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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

daß sie diese Töne oft von der Gräberstätte her vernehmen könnten und dazu Waffengeräusch, rohes Gelächter und derbe Flüche. Im Glauben an diesen Geisterspuk blieben sie befangen, und keiner der Sepoys – so nannte man die aus Indern gebildeten Truppen, welche die Engländer in ihre Armee eingereiht hatten – ging ohne Grauen an der Mauer des Kirchhofs der Jalwallahs bei Azimpore vorüber.

Im Mai 1857 brach in Delhi der Aufstand der Sepoys aus. Unter den 250 000 Soldaten, die damals von der ostindischen Compagnie unterhalten wurden, gab es nur 30 000 Briten, die übrigen waren Eingeborene. Die letzteren bemächtigten sich in Delhi der 150 vorhandenen Kanonen, unermeßlicher Kriegsvorräthe und eines Schatzes von zwei Millionen Pfund Sterling. Die englische Besatzung ward überwältigt und die gesammte europäische Bevölkerung der großen Stadt meist unter gräßlichen Martern umgebracht. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Aufstand über Nordindien. Die Grausamkeit, mit der die Sepoys dabei gegen die Engländer verfuhren, trug Entsetzen in ihre bedrohten Garnisonen. Wochenlang währte es, bis sie sich aufraffen konnten, um ihren Feinden die Stirn zu bieten und den Widerstand gegen sie planmäßig aufzunehmen.

Ein Stützpunkt der englischen Militärmacht war unter anderem Azimpore. Oberst Prendergast stand da mit 800 Mann, großentheils Reiterei. Schon schlugen die Wogen der Empörung auch an diesen Platz und jeden Tag war ein Angriff zu befürchten. Die Stadt war daher nach Möglichkeit verbarrikadiert worden; draußen vor den Thoren hatte man Schanzen aufgeworfen und mit Wachen besetzt; Reiterpatrouillen streiften zur Vorsicht Tag und Nacht in der Umgegend umher. Es war außerdem zwischen der Garnison von Ingradar, der nächstgelegenen, und der von Azimpore vereinbart worden, daß man sich gegenseitig zu Hilfe kommen werde, wenn eine von ihnen durch den feindlichen Vorstoß in Gefahr gerathe. So hofften die Engländer, hier sich behaupten zu können, und waren entschlossen, in jedem Fall ihr Leben theuer zu verkaufen.

Am 19. Juli meldeten die Streifpatrouillen, daß ein großer feindlicher Heerhaufen sich auf dem Marsch gegen Azimpore befinde. Sofort ließ Oberst Prendergast zwei Reiter nach Ingradar abgehen, um vom 150. Regiment die verabredete Unterstützung zu erbitten. Der Angriff der Indier war für die Nacht vorauszusehen und nur bei höchster Eile vermochten die Jalwallahs noch rechtzeitig einzutreffen. Ihr Weg war lang und bei der schwülen Julihitze überaus beschwerlich. Aber bis zum Morgen hoffte sich die Mannschaft von Azimpore noch hinter den Schanzen und Verhauen halten zu können. Alles wurde zur Vertheidigung gerüstet; ernst und schweigend blieb alles unter Gewehr, die Reiterei hielt sich fertig im Sattel. In höchster Spannung standen die Offiziere um den alten Oberst und horchten in die heiße, finstere Nacht hinaus; schwere Wolken bedeckten den Himmel und schon grollten die Donner eines aufsteigenden Gewitters.

Auf der Ebene vor dem Jalwallahkirchhof rückten währenddem zu Tausenden die Indier heran. Mir Khan, der gefürchtesten einer vom Mahrattenstamm, ritt auf feurigem Roß in prächtiger Kriegskleidung an der Spitze seiner Scharen. Als diese beim Flammen der Blitze der weißen Mauer des Totenfeldes ansichtig wurden, da erlahmte ihr Schritt und ihr Muth, der Marsch gerieth ins Stocken. Gemurre drang zu den Ohren der Anführer und sie wußten, aus welchem Grunde. Die Sepoys hatten Angst vor den Gespenstern, die an den Gräbern der Jalwallahs ihr Wesen trieben. Mir Khan aber ließ sich nicht einschüchtern; größer als sein Grauen vor dem Spuk war seine Rachelust, welche er im Blut der Engländer zu stillen gedachte. Und anders war nicht nach Azimpore zu gelangen, als auf der Straße, die an der Kirchhofsmauer vorüberführte. Darum befahl er herrisch den Weitermarsch.

Trotzdem rührte sich keiner; der Mann, der hinter dem Khan die Fahne des Aufruhrs trug, senkte sie wie unter Einwirkung einer höheren Macht zu Boden. Die Leibwächter um Mir her wurden verwirrt; seine Offiziere aus vornehmen Mahrattengeschlechtern verweigerten laut den Gehorsam, da sie selber so sehr von abergläubischer Angst befallen waren, daß sie beim Leuchten der Blitze über der Kirchhofsmauer die Köpfe der weißen Soldaten vom 150. Regiment und ihre rothen Schärpen gesehen haben wollten. In wildem Zorn schoß der Khan mit seiner Pistole einen dieser Widerspänstigen nieder und befahl seiner Wache, mit den anderen ein Gleiches zu thun. Mit bebenden Händen gehorchten diese; die Schüsse knallten durch die düstere Nacht und streckten ein paar andere der aufsässigen Anführer nieder.

