Seite:Die Gartenlaube (1891) 694.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Zu Rudolf Virchows siebzigstem Geburtstag.

Mit Bildniß S. 693.

Am 13. Oktober 1821 wurde Rudolf Virchow zu Schivelbein in Hinterpommern geboren. Man darf sich getrost zu den Gebildeten zählen, ohne von dem kleinen freundlichen Landstädtchen mehr als den Inhalt des obenstehenden Satzes zu kennen, und darf deshalb einem Ortskundigen verzeihen, wenn er hinzufügt, daß Schivelbein weder am Meeresgestade noch am Fuße romantischer Höhenzüge, sondern in flacher Ebene gelegen ist, daß daselbst in geschichtlicher Zeit niemals entscheidende Schlachten geschlagen wurden und daß aus vorgeschichtlichen Zeiten keine Sage von Riesen oder Berggeistern und ihren Wunderthaten an dieser Stätte zu berichten weiß. Als Geburtsort für Dichter oder Künstler dürfte Schivelbein daher recht ungeeignet erscheinen, dagegen paßt es mit seiner schlichten Umgebung gut zur Vaterstadt eines Mannes, welcher sein Leben in den Dienst der Wissenschaft und des Volkswohles gestellt hat. Denn auf diesen beiden Gebieten wird im 19. Jahrhundert niemand ein großer Mann, der die Welt nur mit dem begeisterten Auge des Dichters schaut und Menschen und Dinge betrachtet, wie sie sein könnten, sondern bloß der, welcher ruhig, kühl und mit heiligem Ernste prüft, wie sie thatsächlich sind – und Rudolf Virchow ist ein großer Mann geworden; ich darf dafür einen geistig Großen dieses Jahrhunderts als Zeugen anführen, den Fürsten Bismarck, der trotz seiner tiefen politischen Gegnerschaft Virchow einen Mann nannte, auf den das deutsche Vaterland stolz sein dürfe. Diese Anerkennung aus diesem Munde konnte naturgemäß nur dem Gelehrten gelten, denn über die Wege, welche zur Sicherung des Staates, zur Vertheilung von Rechten und Pflichten im Volke und zur Begründung der Volkswohlfahrt einzuschlagen seien, haben sich diese beiden Männer niemals geeinigt.

Wer aber verstehen will, welche Gaben den Sohn des Schivelbeiner Syndikus befähigt haben, eine solche Anerkennung zu verdienen und eine Bedeutung zu gewinnen, welche jeden Ruhm überragt, den ein deutscher Professor der Medizin jemals erworben hat, der muß nicht etwa die Schulzeugnisse des fleißigen sprachgewandten Knaben mit dem bewundernswerthen Gedächtniß studieren, um die Quelle für diese Sonderstellung aufzuschließen, sondern er muß das Buch der Zeiten befragen, die Gestirne am Himmel der engeren Wissenschaft erforschen, welche das Horoskop des jungen Gelehrten bestimmt haben. Dann wird er erfahren, daß das Geburtsjahr Virchows, 1821, noch dem dunklen, gewissermaßen mittelalterlichen Zeitabschnitt der Medizin angehörte, daß sich aber gegen das Jahr 1839 hin unter dem Dreigestirn Johannes Müller, Theodor Schwann und Matthias Jakob Schleiden der Anbruch einer neuen Zeit vorbereitete, welche einem reichbegabten, hochstrebenden und zugleich äußerst skeptisch veranlagten Geiste ungewöhnliche Früchte verheißen konnte. In diesen beginnenden Umschwung fielen die Studienjahre Virchows, als Student erlebte er den Aufgang der wissenschaftlichen Medizin, er sah mit eigenen Augen, wie aus dem Nebel tausendjähriger dogmatischer Zunftweisheit, aus naturphilosophischer Tüftelei und blindem Autoritätenglauben sich ein Kern guter, methodisch gewonnener und zuverlässig begründeter Beobachtungen auf dem Gebiete der Botanik und der Anatomie zu einer Theorie verdichtete, welche alsbald der erstaunten Zopfwelt zeigte, daß die Heilkunde einen Theil der Naturwissenschaft bilde, daß nur derjenige berufen sei, in der Heilwissenschaft das Wort zu führen, der zu beobachten, zu vergleichen, zu sichten und Gesehenes zu deuten gelernt habe.

Die Aerzte des 18. Jahrhunderts stritten sich um die Auslegung Galenscher Schriften, sie lernten die geheimnißvollen Naturanschauungen des Paracelsus, sie hielten vor allem an der Hippokratischen Lehre fest, daß im menschlichen Körper vier Säfte (humores) vorhanden seien, welche einander das Gleichgewicht halten sollten: das Blut (sanguis), der Schleim (phlegma), die Galle (cholè), die schwarze Galle (melas cholè), und sie glaubten, daß das Ueberwiegen eines dieser Grundsäfte je nachdem in dem sanguinischen, phlegmatischen, cholerischen oder melancholischen Temperament zum Ausdruck gelange. Die Gesundheit stelle die richtige Mischung (eukrasia) dar, die Krankheiten seien aus einer fehlerhaften Säftemischung (dyskrasia) zu erklären. Diese, „Humoralpathologie“ benannte Auffassung vom Wesen der Krankheiten beherrschte noch in den dreißiger Jahren die Medizin; von der Zusammensetzung und dem Verhalten der einzelnen Körpergewebe bei Krankheitszuständen besaß man nur außerordentlich dürftige Kenntnisse. In jene Zeit fallen nun die Entdeckungen von Schleiden und Schwann, welche die Zelle als die – einstweilen – kleinste lebende Einheit im Pflanzen- und Thierkörper erkannten; bald folgte die Anwendung dieser Lehre auf die Anatomie und Physiologie des menschlichen Organismus durch Johannes Müller.

