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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

einer langen Stange aus dem seichten Meeresgrund in tieferes Wasser zu bringen.

Em freundlicher Tag würde es wohl nicht werden, das sah man, aber der nächtliche Sturm hatte sich doch zur kräftigen Brise gemildert, und die auf der Insel Zurückbleibenden schauten darum ohne sonderliche Besorgnisse der absegelnden Schaluppe nach. Oben auf dem Falm[1] lehnte einsam eine verhüllte Mädchengestalt, die dem im Morgennebel verschwindenden Fischerboot nachschaute und lautlos, aber aus tiefster Seele betete: „Min leiv Herrgott, lat dat gelingen!“

Unter Lars’ Führung hatte die Schaluppe unterdeß freies Wasser gewonnen und war dem englischen Kriegsschiff soweit nahegekommen. daß von diesem ein in getheertes wasserdichtes Segeltuch gehülltes und an einer starken Leine befestigtes Packet von ansehnlicher Größe, durch einen nervigen Arm geschleudert, auf das Fischerboot gelangen konnte. Es war das wichtige Postfelleisen, welches die Helgoländer auffingen, von der Leine lösten und in dem offenen Fahrzeuge unter einer Bank verbargen. Lustig ging’s dann mit dem schwellenden Winde gen Südosten, der Elbmündung zu. Während die Schaluppe durch die schäumenden grauen Wogen rauschte, lichtete auch die englische Brigg ihre Anker, entfaltete ihr Tuch und segelte in gemessenem Abstand hinterdrein. Ja, in sehr gemessenem Abstand, denn schon nach einer Stunde kräftiger Fahrt minderte das englische Schiff sein Tuch und blieb mehr und mehr zurück. Lars sah die Masten seines Begleiters langsam schwinden, und als die mitten im tosenden Meer stehende hohe Baake von Scharhörn vornaus auftauchte, sanken gerade achterwärts die Toppen der englischen Brigg unter den Horizont.

„Is’n fein’ Schutz, de Engländer,“ sagte Frank Kunert, einer der beiden Gefährten von Lars.

„Lat ehm! Hei kennt ’t Water nich,“ antwortete Lars, indem er dem Segel noch etwas mehr Luft gab, sodaß sich die Schaluppe unter dem starken Winddruck fast auf die Seite legte und in dieser Lage so schnell durch die Wellen raste, daß der Gischt am Bug hoch aufsprühte und die nicht rasch genug sich theilenden Wellenköpfe ins Boot stürzten.

Die Engländer kannten in der That das Fahrwasser nicht genau genug, um sich mit ihrer Brigg, die doch 13 Fuß Tiefgang hatte, ohne Lotsenhilfe der gefährlichen, wegen ihrer Sandbänke höchst berüchtigten deutschen Küste weiter zu nähern. Kaum hatte die Brigg das Helgoländer Boot außer Sicht, als sie, noch weit außer dem Bereich der eigentlichen Untiefen, Anker auswarf und das Postboot seinem Schicksal überließ in der Voraussetzung, daß es schon glücklich durchschlüpfen und mit dem kostbaren Postsack die Insel Neuwerk erreichen werde.

Lars und seine Kameraden fühlten indeß bei dem Zurückbleiben des bewaffneten Beschützers erst recht das Verlangen, die gefährliche Fahrt auch ohne den Schutz der englischen Kanonen gut zu Ende zu bringen. Die Schaluppe sauste durch die Wogen, die Baake von Scharhörn blieb leewärts und schon tauchte südöstlich ein heller Streif auf, die ersehnte Insel, sodaß die drei im engen Fischerboot glaubten, alles werde wider Erwarten glatt von statten gehen. Da zeigten sich aber die Spitzen eines großen, nördlich von Neuwerk vor Anker liegenden Schiffes.

„De Franzos?“ fragte Frank Kunert.

„Wat sunsten!“ erwiderte Lars kurz, indem er scharf nach dem feindlichen Schiffe hinüberschaute, weil er erwartete, dieses werde seine Anker aufnehmen und eine Verfolgung beginnen. Aber der Franzose hielt wohl das kleine Segelboot für zu unbedeutend, als daß sich eine Jagd nach ihm lohnen würde; er begnügte sich daher, der Schaluppe eine Kanonenkugel in die Rippen zu jagen – oder vielmehr jagen zu wollen, denn die Kugel schlug mit dumpfem Zischen eine halbe Kabellänge[2] vom Ziel entfernt ins Wasser. Lars schüttelte die herübersprühenden Tropfen von seiner Schifferjacke und sagte gelassen: „He is bannig quad[3], de Franzos.“