Im selben Augenblick jedoch riß der Khan vor Entsetzen sein Roß zurück, die Truppen um ihn warfen die Waffen weg und wollten fliehen. Die abgefeuerten Schüsse waren vom Kirchhof her erwidert worden. Das Echo hatte die Indier getäuscht.

„Halt!“ schrie Mir Khan, der sich schnell wieder gefaßt hatte, den Fliehenden zu, und sie standen unter der Wucht seines Rufes.

Er ließ sie sogleich auf die Kirchhofsmauer schießen und minutenlang krachten die Salven in betäubendem Lärm; dazu der Donner des mit Macht sich jetzt entladenden Gewitters. Wie wahnsinnig gebärdeten sich die Sepoys; immerfort mußten sie schießen und dabei stieg von Sekunde zu Sekunde ihre Angst, denn das ungewöhnlich starke Echo warf die Salven und die Donnerschläge von der Mauer zurück, und die armen Gesellen dachten nicht anders, als daß sie hier ihr Ende finden müßten. Sie sahen die Träger der rothen Schärpen sogar leibhaftig vor sich und fielen in Massen zur Erde, in dem Wahn, von einer Kugel getroffen zu sein.

Endlich zwang sich Mir Khan zu dem Entschlusse, gegen das eiserne Gitterthor des Kirchhofs vorzurücken, er zwang auch seine Scharen, ihm zu folgen, wie sie auch widerstreben mochten. Das Gewehrfeuer durfte nicht aufhören, es mußte eine förmliche Schlacht gegen die toten Jalwallahs geliefert, die Geister mußten getötet, die Gräber vernichtet, der Kirchhof mit Mauer, Kapelle und Denkmal der Erde gleich gemacht werden. Mir Khan befahl den Sturm, er sprengte voran …

Da tönte ihm das helle, langgezogene Hornsignal des 150. Regiments von der Kapelle her entgegen. Er kannte es wohl, so gut wie seine Leute. Ein Grausen erfaßte ihn; seine Soldaten standen wieder wie erstarrt. In ihrem Entsetzen wähnten sie die Jalwallahs zwischen den Gräbern, an der Mauer, hinter dem Gitterthor stehen zu sehen und das Klirren ihrer Waffen, ihre Kommandorufe zu hören. Und noch einmal tönte das schreckliche Signal des 150. Regiments ihnen entgegen; ein langhin über die Gräber wegzüngelnder Blitz erhellte zugleich den Kirchhof und schien die Kapelle zu treffen. Ein Donnerschlag, unter dem die Erde erbebte, folgte ihm nach.

Nicht der Ruf eines Gottes hätte jetzt noch die Sepoys gehalten. In wildem Entsetzen warfen sie die Waffen weg und flohen wie besessen über das Feld zurück. Mir Khan wurde mit fortgerissen, selbst fast besinnungslos vor Schrecken. Sein über Stock und Stein hinjagendes Roß schleuderte ihn aus dem Sattel, im Falle brach er das Genick. Ein furchtbares Geschrei erfüllte die Luft; von Angst überwältigt brachen viele der Fliehenden zusammen, herrenlose Pferde stürmten über ihre Leiber weg, brachen in die Knäuel der Flüchtigen. Blitz und Donner dabei ohne Aufhören, um die Raserei der Massen noch zu mehren!

Endlich stieg im Osten der Tag empor, das Gewitter hatte ausgetobt, die Sonne vergoldete den Horizont. Von Azimpore kam ein Reitertrupp an den Kirchhof, die Recognoszierungspatrouille, welche Oberst Prendergast endlich dahin ausgeschickt hatte, weil er sich das wahnwitzige Schießen nicht erklären konnte; denn ein Zusammenstoß der Sepoys mit dem 150. Regiment war um diese Zeit so nahe bei Azimpore noch unmöglich. Die englischen Reiter sahen nun zu ihrem höchsten Erstaunen auf ein seltsames Schlachtfeld. Da lagen in Massen die Indier, tote und noch mehr lebende durcheinander, die ganze Ebene war bedeckt mit Waffen aller Art, und in der Ferne gewahrte man die letzten der Fliehenden. Die Aussagen der Gefangenen belehrten sie endlich, was geschehen war. Man meldete es ins Hauptquartier zurück und nun sprengte der Oberst selbst mit seiner Reiterei herbei. Wie er am Kirchhof ankam, da tönte auch hell und lang das Signal des 150. Regiments durch die klare, sonnige Luft. Ueber eine letzte Bergkuppe stiegen zweihundert Schärpenmänner, welche von Ingradar im Eilmarsch abgegangen waren. Eine Stunde vorher hatte ihr Signal, das sie von einer Höhe aus auf gut Glück nach Azimpore hin gegeben hatten, mit seinem Echo an der Kirchhofsmauer den abergläubischen Feind in die Flucht getrieben.



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