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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

den Boden berührte, so ließen sie sich nach kurzer Zeit los, und jedes wandelte in seinem eigenen Tempo den leise sich neigenden Berg hinab.

Plötzlich flog über den Weg ein Schmetterling, auf dessen Flügel die untergehende Sonne einen glänzenden Schimmer warf. Den Sommervogel sehen und ihm nachsetzen, war für Podagratzl das Werk eines Augenblicks, während Podenzl am Wege stehen blieb und über die Verzögerung der wichtigen Angelegenheit sich tief unglücklich fühlte. All ihr Rufen und Warnen half nichts, das leichtsinnige Podagratzl war im tollsten Zickzacklauf hinter dem Schmetterling her, schrie und jubelte und konnte nicht genug kriegen, bis es mit einem Mal strauchelte und auf der Erde lag. Nun kam das bedächtige Podenzl angewackelt; die Hände über dem Magen, pflanzte es sich vor der schreienden Schwester auf.

„So, da hast Du’s, warum bist Du so dumm – ja, was mir für eine Noth haben mit Dir. Jetzt mach’ und steh’ auf, sonst sind mir noch nit daheim mit dem Kirchenbuch, bis die Mutter kommt.“

Da schnellte Podagratzl in die Höhe. „Jesus, das hab’ ich ganz vergessen!“

Und nun ging’s für eine Weile in schönster Eintracht weiter, bis plötzlich Podagratzl eine große wurmstichige Kartoffel entdeckte.

„O schau, Podenzl, dem machen wir einen Leib und eine Nas’, dann haben mir ein Püpple, gelt, Du gehst und holst mir das Holz dort, wann ich recht schön bitt’?“

Aber Podenzl rührte sich nicht von der Stelle, sondern nagte in stillem Groll an der Unterlippe, wohl wissend, daß es gegen die Einfälle der Schwester nicht aufzukommen vermochte.

Podagratzl wartete ihre Willfährigkeit nicht ab, holte selbst herbei, was sie für ihre Zwecke nöthig hatte und ging mit großem Eifer an die Herstellung ihrer Puppe. Hierauf schlug sie mit dem Ausdruck stiller Seligkeit ihr kurzes Unterröckchen um die traurige Gestalt, die unter ihren Händen entstanden war, und wiegte sie zärtlich hin und her.

„Ei ja“, frohlockte sie, „jetzt habe ich ein gar schön’s Püpple.“

„Nein“, sagte das unglückselige Podenzl, „es ist kein schön’s.“

Da flog ihr die Kartoffelpuppe an den Kopf, und im nächsten Augenblick gab’s ein großes Geschrei, Gezause und Gebalge, dann wollte jedes in anderer Richtung zur Mutter heim.

„So, so,“ schluchzte Podenzl, „und jetzt kriegt sie auch ’s Kirchenbuch nit, und das geschieht Dir recht!“

Podagratzl war wie aus den Wolken gefallen.

„Und doch kriegt sie’s“, erklärte sie, packte Podenzl herrisch bei der Hand, und nun ging es im Galopp den Berg vollends hinab.

Inzwischen war der Vollmond am Himmel erschienen, es dunkelte stark, und im Dörflein war weder ein Huhn noch ein Mensch mehr unterwegs; nicht einmal in dem der Kirche gegenüber liegenden Spittelhaus brannte noch ein Licht. Nur der alte, im Ruhestand und im Spittel lebende Gemeindediener Peter Schnell, der seiner Gichtschmerzen wegen nicht schlafen konnte, war noch auf, lag mit der Tabakspfeife unter dem Fenster und ließ sein kahles Haupt vom Mond bespiegeln. Der alte Mann sah gerade in eines der Kirchenfenster, das offen stand und in das der Mond einen silbernen Streifen sandte. Mit einem Male wurden die Augen Peter Schnells um ein Gehöriges größer, er nahm die Pfeife aus dem Mund und streckte sich, so weit es ging, aus dem Fenster.

„Heiliges Kreuz!“ murmelte er, „da drin regt sich was!“

Er rieb sich die Augen und blickte wieder hin.

„Freilich regt sich was – heiliges Kreuz!“

Jetzt hing er die Pfeife an einen Nagel, stülpte sich eine Zipfelkappe über die Ohren und holte seinen Rock aus der Ecke. Dort hinten standen zwei Betten, und in einem schnarchte einer.

