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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

sich, daß er Krankheits- und Todesfälle jeder Art beurtheilen muß, daß er heute mit dem Lehrer der inneren Medizin über Herz- und Lungenkrankheiten, morgen mit dem Chirurgen über die Folgen schwerer Knochenbrüche verhandelt, daß er über Wochenbettfieber und seine Ausgänge, über Geisteskrankheiten, Vergiftungen und gewaltsame Todesarten jeder Art unterrichtet sein muß. Zu einer Zeit nun, wo alle diese Fächer erst mit einem wissenschaftlichen Inhalt gefüllt werden sollten, wo es keine Spezialärzte und keine Fachlitteratur im heutigen Sinne gab, da brachte jeder Tag neue Entdeckungen; es mußte eine Zeitschrift (Virchows „Archiv“) begründet werden, um alle Beobachtungen zu sammeln, in der medizinischen und geburtshilflichen Gesellschaft in Berlin mußten die neuen Lehren gegen die alten Vorurtheile unter Vorlegung der Beweismittel vertheidigt werden, und so wurde Virchow der Lehrer – nicht nur der heranwachsenden Generation, sondern aller zur Zeit am wissenschaftlichen Leben betheiligten Aerzte überhaupt. Erst in den nächsten zwei Jahrzehnten nach 1856 ist die Abtrennung der medizinischen Spezialfächer zu ihrer heute erreichten Vollendung gediehen, die reiche wissenschaftliche Ausbildung jedes dieser Fächer ruht aber noch heute auf den Grundlagen, welche Virchow geschaffen hat, er ist der geistige Mittelpunkt geblieben, um welchen sich alle Vertreter der einzelnen Disciplinen willig gruppiert haben, er hat unausgesetzt die deutschen Aerzte angeregt, ihre Beobachtungen zu verwerthen und mitzuarbeiten an dem großen Werke der Wissenschaft, das doch in letzter Linie bestimmt ist, Menschenwohl und Menschenliebe zu fördern.

An dieser hohen Aufgabe mitzuwirken, haben alle Menschen das Recht, und Rudolf Virchow hielt sich nicht für so erhaben, um sich gegen die weiten Kreise der Laien abzuschließen; er eröffnete durch seine im Verein mit Holtzendorff herausgegebene Sammlung populärer Vorträge einem jeden die Möglichkeit, in das neue Reich des Geistes einzuziehen und den Aberglauben vergangener Kulturperioden für sich zu besiegen. Darin liegt das Geheimniß, daß überall im deutschen Volke Rudolf Virchow gekannt ist: er hat für die populäre Belehrung bahnbrechend gewirkt, und wenn auch mancher Beitrag über medizinische Fragen, der heute in den Tagesblättern erscheint, eine etwas rußende Fackel ist, so leuchtet sie doch immerhin, und wir dürfen nicht anstehen, den Fortschritt, welchen die allgemeine Antheilnahme an der Gesundheitspflege unter der Einwirkung Virchows genommen hat, als einen geradezu gewaltigen schon jetzt mit Dankbarkeit anzuerkennen.

Im engsten Zusammenhange mit dieser weit umfassenden Thätigkeit auf dem Gebiete der Pathologie steht das so oft verkannte Bestreben Virchows, seine Erfahrungen auch praktisch dem allgemeinen Wohle nutzbar zu machen. Seine Untersuchungen über den Hungertyphus in Oberschlesien, über die Noth im Spessart, über die Choleraepidemien, über Kriegstyphus, Diphtheritis, Pocken, seine Sterblichkeitsstatistik, seine Arbeiten über Krankenhäuser, Kriegsheilkunde, über Städtereinigung, Abfuhrwesen und Kanalisation, über Schulhygieine, gerichtliche Medizin, über Trichinen und andere Thierkrankheiten – das alles legt ein beredtes Zeugniß dafür ab, daß auf dem Gebiete der praktischen Gesundheitspflege kein Gelehrter von gleich umfassender und gleich fruchtbarer Thätigkeit unter den Lebenden weilt. Die großen wissenschaftlichen Verbesserungen, welche im preußischen Sanitätscorps zur Durchführung gelangt sind, haben an Virchow immer eine Stütze und Förderung und auf dem X. Internationalen ärztlichen Kongreß eine aufrichtige Bewunderung erfahren; die hervorragendsten Vertreter der vergleichenden Pathologie, die Lehrer der Thierarzneikunde sind großentheils bei ihm in die Schule gegangen. Wer sich aber in die erwähnten Arbeiten aus diesen praktischen Gebieten vertieft, der begreift erst, was den über alles Maß beschäftigten Mann reizen konnte, fortdauernd als Stadtverordneter an der Ausführung der Berliner öffentlichen Bauten am Friedrichshain, in Dalldorf, am Urban, an den Arbeiten über Wasserversorgung und Kanalisation theilzunehmen, denn diese Thätigkeit gab immer wieder die neuen Anregungen zu weiteren Untersuchungen, zur Erschließung neuer Forschungsgebiete, und sie gab jenen Lohn, ohne welchen der glühendste Ehrgeiz schließlich verglimmen muß: den Erfolg – einen Erfolg nicht in Gold und äußeren Ehren, sondern in dem erhebenden Gefühl, für das Wohl der Mitbürger etwas vorwärts gebracht zu haben.

