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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

das zerraufte Haar und sagte halblaut: „Was war denn los?“

„Ach, der Esel der! Meinen Pfiff hat er nachgemacht, und Fritz Brocksdorff ist drauf ’reingefallen – na – das konnt’ ich mir doch nicht gefallen lassen!“

Hier drehte sich das junge Mädchen mit einer ganz unerwarteten Wendung herum, da ihr der kleine Kamm aus der Hand gefallen war, und bekam Andree zu sehen, der, unschlüssig, ob er bleiben oder gehen sollte, in zögernder Haltung dastand. Ihr blasses und schmales Gesicht röthete sich leicht, als sie den fremden Herrn gewahrte, augenscheinlich aber war sie nicht sonderlich verlegen, eher innerlich belustigt. Ihre ausdrucksvollen großen grauen Augen musterten ihn rasch, und die Lippen zuckten leise von verhaltenem Lachen.

„Was wünschen Sie, mein Herr?“ fragte sie dann.

„Ist Fräulein Stella Brühl zu sprechen?“ erwiderte Andree und ärgerte sich in demselben Augenblick, daß er sich nicht lieber nach ihren Eltern erkundigt hatte.

Das junge Fräulein zog nachdenklich die Brauen zusammen.

„Ich weiß nicht – ich glaube nicht – ich will aber nachfragen. Frau Willmers!“ rief sie mit lautschallender Stimme nach oben. „Ist die Prinzessin zu Hause?“

Ein Weilchen blieb es still, dann kam ein breites Organ von oben aus irgend einer geheimnißvollen Thür.

„Nein! Die Prinzessin ist mit Dudu ausgefahren, Papa ist zur Börse und Mama beim Photographen!“

„Da haben wir’s! Alle fort! Von den Eltern wußte ich’s übrigens, sonst wär’ es hier nicht so zugegangen! Wo aber unsere Diener stecken, das wissen die Götter! Darf ich –“ mit einem Blick auf das Elfenbeinetui in Andrees Hand – „Ihre Karte abgeben?“

„Zu gütig, mein Fräulein! Sie wollen sich selbst bemühen … indessen, wenn Sie die Freundlichkeit haben wollten! In den nächsten Tagen bin ich so frei, meinen Besuch zu wiederholen!“

„Bitte!“ Sie warf einen Blick auf die Karte. „Ach – Herr Andree, von dem Herr Hilt uns schon gesagt hat! Bitte, verrathen Sie Herrn Hilt nicht, wie Sie meinen Bruder und mich heut’ hier angetroffen haben – dieser Herr erzählt meinen Eltern nämlich alles wieder!“ Auf den beweglichen Zügen stand deutlich eine offene Abneigung gegen Herrn Hilt sowohl als auch gegen seine Gewohnheit des Wiedererzählens zu lesen.

„Mein Wort darauf!“ Andree verneigte sich feierlich und faßte nun auch Wolfgang näher ins Auge – ein kräftig gebauter blonder Junge mit offenem Gesicht, nicht hübsch und nicht häßlich.

„Danke!“ nickte das Mädchen. „Und entschuldigen Sie, daß ich das alles hier auf der Treppe mit Ihnen verhandle, aber ich darf außer meinen Freundinnen noch keine Besuche empfangen – Mama erlaubt das nicht!“ Wieder übten die grauen Augen ausdrucksvolle Kritik an diesem mütterlichen Verbot.

„Jedenfalls habe ich das am meisten zu bedauern,“ entgegnete Andree zuvorkommend und reichte Wolfgang die Hand zum Abschied. „Adieu, junger Freund! Als ich in Ihrem Alter war, hätt’ ich ohne Frage auch den niedergeworfen, der sich unterstanden haben würde, meinen Pfiff nachzuahmen und einen guten Freund zum Narren zu halten.“

Der Junge wurde roth und kicherte, schlug jedoch mit Vergnügen in die dargereichte Hand ein und sah mit seinen hellen Augen wohlgefällig an Andree in die Höhe. „Solche Figur möchte ich auch einmal bekommen!“ stand in dem Blick zu lesen.

„Auf Wiedersehen, mein Fräulein – hoffentlich darf ich so sagen!“ Der Maler verneigte sich nochmals und bekam als Gegengruß jenes komische Zwitterding zwischen Knix und Kompliment, das unausgewachsene Mädchen, die noch keine langen Kleider tragen, mit unfehlbarem Ungeschick zustande bringen. Vor sich hinlächelnd und kopfschüttelnd verließ er das Haus. Das also waren Senator Brühls jüngere Kinder! Wie mochte die älteste Tochter sein, die „Prinzessin“, wie man sie dort im Hause nannte?

