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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

„Ihr Freund, unser armer Werner Troost, hat Ihnen Mittheilungen von Wichtigkeit gemacht?“

„Ja, – einige!“ Des Malers Stimme klang heiser und trocken, seine Augen blickten ausdruckslos gerade vor sich hin.

„Das ist mir lieb zu hören! Wenn es jetzt gefällig wäre, Herr Kollege!“

Er öffnete die Thür und bemühte sich, Signora Marchini zurückzuhalten, die ihnen folgen wollte. Als sie die gefalteten Hände zu ihm aufhob und ihm schwur, sie wolle stumm wie ein Bild sein, gab er achselzuckend nach.

Als sie in Troosts Atelier eintraten, sahen sie Frolo, den Wärter, weitab von dem Bett des Kranken, an der Hinterwand des großen Raumes stehen und mit vieler Aufmerksamkeit die dort aufgestellten Statuen betrachten, als ginge ihn sein Pflegling nichts mehr an.

Der römische Arzt trat dicht an das Lager, blickte dem darauf Liegenden scharf ins Gesicht, legte leicht die Hände übereinander und blieb so stehen, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu der beabsichtigten Untersuchung zu treffen. Doktor Weber bog sich nahe über den Kranken, zuckte fast unmerklich zusammen und ging mit wenigen Schritten bis an das Fußende des Bettes zurück. Dort blieb auch er regungslos stehen, die Hände in einander gefügt, den Kopf gesenkt.

Waldemar Andree schaute von dem einen zum andern. Sein Begriffsvermögen war wie vernichtet, er verstand noch immer nicht. Erst als er bemerkte, wie Signora Marchini ein kleines silbernes Kruzifix aus ihrem Busen zog, es andächtig küßte und dann neben dem Bett in die Kniee sank, kam ihm die ganze Wahrheit zum Bewußtsein.

Er war mit drei Schritten neben dem Bett und starrte mit großen Augen auf die hingestreckte Gestalt.

„Werner! Werner!“ rief er zweimal mit lauter Stimme.

Aber Doktor Weber machte ihm rasch ein abwehrendes Zeichen mit der Hand, und der römische Arzt neben ihm flüsterte:

„Lassen Sie ihn! Sehen Sie nicht?“

Unter den halb zugesunkenen Augen zeigten sich breite blaue Schatten; die Schläfen schienen plötzlich eingefallen, und die Lockenhaare hatten sich fest um die Stirn geklebt. Der Athem ging keuchend, die linke Hand bewegte immer noch mühsam tastend die Finger hin und her. Dann öffneten sich Werners Augen plötzlich unnatürlich weit. Unendlich kläglich war es anzusehen, wie er mit aller Gewalt danach strebte, sich auf etwas zu besinnen, den fliehenden Geist zurückzuzwingen, umsonst –

Er richtete seinen starren, hilflosen Blick nach dem Fenster, als würde er von dorther irgend welchen Beistand erwarten. Doktor Weber gab dem Wärter einen Wink; Frolo eilte zum Fenster und nahm hastig und geräuschlos die Vorhänge herunter.

Drüben über der Straße lehnte ein kleines, grün umsponnenes Häuschen an einer halbzerfallenen Mauer, voll und goldig lag dort noch der scheidende Sonnenschein. Wie ein Lichtbild stand das kleine Haus da, und ein paar lustig jubelnde Kinderstimmen drangen durch die tiefe Stille bis herein in den schweigenden Kreis der Männer.

Die Augen des Sterbenden schauten groß und ungeblendet in den sonnigen Glanz, – ob sie ihn noch empfanden? Signora Marchini schluchzte leise und versuchte, mit gebrochener Stimme Gebete zu murmeln. Andree zitterte wie im Fieberfrost, aber keine erlösende Thräne wollte ihm kommen, er hätte sich ihrer wahrlich nicht geschämt! Tief zu seinem Freunde niedergebeugt, schien er dem Tode wehren zu wollen, dem starken Tode, dem Mächtigsten unter den Mächtigen, dem niemand seine Beute abringt!

Ob Werner Troost ihn noch einmal erkannte? Er setzte zweimal zum Sprechen an, endlich beim dritten Mal gelang es ihm.

„Mein Erbe!“ sagte er laut und vernehmlich, mit einer klaren feierlichen Stimme, dann zuckte es durch seinen ganzen Körper, und er streckte sich langsam aus.

Signora Marchini richtete sich von ihren Knieen empor und legte ihm das Kruzifix, das ihre lebenswarmen Hände bisher umschlossen hatten, in die erkaltende Linke. Seine Finger umklammerten es krampfhaft, die Zähne setzten sich knirschend aufeinander, und die glanzlosen Augen kehrten sich nach oben.