Nach anderem Lohn hat Rudolf Virchow nie getrachtet; er hat sich einem Forschungsgebiete zugewandt, welches keine Schätze verleiht; er hat seine Nächte den Arbeiten der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen und anderen Aemtern gewidmet, nicht um hohe Gunst und die sonst üblichen Rangerhöhungen zu erwerben, denn deren bedarf er nicht. Er hat eine Arbeitskraft, welche vielleicht für sich allein die durchschnittliche Leistungsfähigkeit eines wissenschaftlichen Forschers repräsentiert, auf Schädelmessungen und Studien über die Menschen und Völker der vorgeschichtlichen Zeit verwendet, ohne etwas anderes zu erstreben als das stolze Bewußtsein, auch auf diesem Wissensgebiete der deutschen Geistesarbeit unter den Kulturvölkern Anerkennung erworben zu haben.

Selbstlos und prunklos ist Virchow durch ein arbeitsvolles Leben gegangen, stets bereit, im Kampfe für Wahrheit und Recht gegen jeden seine ehrliche Ueberzeugung zu vertheidigen, bereit aber auch, einen Irrthum freimüthig zuzugestehen.

Virchow hat oftmals den menschlichen Körper mit einem Staate verglichen, in welchem die Zellen die einzelnen Staatsangehörigen sind, welche sich zu gemeinsamem Wirken in Organe und Systeme vereinigen, welche alle dem einen Zwecke, der Erhaltung und höheren Vervollkommnung der Gesammtheit, dienstbar sind, welche aber innerhalb dieser Pflichten einen breiten Spielraum für ihre eigene Freiheit und Unabhängigkeit beanspruchen dürfen.

Von diesem Gesichtspunkte aus ist Virchow als Mann, als Gelehrter und als Volksvertreter zu beurtheilen; er ist seinen Verbindlichkeiten gegen die Gesammtheit mit einer vorbildlichen Pflichttreue nachgekommen; er hat ein Leben als Volksanwalt hinter sich, an dem auf lichtem Grunde kein Fleckchen haftet.

Wer aber das Glück gehabt hat, diesen Mann in seinem Heim oder als Lehrer und Freund in gemeinsamer Arbeit schätzen und lieben zu lernen, der hat erfahren: er ist nicht nur ein großer, sondern ein echter deutscher Mann, ein Mann, von dem man versucht sein könnte mit dem Dichter zu sagen:

„So ringt sich aus der Menschheit Schoß
Jahrhundertlang kaum einer los.“

Paul Grawitz.     




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Die Namenlosen.

Von Hermine Villinger.0 Illustriert von W. Hasemann.

Das Gehöft lag ungefähr eine Stunde oberhalb der kleinen Ortschaft, auf freier Hochebene, wo die Frucht nur noch in kurzen Halmen gedieh und die Kartoffeln nie über den Zustand der Käsigkeit hinauskamen. Aber die beiden Kinder, welche im Schatten einer mächtigen Buche ihr Wesen trieben, machten mit ihren sonnverbrannten Gesichtchen und rundlichen Händchen den Eindruck vollkommensten Gedeihens.

„Weißt,“ meinte das schlankere und zierlichere der beiden ganz gleich großen Mädchen, „weißt, Podenzl, jetzt bauen mir die Schul’ –“

„Aber mir haben ja zuerst ’s Ort bauen wollen, Podagratzl,“ sagte die Angeredete, mit dem Ausdruck kummervoller Bedächtigkeit die Händchen über den runden Magen faltend.

„Nein, zuerst kommt die Schul’,“ ereiferte sich Podagratzl, „und dann bin ich der Herr Lehrer; aber dazu muß ich den Dreck nasser haben – lauf’ Podenzl und hol’ mir ein bißle Wasser!“

Das Podenzl besann sich einen Augenblick, dann ging es mit seinem Blechgeschirr zum nahen Brunnen, das Verlangte zu holen; langsam und nachdenklich kam’s mit dem Wasser zurück.

„Weißt was jetzt,“ rief ihr Podagratzl schon von weitem entgegen, „jetzt bau’ ich die Kirch’, und dazu brauch’ ich einen Haufen Stein’ –“

„Aber Podagratzl,“ greinte Podenzl, „du hast doch wollen die Schul’ bauen.“

„Ja, aber die Kirch’ ist schöner, geh’, hol’ mir die Stein’ zusammen, Podenzl, ’s pressiert.“

Podenzl schaute betrübt über die Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen in das Blechschüsselchen, leerte dessen Inhalt mit einem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_695.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)