren.

Die Erregung im Volk wuchs bei dieser Kunde ins unendliche, man wollte selbst Hand anlegen, wollte helfen; sollte man hier unthätig zuschauen, wie die Leute da drinnen sich abmühten, während unten im Schutt die Väter, die Brüder, die Gatten ersticken mußten? Warum war man denn nicht sofort auf den Gedanken gekommen, die Pioniere zu Hilfe zu holen, weshalb mußten erst die Männer, die schon bei der Arbeit waren, um die nothwendige Unterstützung bitten?

Umsonst suchten die Polizeisoldaten den Leuten begreiflich zu machen, daß dies sofort geschehen sei, daß die verlangte Hilfe sich schon auf dem Wege zur Via Sardegna befinden und jeden Augenblick eintreffen müsse, umsonst trieben sie die vorwärtsstürzenden Massen mit der flachen Klinge zurück, während die berittenen Schutzleute mitten hinein in die Volkshaufen ritten – es half alles nichts! Das südliche heiße Blut litt es nicht, daß die römische Bevölkerung thatenlos ausharrte und Vernunft annahm, die Leute wollten weder hören noch fühlen! Die schützende Postenkette wurde durchgerissen, wie eine mächtige Meereswoge wälzte sich der Menschenstrom unaufhaltsam vorwärts und ein unabsehbares neues Unglück wäre eingetreten, wenn nicht plötzlich, schon aus nächster Nähe, der taktmäßige Schritt einer großen Soldatenabtheilung und der knappe, laute Kommandoton einer durchdringenden Stimme dem wilden Durcheinander Einhalt geboten hätte.

„Die Pioniere!“

Ebenso rasch wie zuvor das Sturmlaufen fand jetzt das Zurückweichen statt. In wildem Eifer, in überstürzender Hast fluthete die Riesenwelle rückwärts, alles mit sich reißend, was sie auf ihrem Wege fand.

„Platz für die Pioniere! Laßt sie durch, die braven Leute! Zurück – zurück!“

Brausender Lärm erfüllte die Luft, man schrie und beglückwünschte einander, als sei das Werk der Rettung bereits geschehen. Die Helfer in der Noth wurden beinahe geschoben bis zur Casa Bortenyi; sie hatten ihre Werkzeuge zur Hand genommen und verschwanden unter den betäubenden Zurufen des Volks in den beständig aufwirbelnden Schuttwolken.

Der junge blonde Maler war ein paarmal in Gefahr gewesen, erdrückt und zertreten zu werden. Man hatte ihm den Hut vom Kopf geworfen, hatte ihn niedergerissen, wieder aufgerafft und wie ein willenloses Ding an eine Mauer geschleudert. Hier stand er nun, ein wenig abseits, und spähte umher, ob er niemand finden könne, der ihm Rede stehe. Da fiel sein Blick zufällig auf den dicken römischen Bürger, der vor einer Weile den ungarischen Grafen gegen die Anklagen der weinenden Frau vertheidigt hatte. Der brave Mann hatte sich gleichfalls mühsam aus dem Getümmel gerettet, man hatte auch ihm übel mitgespielt, athemlos stand er da und trocknete sein schweißtriefendes Gesicht. Der Maler kannte ihn von Ansehen und trat auf ihn zu.

„Entschuldigung, Signore! Seid Ihr nicht der Besitzer der hübschen römischen Weinschenke da drüben, gerade gegenüber der Casa Bortenyi?“

„Der bin ich, zu dienen. Und der Signore hat mir sicher einmal die Ehre angethan, ein Gläschen Chianti bei mir zu trinken!“

„Gewiß, ganz gewiß! Aber ich wollte Sie fragen: Sie kennen doch sicher einen jungen Bildhauer, der täglich in die Casa Bortenyi kommt, um zu arbeiten, ein schöner junger Mensch mit schwarzen Angen – –“

„O, Signore Troost, Werner Troost! Ob ich ihn kenne! Meiner Frau und Tochter ganzer Liebling, und bei Gott der meinige auch! Immer heiter und freundlich und schön, wie ein Maientag! Wißt, er kommt jeden Morgen zu mir, ehe er da drüben arbeiten geht, und stärkt sich mit einem Glas herben Rothweins –“

„Aber heute, heute!“ unterbrach ihn der Andere, zitternd vor Ungeduld. „Ist er heute gekommen, um zu arbeiten?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_598.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2023)