Nachdenklich wanderte Andree über den Alsterdamm. Im Grunde fühlte er sich wenig gemüthlich in Hamburg. Er hatte in Rom viel Verkehr mit seinesgleichen gehabt, anregenden interessanten Verkehr, der fehlte ihm hier bis jetzt gänzlich. So überkam es ihn jetzt fast wie Sehnsucht nach den Bekannten in Rom. Nachrichten von dort waren ihm nur einmal zugegangen. Der kleine Hartwich hatte ihm mit ein paar freundlichen treuen Worten mitgetheilt, daß Signora Marchini ihr Haus zugeschlossen habe und nach Pisa gereist sei, ihre dortige Adresse sei unbekannt! Und da war auch wieder jenes dumpfe leere Gefühl, das ihn an den kürzlich erlittenen Verlust mahnte. Es war kein eigentlicher Schmerz, eher eine warnende Stimme, die ihm zuflüsterte: in der Tiefe Deines Herzens ruht etwas – daran rühre nicht! Thust Du es dennoch, so kommt es Dir mit übermächtigem Weh zum Bewußtsein, wie innerlich verarmt, wie einsam Du dastehst, darum hüte Dich, das, was in Dir schlummert, zu wecken! –

In seinem ziellosen Weiterwandern war der Maler auf den Weg an der Außen-Alster geraten, der bei dem schönen Wetter außerordentlich belebt war. Wie bei einer Korsofahrt zog Wagen auf Wagen an ihm vorüber, und die meisten Gefährte und Rosse bewiesen deutlich genug, daß der vielgerühmte Reichthum der Hamburger Patrizier und Handelsleute noch immer in voller Blüthe stand.

So auch eben jetzt! Zwei arabische Schimmel kamen heran, langmähnig, seidenhaarig, mit zierlichen Köpfen und kleinen Hufen, ihre silbernen Gebißketten flimmerten im Sonnenschein. Sie waren vor einen niedrigen Wagen mit auffallend großen Rädern gespannt, auf dessen Vordersitz eine junge Dame saß, welche die Zügel straff in den Händen hielt. Sie fuhr gerade jetzt langsam, denn sie hatte einen älteren Herrn entdeckt, der bedächtig auf dem Wege für Fußgänger einherwandelte, aber anscheinend tief in Gedanken verloren war und auf seine Umgebung nicht achtete. Das Fräulein machte umsonst mit der Peitsche allerlei Zeichen, um die Aufmerksamkeit des Herrn zu erregen, endlich wandte sie sich um, sprach ein paar Worte rückwärts und zog die Leine an. Die Araber standen, und Andree blieb gleichfalls stehen und sah sich die Scene an.

Auf dem Rücksitz des Wagens, der wie ein Vogelkäfig an breiten Riemen in der Luft hing, balancierte ein Negerknabe, kohlrabenschwarz, mit wulstigen Lippen und einer kolossalen Wucht wirrer Kraushaare, auf denen ein kleiner, brennendrother Fez saß. Gewiß besaß der Junge auch herrliche Zähne, die zeigte er aber jetzt nicht – seine weit vorliegenden dunklen Augensterne, die in glänzendem Blauweiß schwammen, blickten blöde und traurig zugleich um sich, und seine Herrin mußte zweimal zu ihm sprechen und lebhafte Gebärden machen, ehe er sie verstand und von seinem luftigen Sitze herab auf die Straße sprang.

Andree bemerke, daß er nicht der einzige war, der stehen blieb oder langsamer ging, um das Gefährt zu betrachten – vielmehr nicht dieses selbst, denn bizarre Wagen und schöne Pferde und vollends Neger gab es übergenug in Hamburg zu sehen, darum brauchte man sich nicht aufzuhalten. Aber die Rosselenkerin! Nein, gottlob, die Schönheit war noch nicht ausgestorben in der Welt, die Natur fand immer noch Lust und Gelegenheit, sie zu schaffen. Wie üppig war diese frei und scheinbar ganz kunstlos herabrollende Lockenpracht vom schönsten Tizianischen Rothbraun, das man sich denken konnte! Die Sonnenstrahlen nisteten sich darin ein und trieben ein wundervolles Spiel mit goldigen, braunen und metallisch rothen Lichtern, es leuchtete förmlich um das kleine rosigweiße Gesicht mit den zarten Zügen und den lächelnden Lippen. Lange dunkle Wimpern und Brauen schienen sich mühen zu wollen, die Augen zu verstecken, aber das war umsonst – groß aufgeschlagen und strahlend blau sahen sie in die Welt hinein. Das Reizvollste an dem entzückenden Geschöpf war die völlige Unbefangenheit, mit der es sich benahm. Nicht als befinde es sich mitten auf der belebtesten Promenade einer Großstadt, angestaunt und begafft von vielen, sondern so zwanglos, als sei es allein und unbeachtet, rückte sich das schöne Mädchen auf seinem Sitz zurecht, tastete mit der Rechten nach dem dunkelblauen Sammetmützchen, das sich bei der Fahrt ein wenig verschoben haben mochte, und blickte über die Menschen weg, als wären sie leere Luft, dem Negerknaben nach, der im Begriff war, seinen Auftrag auszurichten. Ein schönes verwöhntes Mädchen nimmt es als etwas Natürliches an, daß ihm die Welt gehört mitsammt dem pflichtschuldigen Tribut von Anbetung und Erstaunen, daher hält es sich nicht weiter damit auf, geschmeichelt zu lächeln oder triumphierend umherzublicken – es weiß genau, wieviel es auch ohne das erreicht!

Andree fühlte sein Herz so heftig schlagen, daß es ihm die Kehle mit hartem Druck zusammenpreßte: er hatte Werner Troosts Braut gefunden und zugleich sein Ideal – nicht das seines Mannesherzens, wohl aber das seiner begeisterungsvollen Künstlerseele! Ob das eine das andere nach sich zog?

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_636.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2023)