Unter den begeisterten Schülern dieses großen Meisters saß in jenen denkwürdigen Jahren der junge Rudolf Virchow, und er ist es in der Folge gewesen, welcher die neue Kunde vom zelligen Aufbau normaler und krankhaft veränderter Organe zu ihrer höchsten Ausbildung erhoben hat. Nicht mehr die Säfte des Hippokrates, sondern die Zellen wurden von jetzt an als die Herde des Lebens betrachtet, aus ihnen setzen sich das Bindegewebe, Fett und Muskeln, Knorpel, Knochen, Drüsen, Blutgefäße, ja Gehirn, Rückenmark und Nerven zusammen, und diese Kenntniß vom normalen Bau der Körpertheile hat durch Virchow eine überaus fruchtbringende Bereicherung erfahren.

Sein eigentliches Feld aber wurde die Pathologie; er erforschte die Krankheiten auf Grund der Veränderungen, welche die erkrankten Organe und die sie bildenden Zellengruppen aufweisen, er erkannte, daß auch im Krankheitszustande die Zellen leben, sich ernähren und vermehren, daß jedoch diese Ernährung entweder abnorm gesteigert oder herabgesetzt ist. Im ersten Falle bilden die Zellen krankhafte Stoffwechselprodukte, entzündliche Anschwellungen mannigfacher Art oder Wucherungen, deren höchsten Grad die bösartigen Gewächse darstellen; im zweiten Falle gehen Theile der Organe vorübergehend oder dauernd verloren, die Thätigkeit wird gestört, bei lebenswichtigen Organen wie beim Gehirn kann selbst eine nur minutenlange Ernährungsstörung den Tod herbeiführen. Es ist heute fast in Vergessenheit geraten, daß auch die Entstehung der krebsigen Gewächse früher als eine Abscheidung schädlicher Säfte vom Blute her angesehen wurde, und daß erst Virchow gezeigt hat, jeder Krebs sei zuerst nur eine örtliche Wucherung von Zellen und man könne diesen Krankheitsherd entfernen, ja müsse ihn so frühzeitig als möglich entfernen, bevor die Wucherung sich ausbreite und den Kräfteverfall herbeiführe, welchen man noch heute mit „Krebsdyskrasie“ bezeichnet. Wenn also heute bei Tausenden von Krebskranken mit glücklichem Erfolge das Gewächs frühzeitig entfernt wird, so sind diese Heilungen ein Gewinn Virchowscher Gedanken, welche er nicht ohne erbitterte Kämpfe zum Gemeingut aller Aerzte gemacht hat.

Früher gab es eine Dyskrasie, die Wassersucht, welche auf krankhafter Zunahme des Schleimes (phlegma) beruhen sollte; Virchow wies nach, daß auch dieser Dyskrasie örtliche Ernährungsstörungen in den Nieren, in Herz oder Leber zu Grunde liegen, und daß jede Dyskrasie nicht als die Ursache, sondern erst als die Folge irgendwelcher Zellenerkrankungen und der Aufnahme krankhafter Stoffwechselerzeugnisse in die Blutbahn zu betrachten sei. Dies die Grundzüge der Virchowschen „Cellularpathologie“, der Siegerin über die Traditionen des Alterthums; sie beruht auf naturwissenschaftlicher Beobachtung, die Humoralpathologie auf deduktiv gewonnenen Dogmen.

Diese ungeahnte Erweiterung der medizinischen Kenntnisse hatte nun schon in ihren Anfängen die Folge, daß die bestehenden bescheidenen Prosekturen der Kliniken sehr bald in selbständige Lehrstühle der von Virchow in Berlin vertretenen pathologischen Anatomie und ihrer abstrakten Darstellung, der allgemeinen Pathologie, verwandelt wurden. Virchow selbst wurde 1849 nach Würzburg zu einer solchen Professur berufen, er fand begeisterte Hörer und Schüler, und schon hier, besonders aber als er 1856 nach Berlin zurückgekehrt war, wurde er die Seele einer Schule, aus welcher eine Reihe von akademischen Lehrern in den verschiedensten Gebieten der Medizin hervorgegangen ist.

Alles dies erklärt indessen noch nicht die außerordentliche Volksthümlichkeit des gefeierten Pathologen. Die Thätigkeit des pathologischen Anatomen an deutschen Hochschulen bringt es mit

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_694.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)