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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

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Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(6. Fortsetzung.)

Gerda war erschrocken zusammengezuckt, als sie die Berührung Andrees fühlte, und hatte eine rasche Bewegung zum Davonlaufen gemacht. Als sie aber erkannte, wen sie neben sich hatte, blieb sie stehen.

Ein verweintes Gesicht kann niemals hübsch sein, und dies hagere, lang in die Höhe geschossene, halbentwickelte Mädchen hatte ohnehin keine hübschen Züge. Ein schönes Bild bekam also Andree keineswegs zu sehen, aber die dick verschwollenen Augenlider, die Thränenspuren auf den Wangen und der wie bei einem Kinde hilflos zuckende Mund rührten ihn doch.

„Noch ein Jährchen oder höchstens zwei, und Sie fliegen dort“ – er machte eine Kopfbewegung nach rechts hinüber – „mit den andern jungen Damen um die Wette über das Parkett!“

Sie konnte zunächst noch nicht sprechen und schüttelte nur in heftiger stummer Verneinung den Kopf.

„Nicht? Sie meinen, nicht? Aber warum denn in aller Welt?“

Gerda hob ihre thränenschweren Augen zu ihm auf und sah ihn eine kleine Weile aufmerksam an, dann schüttelte sie von neuem den Kopf.

„Ich kann es Ihnen nicht sagen,“ kam es endlich stockend von ihren Lippen, und in der Stimme zitterte noch das Schluchzen nach, „Sie würden es mir nicht glauben, mich auch nicht verstehen. Allein es ist doch so: ich werde nie da drinnen tanzen!“

Er blickte sie an, in stummem Erstaunen über ihren leidenschaftlichen Ernst. „Und Sie tanzen gern, nicht wahr?“ fragte er endlich zögernd.

„Brennend gern!“ rief Gerda begeistert, und wie bei Kindern, die „Lachen und Weinen in einem Sack haben,“ brach jetzt ein strahlendes Lächeln um ihre Augen und Lippen hervor.

„Haben Sie denn Tanzstunde gehabt?“

„Jawohl, als kleines Mädchen! Damals, als Mama noch glaubte …“ Sie hielt inne.

„Nun?“ forschte er leise. „Was glaubte Ihre Mama damals?“

Sie freute sich im stillen an seiner sanften Art, mit ihr umzugehen, und an seiner angenehmen Stimme.

„Ich möchte es lieber nicht sagen, es würde häßlich klingen, und Sie würden schlecht von mir denken!“ Sie drehte hastig den Kopf. „Kommt auch niemand hierher? Dann müßte ich fort!“

Andree lachte gutmüthig. „Also ich bin für Sie niemand?“

Das Kind wurde etwas verlegen.

„Sie haben mich ja überrascht. Hätte ich gewußt, daß Sie mich fänden, dann wär’ ich weggelaufen!“

„Können Sie denn von hier etwas sehen?“

„O ja, das kann ich, ich habe sehr gute Augen. Kommen Sie einmal hierher; da, zwischen den Zweigen ist eine Lücke, ein richtiger Ausguck! Da hab’ ich durchgesehen, und die Musik hört man ja ganz deutlich. Hören Sie, jetzt tanzen sie Kreuzpolka!“

„Ist es denn auch vernünftig, daß Sie sich herschleichen, um sich das Herz schwer zu machen?“

„Nein, es ist dumm von mir!“ gab sie zu. „Aber ich konnte gar nicht anders! Sie werden niemand sagen, daß Sie mich hier fanden – nein? Denn sonst, die Schelte!“

„Gott bewahre!“ versicherte der Maler ernsthaft. „Das ist schon das zweite Geheimniß, das wir mit einander haben, Fräulein Gerda! Ich treffe Sie immer in kritischen Augenblicken an!“

„Richtig!“ Sie lachte kurz auf. „Neulich auf der Treppe, als ich die Jungen mit meinem Zopf schlug!“

„Ja, der schöne Zopf ist mir gleich aufgefallen.“

„Den finden Sie schön?“ gab sie verächtlich zurück. „Greulich ist er! Jeder reißt und zerrt an ihm herum, und es ist schauderhaft langweilig, ihn zu flechten; überall ist er mir im Weg, und aufstecken läßt er sich nicht, weil er zu schwer ist! Ich betrachte ihn als meinen persönlichen Feind. Sie sind ja ein Maler, schauen Sie ihn doch nur an!“ Sie holte den Zopf unwillig hervor und hielt ihn mit herausfordernder Miene vor Andree hin. „Wie das Ding aussieht! Kein bißchen lockig oder wellig – glatt wie ein Katzenschwanz! Und wie hübsch ist das immer in Romanen zu lesen: ‚ihr Haar leuchtete wie Gold‘, oder: ‚die Sonne streute Goldfunken auf ihr Haar!‘ Und es giebt solches Haar, ich brauche ja bloß meine Schwester Stella anzusehen, die hat es! Aber mein dummer Zopf – nichts! Sogar jetzt, wo soviel Licht von allen Seiten auf ihn fällt – ich kann ihn drehen, wie ich will: braun, nichts als langweiliges, stumpfes, gleichförmiges Braun! Ach!“ Sie warf die schwere Flechte ungeduldig weg, wie ein werthloses Ding, sodaß sich dieselbe auf dem Rücken hin- und herbewegte wie ein Perpendikel.

