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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Aehnliche große Dienste leistet die Photographie bei Entdeckung von Urkundenfälschungen, da die verschiedenen Tinten im Bilde je nach ihrer chemischen Zusammensetzung verschieden erscheinen. So war einmal ein Zeuge zum 21. eines Monats vor Gericht geladen; er hatte die Frist versäumt und dann, um der kleinen Geldstrafe zu entgehen, aus der 1 eine 4 gemacht; die Photographie wies ihm seine „Verbesserung“ nach, und er erhielt wegen Urkundenfälschung eine Gefängnißstrafe. Auch Radierungen treten in der vergrößerten photographischen Abbildung deutlich hervor, welche so die Entlarvung manches klug angelegten Betruges zur Folge gehabt hat.

Doch nun zum Verbrecheralbum! Auf seine Einrichtung und seinen Umfang darf die Berliner Kriminalpolizei mit vollem Recht stolz sein, denn es hat sich in unzähligen Fällen als ein unschätzbares Hilfsmittel erwiesen. Seine eigentliche Anlage verdankt es der Umsicht des Inspektors der Kriminalpolizei, des um letztere hochverdienten Herrn von Meerscheidt-Hüllessem, der sich 1876 für seine persönlichen Zwecke eine Sammlung von Photographien aller möglichen Verbrecher anlegte und diese rasch erweiterte, bis er sie zum Besten des Dienstes an die Polizei abtrat. Heute besteht das vielgerühmte „Verbrecheralbum“ aus zwölf dunkel eingebundenen Großfoliobänden und enthält insgesammt an achttausend Photographien, von dem mehrfachen Mörder an, bei welchem ein Kreuz auf einem Grabhügel seine Hinrichtung bedeutet, bis zu der zwölfjährigen Spitzbübin, die in einem Laden einige Meter Seidenband gestohlen. Die Eintheilung der Bände ist folgende: I. Mörder und Einbrecher. II. Taschendiebe. III. Laden- und Marktdiebe. IV. Schlafstellendiebe. V. Bauernfänger. VI. Hochstapler, Fälscher, Betrüger. VII. Boden-, Colli-, Paletot-, Billardball-, Gasarm- und Thürklinkendiebe. VIII. Verschiedene Verbrecher, die keine „Spezialität“ erwählt haben. IX. Dirnen, welche stehlen. X. Zuhälter. XI. Photographien von auswärts, Landstreicher. XII. Photographien internationaler Diebe und Betrüger.

Man sieht, eine nette Sammlung, mit deren einzelnen Typen wir uns später zu beschäftigen haben werden.

Jeder Photographie sind nähere Angaben über den Photographierten beigefügt: zunächst der Name, dann sein Körpermaß, weiter eine kurze Personalbeschreibung. Also zum Beispiel: „187. Friedrich Karl Schulze. 1,73. Haar schwarzbraun, Augen braun, Nase lang und schmal, Lippen aufgeworfen, Schnurrbart braun.“ Oder: „510. Ernst August Lehmann. 1,85. Haar dunkelblond, kraus, etwas meliert, Augen blaugrau, Nase gestülpt, Vollbart dunkelblond, Stirn links eine gezackte weiße Narbe, nach unten gebogen.“

Beim Photographieren für das Verbrecheralbum.

Die Durchsicht dieser Bände ist einerseits sehr fesselnd, andrerseits wieder in höchstem Grade abstoßend; zwar entspricht es nicht eigentlich den Thatsachen, wenn man von einem „Verbrechertypus“ spricht, denn manche dieser Mörder und Einbrecher sehen äußerst harmlos aus und würden selbst gewiegte Physiognomiker irreführen. Dann aber kommen wieder Gesichter vor, die soviel Rohheit, Heimtücke und Haß ausdrücken, daß man sich mit Entsetzen abwendet. Unter den Bauernfängern fällt uns eine ganze Reihe eleganter Erscheinungen auf, die, wenn man sie irgendwo träfe, niemals den Verdacht erwecken würden, daß ihres Daseins einziger Zweck Betrug und Gaunerei ist. Auch unter den „Damen“ fehlt es nicht an reizvollen, scheinbar vornehmen Gestalten, ebenso wenig unter den internationalen Dieben, die mehrere Sprachen gewandt sprechen und geschickt mit dem Ordensbändchen im Knopfloch zu kokettieren verstehen. Für Mannigfaltigkeit in der Toilette ist ebenfalls gesorgt: hier sehen wir eine vom Ball weg in Haft gebrachte schlanke Blondine in pikantem Maskenkostüm, dort eine Marktdiebin mit dem Korb in der Hand, einen Einbrecher als Postboten verkleidet, einen Collidieb in der Tracht eines Rollkutschers, eine ganze Zahl von Männern in Frauenkleidungen, einen Paletotdieb, den dürren Körper in zwei gestohlene Ueberzieher gehüllt, einen mit Schaffellmütze und Schnürrock versehenen Perser, der gelegentlich eines kleinen Einkaufes in einem Juweliergeschäft mehrere Diamantringe „aus Versehen“ einsteckte, und einen Mulatten, der umfassende Gasthofschwindeleien verübte.

Manche der Bilder zeigen uns, daß es den also Ausgezeichneten durchaus nicht erwünscht war, gratis abkonterfeit zu werden, mehrfach sieht man theilweise oder vollständig verzerrte Gesichter, hier ein zugekniffenes Auge, dort einen verzogenen Mund oder eine heruntergeklappte Kinnlade. Auf anderen Porträts erblickt man den Verbrecher in der Zwangsjacke, oder es werden als Randverzierung die Hände und die Gestalten der Polizisten sichtbar, welche den zu Photographierenden mit Gewalt auf seinen Sitz niederdrücken. Früher mußten derartige Maßregeln, die in schroffem Gegensatz zu dem sonstigen: „Bitte, recht freundlich!“ der Photographen stehen, häufiger angewendet werden, heute macht die Blitzphotographie ihrem Namen zu sehr Ehre, als daß der Verbrecher zu besonderen Verstellungen noch Zeit behielte.

Das photographische Atelier befindet sich dicht bei den Zimmern des Inspektors der Kriminalpolizei und besteht aus einem kleinen halbdunklen Raum, in welchem stets Gas brennt; an zwei Seiten flackern mehrere Spiritusflammen, ein leichter Druck auf einen Gummiball entzündet das Magnesiumpulver, bei dessen Licht photographiert wird, und im selben Augenblick ist auch schon die Aufnahme fertig, die fast immer lebendig und anschaulich ausfällt. Ist der Verbrecher halsstarrig, so schreitet man gegenwärtig nur noch im äußersten Nothfalle zur Gewalt, meistens versucht man durch List, ihn zur Ruhe zu bringen; ein Beamter plaudert mit ihm oder stellt sich, als ob er ihn verhöre, Akten werden ihm vorgelegt und Fragen an ihn gestellt, bis plötzlich das Magnesium aufzischt und der Beamte ironisch lächelnd sagt: „Schönsten Dank, das Bild wird vorzüglich werden!“ Kann man aber einen Verbrecher um keinen Preis zum „ruhigen Sitzen“ bringen, so wird er, ohne daß er es merkt, während einer Verhandlung oder eines Verhörs gezeichnet; nach dieser Zeichnung fertigt man dann eine Photographie an. Von jeder Photographie werden vier Abzüge gemacht:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 705. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_705.jpg&oldid=- (Version vom 24.9.2023)