„Du, Birzel!“ schrie ihn der Gemeindediener an, „steh’ mal auf!“

Der also Angerufene schnarchte ruhig weiter.

„Heiliges Kreuz, aufstehen sollst!“ schimpfte Peter und nahm seinen Stock zu Hilfe. Darauf hin hörte das Schnarchen auf, Birzel erwachte und ließ sich verständigen. Nachdem er sich angekleidet hatte, hampelten die beiden auf die Gasse.

Die Hilfe, die sich der gichtbrüchige Gemeindediener geholt hatte, bestand aus einem kurzen, runden, einarmigen Mann, der an Athemnoth litt.

„Wenn ein Kerl in der Kirch ist, den will ich gleich haben“, erklärte dieser, „nur gesehen muß ich ihn haben – da stell Dich einmal vors Fenster, Peter, und halte Dich fest, ich steige Dir schnell auf die Schulter.“

Als das dem Birzel nach einer längern, höchst mühseligen Turnerei gelungen war und er einen Blick ins Innere der Kirche gethan hatte, kam er nicht eben sanft und mit dem erstauntesten Gesicht auf den Erdboden herab.

„Nun, hast Du’s gesehen?“ fragte Peter Schnell und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich werd’s nit gesehen haben!“ entgegnete Birzel. „Was das aber ist, das ist kein gewöhnlicher Mensch, sag’ ich Dir, das geht ja hoch über den Altar ’naus und hat einen Kopf wie ein gespaltener Kürbis; mit so einem bandl’ ich nit an, ja, wenn’s einer wär’ wie ich oder Du – aber so nit.“

Da standen sie und kratzten sich hinter den Ohren.

„Wenn wir nit die einzigen Mannen im Spittel wären,“ meinte Peter, „so könnt’ man sich zusammenthun.“

„Das kann man doch“, erklärte Birzel, „indem man einfach die Weiber vorausschickt, denn wenn was passiert, für die ist’s kein Schaden.“

„Das ist richtig“, gab der Gemeindediener zu und schlug Lärm im Spittel.

Es dauerte nicht lange, da kam’s aus dem baufälligen Hause gehinkt und gewankt, und ein halbes Dutzend alter Weiber fragte und schrie durcheinander. In Zeit von einigen Minuten stand’s fest, in der Kirche spukten langmächtige Geister, die mit den Köpfen bis an den Thurm hinauf ragten, und sie hatten’s auf nichts weniger als auf das Opfergeld abgesehen. Als jedoch die zwei Mannen den Weibern zumutheten, den ersten Schritt in den Ort des Schreckens zu wagen, gab’s große Meinungsverschiedenheit. Sie standen, in schnell übergeworfenen Kleidern dicht aneinander gedrängt, vor der Kirchenpforte, redeten wirr durcheinander und gruselten sich über die Maßen.

Endlich sagte Peter Schnell:

„Es ist eine Schand und ein Spott, daß Ihr so wenig Korasch habt, ich will meinetwegen den Herrn Pfarrer wecken, aber Du mußt mitgehen, Birzel, allein thu’ ich’s nit.“

Birzel hatte nichts dagegen einzuwenden: kaum jedoch wankten die beiden Gestalten davon, als ihnen die Weiber laut schreiend nachgestürzt kamen – sie wollten nicht allein zurückbleiben, das könne kein Mensch von ihnen verlangen.

Und so zogen sie denn alle miteinander vors Pfarrhaus, klopften den hochwürdigen Herrn aus dem Schlaf und ließen ihm kaum Zeit zum Anziehen. Unter ihren Berichten wuchsen die Geister ins Unendliche. Der Geistliche zündete zwei Handleuchter an und schritt, diese vor sich hinhaltend, die Leute hinter sich, über die Gasse zur Kirche. Als er deren Thür öffnete, entstand für einen Augenblick eine Todesstille, dann drängte sich alles ihm nach ins Innere, und hier –!

„Ihr Esel!“ platzte der Pfarrherr los, denn vor ihm auf der Erde, den Kopf gegen die Altartreppe gelehnt, lag’s Podagratzl und schlief, während das ausdauernde Podenzl auf dem Altar selbst kniete, wo es sich bereits seit einer halben Stunde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 697. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_697.jpg&oldid=- (Version vom 24.9.2023)