Andree belustigte sich nicht wenig über das zornige junge Fräulein.

„Also Sie lesen auch Romane?“ forschte er weiter.

„Natürlich! So oft ich dazu komme! Ich muß nur leider zuviel lernen.“

„Ist die Schule so anspruchsvoll?“

„Schule? Aber ich besuche ja gar keine.“ Ihre großen Augen maßen ihn verwundert, daß er das nicht wußte. „Ich werde ja mit Wolfgang privatim unterrichtet und lerne alles mit ihm, weil er allein gar nicht weiterkam und es auf dem Gymnasium erst recht nicht mit ihm ging!“

„Und da müssen Sie auch Lateinisch und Griechisch lernen?“

„Gewiß! Wir lesen den Ovid und Xenophon und dann den Homer!“

„Wirklich? Wie finden Sie die alten Griechen und Römer?“

„Scheußlich!“ sagte Gerda mit anerkennenswerther Offenheit. „Wir müssen uns greulich mit ihnen abquälen, namentlich Wolf, dem das Lernen der alten Sprachen so schwer wird – und wozu eigentlich?“

„Aber der Homer ist doch schön!“

„Ich würde ihn deutsch viel schöner finden. Wenn ich mir erst siebenundzwanzig Vokabeln aufsuchen muß, ehe ich einen Satz zusammenbekomme, dann ist mir der Sinn für die Schönheit schon lange verloren gegangen.“

Andree nickte; er konnte sich das denken, obgleich er selbst, für Sprachen ungewöhnlich gut beanlagt, seine Ilias und Odyssee mit großem Genuß auf der Schule gelesen hatte.

„Aber wer in aller Welt hat denn so über Sie verfügt?“ rief er in ehrlichem Erstaunen. „Ein junges Mädchen in Ihrem Alter hat doch andere Dinge zu thun, als den Xenophon zu studieren! Ihre Eltern müssen – –“

„Es sind nicht meine Eltern, die das bestimmt haben!“

„Nun, wer war es denn sonst?“ warf er unwillig dazwischen.

Sie schüttelte wieder den Kopf mit dem verschlossenen Gesichtsausdruck, den sie bei Beginn des Gesprächs gehabt hatte; dann warf sie trotzig die Lippen auf.

„Was hilft es alles? Zu ändern ist’s nicht, ich muß sehen, wie ich mich mit meinen Griechen und Römern abfinde! Erzählen Sie mir lieber ein bißchen von heute, Herr Andree! Wen hatten Sie zur Tischnachbarin?“

„Fräulein Lina Birkmann!“

„So, also die! Gefiel sie Ihnen?“

Andree lächelte. „Solch eine Gewissensfrage, Fräulein Gerda – –“

„Mir könnten Sie das ruhig sagen – aber wie Sie wollen! Wen hatten Sie denn zum Gegenüber?“

„Ihr Fräulein Schwester mit Herrn Konsul White!“

„Das ist der!“ Gerda deutete durch eine Geberde seine langen Bartkoteletten an. „War denn der Prinz nicht in der Nähe?“

„Gewiß, er saß rechts von Ihrem Fräulein Schwester!“

„Und Ritter Kuno?“

„Ihr schräg gegenüber!“

Gerda nickte. „Ganz wie ich es mir dachte!“ Sie schaute vor sich hin. „Und natürlich ist Stella wieder die Schönste!“

„Weitaus die Schönste!“ Er musterte aufmerksam das junge blasse Gesicht, das er vor sich hatte, um einen Zug zu entdecken, der an die schöne Schwester erinnern könnte.

„Geben Sie sich keine Mühe!“ sagte Gerda mit einem Lächeln, das merkwürdig gereift und überlegen aussah. „Ich gleiche ihr nicht im mindesten.“

„Haben Sie meine Gedanken sofort errathen?“ fragte er erstaunt.

„Natürlich! Ich sah es Ihnen am Gesicht an!“

Hier näherten sich Schritte und Gerda machte eine Bewegung,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_710.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)