Weiter und weiter rauschte die Schaluppe, der französische Kaper kam außer Sicht, nach Lars’ Berechnung mußte nun auf dem östlichen Ausläufer von Neuwerk das Zeichen erscheinen, das nach Knud Frodens Angabe zur Landung an der Ostseite der Insel aufforderte: eine hohe Stange mit einem dunklen Ball an der Spitze. Aber so sehr auch die drei Männer im Boot Ausguck hielten, keine Stange und kein Ball wurden an dem öden Inselstrande sichtbar, dagegen thürmten sich die Wolken im Nordwesten drohend aufeinander, der Wind nahm zu und die See fing an, hohl durcheinander zu laufen. Die Lage der Schaluppe begann ungemüthlich zu werden. Bleik Nummen, der dritte von der Besatzung, schlug vor, man solle Neuwerk liegen lassen und die Elbe hinauf bis jenseit Cuxhaven segeln, wo man in Ruhe besseres Wetter und günstige Gelegenheit zur Landung auf Neuwerk abwarten könne. Aber davon wollte Lars nichts wissen, er bestand vielmehr darauf, trotz des schlechten Wetters die Insel Neuwerk zu umsegeln, so daß die Südseite erreicht wurde, wo die heimliche Ablieferung der Post heute noch geschehen mußte.

Es war inzwischen Mittag geworden. Die Männer spürten es jetzt, daß sie sieben Stunden in Wind und Wasser gearbeitet hatten, ohne den Kräfteverlust zu ersetzen. Aber das Wetter, welches von Westen heranbrauste, ließ ihnen keine Muße, eine Stärkung zu sich zu nehmen. Schwere Regenböen stürzten hernieder, die See heulte, und grau in grau hingen Wolken und Meer ineinander. Die Wogen schlugen in die offene Schaluppe, und die drei Männer waren bald bis auf den letzten Faden durchnäßt. Lars rief dem Steuermann zu: „Wi mötten süd gahn!"

Unter vereinter Anstrengung ward es erreicht, daß die von dem wüthenden Westwind und der andrängenden Fluth nach Norden gezwängte Schaluppe endlich ihren Kopf südwärts wandte, dem Festlande entgegenhielt und nun endlich mit dem sinkenden Tageslichte in das seichte Watt steuerte, welches zur tiefsten Ebbe einen fast trockenen Weg von Neuwerk nach dem Festlande gestattet, zur Fluthzeit aber vom brausenden Meere bedeckt ist.

Gar bald gewahrten die Postfahrer, daß auch vor der Spitze von Cuxhaven ein französischer Kaper lag, und um von diesem nicht gesehen zu werden, hatten sie den Mast ihrer Schaluppe ausgehoben und niedergelegt und arbeiteten sich so ohne jedes Segel, nur auf ihre Kraft und die Steuerfähigkeit der Schaluppe vertrauend, durch das Wogengedränge bis an die Südseite der Insel Neuwerk. Hatte ihnen aber zuerst die steigende Fluth geholfen, so wurde jetzt das zu Beginn der Nacht wieder zurückströmende Wasser ihr Feind. Was kümmerten sie sich um den von Cuxhaven herüberschallenden Kanonendonner, welchen der dort postierte Franzos als Zeichen seiner Wachsamkeit hören ließ; die Aufmerksamkeit und Besonnenheit der drei Männer im offenen Boot waren allein auf das gefährliche Fahrwasser gerichtet, das ihnen durch zahlreiche Sandbänke und Untiefen Verderben drohte. Noch ein Ruck und die Schaluppe saß wirklich fest. Sofort schlugen die rückwärtsströmenden Wellen so heftig über Bord, daß alle drei zu Boden geschleudert wurden und sich das kleine Fahrzeug rasch auf die Seite legte. Lars’ erster Gedanke galt der Post. Die durfte nicht verloren gehen, mochten Schiff und Besatzung auch dran glauben müssen. So hatte Lars denn beim Niederstürzen unwillkürlich das aus seinem Versteck hervorkollernde Packet erfaßt; und da jetzt alle Kräfte angespannt werden mußten, um der völligen Strandung und dem Untergang zu entrinnen, befestigte er es auf seinem Rücken.

Die drei Fischer arbeiteten wacker und kämpften mit höchstem Todesmuth gegen das drohende Verhängniß. Eine Viertelstunde lang sprachen sie kein Wort, sie arbeiteten von einem Geiste beseelt wie ein Mann an der Wiederaufrichtung ihres Fahrzeugs. Jeder von ihnen hörte durch Wind- und Wellenbrausen die heftigen Athemzüge der andern. Endlich, endlich – die schwarzen Fittiche der Nacht hatten sich derweil völlig über das tobende Meer und die stille Sandinsel gebreitet – saß die Schaluppe wieder leidlich aufrecht im Schlick fest. Heftig keuchend und am ganzen Leibe dampfend, warf Lars seine nassen Oberkleider ab, zog die schweren Stiefel von den Füßen, nahm das Felleisen auf die Schulter und sprang über Bord mit dem festen Entschluß, die Post in ihre richtigen Hände zu befördern, oder nicht mehr zurückzukehren.

(Schluß folgt.)




  1. „Falm“ heißt die Straße am östlichen Rande des Oberlandes, von wo man einen Ueberblick über das Unterland und die im Hafen liegenden Schiffe hat.
  2. Eine englische Kabellänge = 231 Meter.
  3. außerordentlich bös.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_723.jpg&oldid=- (Version vom 24.10.2023)