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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

daß die Gossen übertraten und die Dachrinnen gar nicht fertig werden konnten, die dicken, trüben Wasserstrahlen gurgelnd und schäumend herauszusprudeln? War’s nicht kurios, wie es dann zwischen den griesgrämlichen Wolken hervordämmerte als mattes gelbliches Licht und heller wurde und zu leuchten anhob gleich blassem Gold, und wie mit einem Male die Sonne durchbrach und Himmelsblau mitbrachte, gesättigtes dunkles Himmelsblau, das sich im nassen Pflaster wiederspiegelte und im Verein mit der Sonne die Menschen zu fragen schien: „Aber was habt Ihr denn alle? Fort mit euren feuchten Schirmen und Regenröcken und ärgerlichen Gesichtern! So lacht doch und freut euch – ich thu’s ja auch! Frühling ist es, warmer, gesegneter Frühling!“ –

Sie konnte in der ganzen alten Hansestadt kein schöneres Menschenkind überstrahlen, die Lenzsonne, als Stella Brühl, die leichtfüßig die Treppe vom oberen Stockwerke heruntergelaufen kam, um sich in Papas Empfangszimmer zu verfügen. Ihr eigenes Empfangszimmer gefiel ihr plötzlich nicht mehr, sie hatte da von etwas ganz besonderem gehört und gelesen, was ihr besser zusagte und ihr die bisherige luxuriöse Einrichtung nichtssagend und gewöhnlich erscheinen ließ – und etwas ganz besonderes mußte sie, die doch selbst außergewöhnlich war, allemal zuerst haben. Wo das Geld zu diesen prachtvollen Seltsamkeiten herkam, darüber machte sie sich keine Gedanken; aber daraus konnte ihr auch niemand einen Vorwurf machen. Hätte sie ihr junges, glänzendes Dasein noch so scharf und prüfend überdacht, sie hätte sich keines einzigen Anlasses entsinnen können, bei welchem ihr gesagt worden wäre: „Das kannst Du nicht haben, das ist zu theuer!“

Auf den untersten Stufen der langen Treppe stieß die junge Dame auf ihre Schwester Gerda, die mit ihren Schulheften unter dem Arme gerade im Begriffe war, aufwärts zu steigen. Das Backfischchen sah sehr mißvergnügt aus, und sein Gesichtsausdruck erheiterte sich beim Anblick der schönen Schwester keineswegs. Gerda hatte die Nacht sehr schlecht geschlafen, sie hatte immerfort geglaubt, die Tanzmusik zu hören – was in ihrem Zimmer schlechterdings unmöglich war – und sich allerlei Scenen ausgemalt, die sich im Ballsaal zutragen konnten. Früh morgens hatte sie dann nüchtern eine Menge halbzerflossenes Eis und Konfitüren genossen, was ihr natürlich schlecht bekommen war. Sie war auf allerlei Umwegen mit Wolfgang durch das Fenster der Vorrathsstube geklettert und hatte sich dort gütlich gethan, ehe Frau Willmers, die gestrenge, von ihrem „Dienst“ bei der Prinzessin frei war. Gerda wußte, daß man ihr gutwillig nichts von all den übrig gebliebenen Herrlichkeiten geben würde, da sie sich gestern geweigert hatte, den Eltern und Stella gute Nacht zu sagen. Der „weibliche Minister des Innern“, Frau Willmers, hatte den Raub später entdeckt und die Missethäterin heftig ausgescholten, aber an Tadel war Gerda ja gewöhnt – hatte sie doch ihren Zweck erreicht. Nur hatte sich jetzt als Folge der Genüsse in der Frühe ein böses Magendrücken eingestellt, und außerdem war sie schlecht zur Geschichtsstunde vorbereitet, der österreichisch-spanische Erbfolgekrieg lag ihr ebenso schwer im Magen wie das Ananaseis und die Fruchtpasten.

Sie trug ein graues Wollkleid, aus dem sie herausgewachsen war – Stella in ihrem tiefrothen Sammetkostüm, das einen Theil des wundervollen Halses und der weißen Arme frei ließ, sah wirklich wie eine Prinzessin neben ihr aus.

„Fleißig lernen, Gerda?“ fragte sie, indem sie stehen blieb und die jüngere Schwester freundlich anblickte. Sie war immer sehr freundlich gegen ihre Geschwister, und wer Zeuge davon war, fand es unausstehlich von diesen, daß sie das bezaubernde Geschöpf nicht liebhatten. Neid ohne Zweifel!

„Ja!“ entgegnete der Backfisch kurz und sah auf seine mageren Hände herab, welche die Bücher umschlossen hielten.

„Du hast Dich ja gestern im Wintergarten so lange mit Herrn Andree unterhalten,“ fuhr Stella lächelnd fort, „hat er Dir gut gefallen?“

Gerda hätte ihre Schwester fragen können, woher sie dies wisse, unterließ es aber. Sie hatte es schon zu oft erlebt – die Prinzessin hörte von allem, was im Hause vorging, ihr blieb nicht das Geringste verborgen, und die jüngeren Geschwister waren untereinander einig, daß Frau Willmers bezahlte Spione in ihrem Sold habe, die ihr jede Kleinigkeit hinterbrächten.

