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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

mußte eine Terpentinflamme sein, welche die braven Kameraden angezündet hatten, um ihm den Weg zum Schiffe zu erleichtern.

Mit dieser Erkenntniß kam Lars auch zum vollen Bewußtsein seiner entsetzlichen Lage. Bis über die Hüften steckte er bereits in dem schlammigen Grabe, nur eine Viertelstunde brauchte noch zu vergehen, und er war vollends versunken, verschwunden von der Erde. So nahe am Ziel hatte er sich von den Armen des Todes umstricken lassen, ohne sich dagegen zu wehren!

Seine stumpfe Ergebung wich im Nu der neu erwachten Lebenskraft. Zunächst stieß er einen gellenden, weithin dringenden Ruf aus, der die Kameraden aufmerksam machen mußte, daß er ihr flammendes Zeichen gesehen habe. Der Ruf wurde vom Schiffe aus erwidert, und nun setzte der Versunkene alles dran, um sich aus der todbringenden Umarmung des Schlammes zu befreien. Mit den Zähnen das Postbündel haltend, arbeitete er mit Macht, bis ihn schier wieder die Besinnung zu verlassen drohte. Aber das flammende Licht da vor ihm auf der Mastspitze, das in regelmäßigen Pausen sich wiederholende Rufen, und vor allem das dumpfe Brausen der von fern wieder herandrängenden Fluth gaben ihm Muth und Ausdauer, das Unerhörte zu vollbringen. Er erkannte, daß die Last des Bündels seinen Körper nur unnütz beschwere und durch den vermehrten Druck ihn rascher in das schauerliche Grab befördere; er legte daher den Postsack vor sich hin und benutzte ihn als breiten festen Stützpunkt für die noch freien Arme. Langsam, sehr langsam arbeitete er so seinen Unterkörper aus dem zäh sich anhängenden Grunde los. Oft wollte er verzweifelnd nachlassen, um nur einen Augenblick zu ruhen. Aber sofort fühlte er sich wieder einsinken und von neuem rang er, sich der schweren Erde zu entwinden. Endlich, endlich! Noch ein letzter Ruck, und er stand wirklich auf seinen Füßen. Zwar schienen ihm seine Glieder in Blei verwandelt zu sein, aber dennoch wankte er mit seinem kostbaren Postsack mühsam dem rettenden Licht entgegen.

Zehn Schritte noch von der Schaluppe entfernt, stieß der zum Tod Ermattete einen schwachen Schrei aus und sank abermals nieder. Jetzt aber waren die Retter nahe: Bleik Stummen schwang sich über Bord in das höher und höher gurgelnde Wasser und half dem Erschöpften durch die steigende Fluth auf die sicheren Planken.

Ueber den grausigen Anblick, den Lars mit seinem todbleichen, von zerzaustem Haar umgebenen Gesicht, mit seinem ganzen blut- und schlammbedeckten Körper bot, verloren Frank Kunert und Bleik Stummen kein Wort; sie gaben Lars einen tüchtigen Schluck Branntwein und schoben ihm das mit so vielen Gefahren errungene Postbündel unter den Kopf, worauf er trotz steigender Fluth und trotz Wettersturm sofort einschlief, um nicht eher wieder zu erwachen, als bis der Strand von Helgoland unter dem Kiel der Schaluppe knirschte.

*  *  *

Wenige Stunden danach stand Lars in einem frischen sauberen Schifferanzug abermals vor dem Bette des alten Helgoländer Lotsen. Haar und Bart hatte er glatt gebürstet, aber sein Gesicht war noch bleich und ernst und die Schulter trug unter der Wolljacke einen regelrechten Verband.

„Ik bin to Stäe,“ sagte Lars einfach und mit ruhigem Stolze, „dat Postgood is gau an Bord.“

Der Alte guckte mit seinen scharfen Augen den Sprecher an – Lars merkte nicht, daß in dem alten Gesicht der Humor zuckte – und antwortete: „Ik heff hürt! Na? un de Lohn?“

Diese Frage kam Lars so unerwartet, daß er bestürzt schwieg. Knud Froden, der alte Schelm, hatte längst durch freundlich geschäftige Zungen die wunderbare Mär von der Postfahrt vernommen, und Gesches seltsames Benehmen, bald Weinen, bald Lachen, hatte ihm das Uebrige gesagt. Dennoch konnte er es nicht unterlassen, den braven, muthigen Jungen, den Lars, ein wenig zappeln zu lassen. Er weidete sich an der Verlegenheit des Burschen und fuhr ihn endlich fast grob an: „’ne Slup dör de Bräkers bringen[1], wat is mi dat? aberst ’n lütt leiw Famel[2] ’winnen, dor fehlt em Kurasche, he? watt?“

Da war auch schon die lachende und weinende Gesche aus ihrem Winkel hervorgekommen und hing an Lars’ Halse. Der küßte sie und flüsterte: „Min lütt, säut’ Deern, wo kann’t denn sien? Dat Glück is to grot, ja to grot.“


Blätter und Blüthen.

