Seite:Die Gartenlaube (1891) 647.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Blätter und Blüthen.

Napoleons Flucht durch Leipzig 1813. (Zu dem Bilde S. 632 u. 633.) Der entscheidende Sieg über die französische Macht, den Theodor Körner mit freudiger Hoffnung geahnt und in hellen Liedern besungen hatte, aber selbst nicht mehr schauen durfte – er war errungen, die Heere der Verbündeten hatten in der gewaltigen Völkerschlacht bei Leipzig den Korsen geworfen. Der einzige Weg zur Flucht für Napoleon und seine Armee ging durch Leipzig. Aber schon war ihnen auch hier der Feind auf den Fersen: die Russen unter Langeron und Sacken hatten die Hallesche Vorstadt, Bülow die Grimmaische erobert; hier drang zuerst das Königsberger Landwehrbataillan unter Friccius in die Stadt ein; das Petersthor im Süden wurde von Bennigsen besetzt. Nur der Ranstädter Steinweg und die Straße nach Frankfurt waren noch frei, und es galt für Napoleon, diese Straße und damit die Rückzugslinie zu gewinnen.

Das Bild von Professor Louis Braun zeigt uns, wie sich der verworrene Heeresknäuel in haltloser Flucht durch die Burgstraße wälzt: diese ist getreu dargestellt in ihrem damaligen Aussehen; der hohe Thurm der Thomaskirche erhebt sich im Hintergrunde und blickt auf dies wüste Bild der versprengten Truppenmassen herab. Soldaten aller Waffengattungen drängen sich durcheinander, in ihrer Mitte, mit fortgerissen von der stürmischen Fluth, der Kaiser selbst auf seinem Schimmel, nur von einem Adjutanten und dem bekannten Mameluken begleitet.

Das Schlachtenglück hat sich gegen ihn erklärt, sein Stern ist im Sinken. Die sonst marmornen Züge tragen den Ausdruck tiefster Niedergeschlagenheit – es spiegelt sich in ihnen die Ahnung, daß die Weltherrschaft verloren sei. Und wie machtlos ist der Wille des Gewaltigen selbst dem Nächsten gegenüber! Er kann die Flucht nicht hemmen, niemand würde auf seinen Ruf hören, nicht die dahinstürmenden Reiter, die sich den Weg mitten durchs Fußvolk bahnen trotz der abwehrenden Zeichen ihrer Kameraden, nicht die frechen Marodeurs, welche die Häuser plündern und alles, was sie in der Eile erraffen können, hinausschleppen auf die Bagagewagen. Vergeblich fleht ein knieendes Weib die Einbrecher um Schonung an. Und zu all dem rings auf den Straßen Verwundete und Sterbende, in steter Gefahr von dem vorüberbrausenden Troß der Reiter und Wagen zerstampft und überfahren zu werden; kaum daß da und dort einer von mitleidigen Kameraden fortgeschleppt wird. Gegen den Kaiser, den Urheber dieses Unglücks, erheben sich unter wilden Drohungen geballte Fäuste; ihm voraus schreiten zum Schutz noch einige Kernsoldaten, unter ihnen ein leichtverwundeter Fahnenträger, der das ihm anvertraute Gut mit tapferer Faust aus der Schlacht gerettet hat.

So ging es damals auf einem Umweg dem Ranstädter Steinweg zu, der auf die Frankfurter Landstraße führt. Aber ehe die fliehende Menge das freie Feld erreichte, mußte sie noch die Elsterbrücke vor dem Ranstädter Thor passieren, und als diese aus Versehen zu früh in die Luft gesprengt wurde, um den nachrückenden Verfolgern den Weg abzuschneiden, da fanden noch kurz vor der nahen Rettung Hunderte ihren Untergang.

Wie groß der Sieg der Verbündeten, wie groß die Niederlage der Franzosen war, das zeigt uns dies Bild einer Flucht, welche das eisern zusammengeschmiedete Heer des früheren Weltbesiegers in grenzenloser Auflösung aus dem Herzen Deutschlands hinwegführte. †      


Ansicht von Kollmann nach der Ueberschwemmung.
Nach einer Photographie von J. Gugler in Bozen.