„Ach – nein – warum soll er mir denn gefallen?“ erwiderte Gerda mürrisch, sie wußte schon, daß die schöne Schwester ihr unerbittlich alles verleidete, was ihr wohlgefiel. Zum Unglück konnte sie es aber nicht hindern, daß sie erröthete, als Andrees Name so plötzlich genannt wurde, denn der Maler hatte auf Gemüth und Phantasie dieses vernachlässigten Kindes in der That einen starken Eindruck gemacht.

Stella bemerke das Erröthen recht wohl und schaute noch freundlicher drein.

„Nun, wir haben doch Augen im Kopf, und Herr Andree sieht ja gut aus! Er wird mich malen, und jetzt hat er mich um eine private Unterredung bitten lassen – in einer kleinen halben Stunde wird er hier sein. Das sieht alles ein wenig verfänglich und bedenklich aus. Was kann es wohl zu bedeuten haben, Gerda – wie?“

Gerda bewegte sich unbeholfen hin und her.

„Daß er sich in Dich verliebt hat, wie’s allen geht!“ gab sie in schroffem Tone zur Antwort.

„O – Du meinst? Verliebt! Was sich solch ein Kindskopf alles denkt! Verliebt! Es wird wohl so sein, wie Deine junge Weisheit annimmt. Und – ob ich mich nun wieder in ihn verlieben soll?“

Sie lachte, daß alle ihre Perlzähnchen sichtbar wurden, lachte silberhell und reizend. Gerda war dunkelroth geworden und hatte all ihre Hefte und Bücher auf die Treppenstufen fallen lassen. Sie bückte sich tief und sammelte die „übersichtlichen Tabellen“ und den „Leitfaden für mittlere und neuere Geschichte“ zornig vom Boden auf.

„Nun, sei nur hübsch artig und lerne gut, mein Kindchen!“ schloß Stella und klopfte dem jungen Fräulein liebkosend die Wange.

So rasch wie Wolfgang am Abend zuvor zuckte Gerda zurück und lief im Sturmschritt die Treppe empor. Unterwegs riß sie ihr Taschentuch heraus und rieb sich derb die eben gestreichelte Wange. Dem ihrer harrenden Lehrer, einem tüchtigen älteren Philologen, zeigte sie ein sehr ungnädiges Gesicht und nicht das mindeste Interesse für den österreichisch-spanischen Erbfolgekrieg.

Leise vor sich hinsummend, schritt unterdessen Stella die letzten Stufen hinab und begab sich in ihres Vaters Empfangszimmer, das der Dekorateur so gediegen mit Büsten, Bildern und Bücherborden angefüllt hatte, als wurzelten die Neigungen des Herrn Senator Brühl allesammt in klassischem Boden.

Die schöne Stella setzte sich in einen Sessel von gepreßtem Leder, dessen hohe Lehne ihr Köpfchen sehr weit überragte, und dachte nach. Was konnte Andree von ihr wollen? Daß er in sie verliebt war, glaubte sie schon, sie hatte es der „Kleinen“ gegenüber noch nachdrücklicher betont, weil sie zu ihrem großen innerlichen Ergötzen wahrgenommen hatte, daß diese sich darüber ärgerte – aber der Zweck dieser heutigen Unterredung mußte ein anderer sein! Der Maler hatte sie zuweilen so seltsam ernst angesehen, und als er sie um die Zusammenkunft bat, in Gegenwart ihrer Mutter freilich, aber mit dem Zusatz, er müsse um die besondere Gunst bitten, Fräulein Brühl allein zu sprechen, da er im Auftrag anderer die äußerste Diskretion zu beobachten habe – da hatten seine tiefliegenden blauen Augen einen eigenthümlichen Schimmer gezeigt – war es eine Thräne gewesen? Stella wußte es nicht recht zu sagen, aber daß seine Mittheilung keine erfreuliche sein würde, das wußte sie! – Wenn doch dies alles nur nicht irgendwie mit Werner Troost zusammenhängen würde! Stella hatte allen Grund, mit dem gestrigen Abend und mit ihren Aussichten für die Zukunft zufrieden zu sein! Der Prinz war im Verlauf der Stunden wirklich immer „kleiner“ geworden, jemehr sie ihn ganz höflich und obenhin, wie jeden beliebigen andern Courmacher, behandelte. Sein großherrliches Gehaben hatte bedeutend nachgelassen, ihre Behandlung war die richtige gewesen, und aus dem herablassenden Bewunderer würde ein feuriger Bewerber werden, das stand so ziemlich fest. Sie wollte ihn gehörig hinhalten und schmachten lassen, denn einmal war dieses Spiel überaus unterhaltend, und dann gefiel ihr auch Andree gut – diese Art männlicher Geschlossenheit war ihr so ziemlich neu – ein bedeutender Künstler sollte er ja auch sein … Die schöne Stella wäre ungemein guter Laune gewesen, wenn ihr nicht immer wieder der Gedanke an Werner Troost all diese erfreulichen Zukunftsbilder gestört hätte.

Was war ihr nur damals gewesen, als sie sich mit diesem unbekannten jungen Menschen heimlich verlobte? Freilich stand

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_726.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)