Zu J. G. Fischers fünfundsiebzigstem Geburtstag. Es sind jetzt einunddreißig Jahre her, da erschien in der „Gartenlaube“ ein Gedicht, das einen tiefen Eindruck hervorrief im ganzen deutschen Volke. Es war jener elementare Nothschrei aus Deutschlands Zerfahrenheit heraus, jenes stürmische Stoßgebet aus dem Herzen eines glühenden Vaterlandsfreundes: „Nur einen Mann aus Millionen!“, das seitdem so oft als ein historisches Stimmungsbild citirt wurde und – was noch besser ist – das seitdem so herrliche Erfüllung gefunden hat. Der Dichter hieß Johann Georg Fischer und war ein Schwabe, kein Jüngling mehr, sondern ein reifer Mann, auch als Dichter nicht unbekannt, sondern bereits durch eine Gedichtsammlung in litterarischen Kreisen vortheilhaft eingeführt – den breiten Massen unseres Volkes aber ist sein Name wohl erst durch jenen Sturmgesang bekannt geworden.

Und das deutsche Volk hat J. G. Fischer nicht mehr vergessen. Manch feierlicher Festesklang ist im Wandel der Jahre von seiner Harfe gerauscht, manch zartes, sinniges Lied, manch gedankenvolle Betrachtung hat ihm seine Muse geschenkt. Und wenn auch seine Dramen auf den Bühnen nicht häufig erschienen, so haben sie doch die Leser durch idealen Gehalt und edles Pathos der Sprache begeistert. So blieb er eine vertraute Gestalt für alle diejenigen, welchen der Sinn für die köstlichen Gaben der Poesie im Drange des ernüchternden Tagesringens nicht verloren gegangen ist, eine vertraute Gestalt auch den Lesern der „Gartenlaube“, welche manche seiner Schöpfungen zuerst genießen durften.

Am 26. Oktober feiert nun J. G. Fischer seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag. Sollte da die „Gartenlaube“ unter der Schar der Glückwünschenden fehlen?

Zu den bewundernswerthesten Eigenschaften unseres Dichters gehört die jugendliche Frische und unverkümmerte Schöpferkraft, welche er sich bis über die Schwelle des Greisenalters hinaus bewahrt hat. Fast übermüthig sang er noch an seinem siebzigsten Geburtstage:

„Redet mir nicht von siebzig Jahren,
Redet mir nicht von Kräftesparen;
Der eine verthut’s und hat’s doch immer,
Der andere spart’s und gebraucht’s doch nimmer.
Hab’ ich die siebzig nun erklommen,
Und Gott erhält mir in alten Gnaden
Die Lust an seiner Wälder Pfaden,
Den fröhlichen Blick zwischen Licht und Wahn,
Und liebe Menschen zugethan,
Wohlan, so mögen auch achtzig kommen!“

Und wahrhaftig, wer den etwas schmalgebauten, aber immer noch aufrechten und hellen Auges in die Welt blickenden Mann durch die Straßen Stuttgarts wandeln sieht, wer sich in seine letzte, vor kurzem erschienene Gedichtsammlung „Auf dem Heimweg“ vertieft, der wird diese Prophezeiung nicht zu kühn finden.

Wohl hat Fischer vor nunmehr sechs Jahren sich veranlaßt gesehen, die Last seines Lehramts für Geschichte und Litteratur an der Oberrealanstalt zu Stuttgart auf jüngere Schultern zu übertragen, wohl hat der Tod der heißgeliebten Gattin, welche vor Jahresfrist von seiner Seite gerissen wurde, einen schmerzlichen Schatten auf seinen Lebensabend geworfen, aber mit der Spannkraft einer von innen heraus durchaus gesunden Natur hat er die Schmerzen und Widrigkeiten überwunden und in seinem Dichten sich frei gemacht von dieser Erde Druck, sich selbst des Trostes Lieder zugesungen. So steht heute, an dem Tage, da er das dritte Vierteljahrhundert vollendet, J. G. Fischer vor uns als das Ideal eines zu ruhiger Klarheit durchgedrungenen Menschengeistes, vor dem der Gang des Erdenlebens liegt wie der Kreislauf eines Tages.

Mögen aus der letzten Sammlung seiner Gedichte noch die folgenden Verse hier Platz finden, welche diesem Gedanken einen so ergreifend schönen Ausdruck verleihen:


 Ein Tag.
 Frühmorgens.

Die dunkle Nachtgestalt entweicht,
Wie wird’s am Himmel hell und leicht!
Die Sonne tritt an meine Wand,
Noch deck’ ich’s zu mit einer Hand.

Noch ist’s ein Punkt – nun werden’s viel,
Du schönes, wunderschönes Spiel!
Bald ist von Glanz die Kammer voll,
Wie deine Seele werden soll,

Wenn erst ein Hauch im Herzen quillt
Und dann in Fülle überschwillt,
Bis alle Welt umher verschönt
Von Einem Lobgesange tönt.


  1. Eine Schaluppe durch die Becher (Wellen) bringen.
  2. Mädchen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 739. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_739.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2024)