Im Sommer von 1813. (Zu dem Bilde S. 641.) Die Sonne des Spätsommers scheint freundlich durch das Laub der Apfelbäume auf das Kaffeeplätzchen an der schützenden Hauswand und das goldgeränderte Porzellangeschirr auf dem Tische zwischen den vier Darumsitzenden. Aber nur das jüngste darunter genießt voll Unbefangenheit den schönen Spielnachmittag und die seltene Kostbarkeit eines Täßchens Kaffee. Die andern sitzen in schweren Gedanken, denn man schreibt 1813 und an der bevorstehenden großen Entscheidung hängt nicht nur des Vaterlandes Rettung, sondern auch das Lebensglück der jungen Frau, welche der Gatte im Frühling herbrachte zu den Eltern in das stille Rheinstädtchen und dann abschiednehmend sammt dem Kinde ans Herz drückte, ehe er dem Rufe seines Königs folgte. Der Himmel hat ihn beschützt in den ersten ungünstigen Gefechten, davon erzählen seine Briefe, er hat mit allen Patrioten vor einem elenden Frieden gezittert und ist, als dieser nicht mehr drohte, voll Begeisterung unter Blüchers Fahnen zum Entscheidungskampf aufgebrochen. Aber nun? Lange Wochen ohne Nachricht sind vergangen, man hört nur, der gewaltige Franzosenkaiser ziehe nach Schlesien heran; dort müssen große Schlachten erfolgen, vielleicht schon erfolgt sein. Lebt der Vater des Kindes noch? … Sorgenvoll ruhen die Augen des Großvaters auf dem kleinen Blondkopfe: er mag nicht aussprechen, was seine Seele bewegt, was er allen, besonders auch den ängstlichen Frauen verbirgt.

Und währenddem ist der glorreiche Sieg an der Katzbach schon erstritten, der größere von Leipzig wird nachfolgen, und vielleicht ehe die Blätter völlig gefallen sind, stürmt der Ersehnte dort zum Pförtchen herein, das Eiserne Kreuz auf der Brust, um Weib und Kind voll Glücksjubel zu umarmen.

Das Unglück im Eisackthal. Wo an der Bahnlinie Bozen-Innsbruck das berühmte Grödnerthal in das des Eisack einmündet, liegt am rechten Ufer des Eisack das Dörfchen Kollmann inmitten einer Umgebung, die ebenso reich ist an landschaftlicher Schönheit als anziehend durch ihre geschichtlichen Erinnerungen. Denn gegenüber am jenseitigen Ufer erhebt sich über der Station Waidbruck in herrlicher Lage die stolze Trostburg, die Heimath des „letzten Minnesängers“, Oswald von Wolkenstein; und wo unfern davon das erhöhte Gelände des Laiener Rieds sich ausdehnt, geschmückt von windumrauschten Linden und Edelkastanien, da leuchtet aus dem üppigen Baumgrün der „Vogelweiderhof“ hervor, vermuthlich die Geburtsstätte Herrn Walters von der Vogelweide.

Dieses stille Thal war in der Nacht vom 17. zum 18. August der Schauplatz eines übermächtigen Naturereignisses, dem ein großer Theil von Kollmann zum Opfer fiel. Mitten durch das Dörfchen führt der Ganderbach seine Wellen dem Eisack zu; in jener Nacht nun ging ein furchtbarer Wolkenbruch über dem Ritten nieder, unter der Wucht der herabstürzenden Regengüsse löste sich oberhalb im Ganderbachthal vom Rittenerberg eine steile Lehne los und legte sich quer in den mächtig angeschwollenen Bach, sodaß anfangs der Abfluß fast ganz unterbrochen war. Da mit einem Mal durchbrachen die aufgestauten Wassermassen das Hinderniß und stürzten mit vernichtender Gewalt thalabwärts, unter solchem Getöse, daß man in den Bauernhöfen rings das Beben der Erde spürte; die Felsblöcke, welche der entfesselte Strom daherwälzte, sprühten Funken beim gegenseitigen heftigen Anprall. Im Lauf weniger Minuten hatte die „Muhre“ einen Theil des Dorfes überschüttet, einige Mühlen und 14 Wohnhäuser sind von Grund aus zerstört, die Insassen unter den Trümmern begraben oder mit den Wellen fortgerissen. 39 Menschenleben forderte die Katastrophe. Zugleich wurde durch die ebenfalls aufgestauten Fluthen des Eisack, die sich seitwärts am Berg einen gewaltsamen Ausweg suchten, der Damm der Südbahn in einer Länge von 700 bis 800 Metern zerstört und der Verkehr in empfindlicher Weise unterbrochen.

Das Unglück im Eisackthale hat nicht nur im ganzen Land Tirol, sondern auch weiter hinaus eine schmerzliche Bewegung wachgerufen, und überall regte sich thatkräftige Hilfe. Der Kaiser Franz Joseph spendete sofort 2000 Gulden, andere namhafte Beiträge schlossen sich an. Allein wenn auch so der unmittelbaren äußeren Noth gesteuert werden konnte – das Leid, das über so viele Familien hereingebrochen ist durch den Verlust ihrer Angehörigen, geht tiefer und wird nicht rasch überwunden werden. Möge wenigstens die Theilnahme, die man ihrem Schmerze allenthalben entgegenbringt, einen freundlichen Schein in ihre Trauer werfen. Ph. J. A.     

Aus dem Künstlerinnenverein in München. Die „Kunstfrage“ genießt eine Ausnahmestellung unter den Streitpunkten in der Frauenbewegung, zahlreiche gute Leistungen von weiblicher Hand haben hier

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_647.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2023)