Der italienische Arzt und der Wärter bekreuzten sich. Doktor Weber trat zu dem Toten und legte seine Hand fest über die gebrochenen Augen.

Auf dem kleinen Häuschen und der halbverfallenen Mauer lag kein Sonnenstrahl mehr. –

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„Was meinst Du wohl? Wie viele von denen, die mir, wenn ich heute sterbe, einen Kranz von Frühlingsblumen stiften und mir in ehrlicher Trauer das Geleit zur Pyramide des Cestius geben, werden nach einem Jahr noch mehr von mir wissen als den Namen? Ein lustiger Gesell, ein flotter Kumpan, kein Spielverderber – das ersetzt sich leicht!“ Waldemar Andree wiederholte sich diese Worte, während das Trauergefolge sich anschickte, Werner Troost zu Grabe zu geleiten.

Es war eine sehr stattliche Schar dazu versammelt, ehrlich ergriffen waren sie alle und Frühlingsblumen gab es in Massen, süß duftend und rosig, daß auch nicht ein Fleckchen des Sarges hindurchschimmerte. Konnte es sein? Würden sie ihn, der so jäh, so plötzlich dahingesunken war, wirklich so rasch vergessen?

Nicht nur die deutschen Künstler waren zahlreich erschienen; die einheimischen Maler und Bildhauer, eine ganze Anzahl jüngerer Beamter, sie alle hatten sich eingestellt, um dem allgemein beliebten Manne die letzte Ehre zu erweisen. Der ungarische Graf Bortenyi war aus Siena, wo er bei seiner Braut weilte, nach Rom gekommen und wohnte der Bestattung bei, sichtlich bewegt. Namentlich aber war der Zudrang aus dem Volke groß.

Andree sah das alles wie im Traume; er erinnerte sich genau an das Geschehene, er wußte jede Einzelheit, o ja, er hatte auch das Begräbniß angeordnet und den Nachlaß vorläufig übernommen, – aber er konnte den Gedanken nicht loswerden, was da vorgehe, sei doch nicht Wirklichkeit, es müsse sich noch abklären, anders entwickeln, – er sei nicht er selbst, sondern ein ganz anderer, der dabeistehe und zusehe, und auf sein eigenes Ich müsse er sich erst besinnen.

Der Friedhof der Protestanten! Die vielen fremden Namen! Die unzähligen Deutschen auch, die hier ruhen! Aber es schläft sich gut zu Füßen des Cypressenhains, der die Gräber bewacht!

Der protestantische Geistliche hält eine kurze Grabrede; er sagt, was er verantworten kann, und lobt den Heimgegangenen in warmen Worten und nennt Gottes Wege unerforschlich, da er dieses blühende Leben mitten in voller Kraft und Frische abberufen habe, und bittet die Freunde des Verstorbenen, seiner nicht zu vergessen.

Der Sarg schwebt über der offenen, dunkel aufgähnenden Gruft und gleitet langsam abwärts, wie von Geisterhänden in die Tiefe gezogen. Noch einmal nicken die lachenden, hellen Frühlingsblumen, die man auf den Sarg gehäuft hat, den Ueberlebenden einen Abschiedsgruß zu, dann sind auch sie verschwunden, und man hat der Erde gegeben, was der Erde gehört.




4.

In Hamburg gab es um die Mitte des April das berühmte oder vielmehr berüchtigte Hamburger „Weltuntergangswetter“.

Der Reisende, der soeben auf dem Berliner Bahnhof angekommen war und im Begriff stand, sich selbst sowie einen Theil seines Gepäcks in eine von Nässe triefende Droschke zu zwängen, duckte sich fröstelnd in den aufgeschlagenen Kragen seines Reisemantels hinein und schleuderte die Cigarette, die trotz aller seiner Bemühungen nicht brennen wollte, mit einer unwilligen Bewegung auf das Straßenpflaster.

„Wohin?“ fragte der Kutscher und breitete die von Nebeldampf rauchende Pferdedecke über seine Kniee.

„Hamburger Hof!“ Holpernd setzte sich das Gefährt in Bewegung, der Insasse desselben seufzte und starrte mit einem trüben Blick durch die angelaufenen Scheiben des Wagenfensters auf die verdrießlich im Regen dastehenden Häuser, auf die Menschengruppen, die sich unter ihren Schirmen ungeduldig weiterschoben, und auf die Bäume, die ihr schwarzes Geäst kläglich in die graue Luft hineinstreckten.

O Rom, herrliches, schönes Rom trotz aller Verunstaltungen und Verzerrungen, die man dir angethan! Wie er es geschaut hatte am Tage seiner Abreise, so sah er es wieder jetzt vor sich: zu seinen Füßen hingebreitet die ewige Stadt, von den flammenden Strahlen der untergehenden Sonne mit allen Farben vom dunkelglühenden

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