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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

volle zwei Jahre! Ich hab’ ihn oft gesehen, wenn er zu uns kam, er war wunderhübsch und immer so freundlich zu mir und Wolf. Mir hat er einen reizenden kleinen Amor modelliert – so groß nur – den hab’ ich noch, und für Wolf einen Neptun mit dem Dreizack. Ja, und ich glaube, er ist in Stella sehr verliebt gewesen!“

„Sieh’ einmal, was Du nicht alles weißt!“ warf Onkel Grimm dazwischen.

„O bitte, Herr Andree,“ fuhr das Mädchen im vollen Eifer fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, „sagen Sie mir, ob es Werner Troost gewesen ist, der die Büste gemacht hat! War er es? Sie nicken – also richtig, er war es – sehen Sie, Onkel, ich hab’ das Rechte getroffen! Lebt er noch in Rom? Was thut er da? Warum kommt er nicht mehr hierher nach Hamburg zurück? Ich hatte ihn so lieb! Er ist nicht mehr in Rom? Ja - wo ist er denn geblieben?“

„Fräulein Gerda,“ sagte Andree ernst, als in der sich überstürzenden Fluth von Fragen und Ausrufen eine kleine Pause eintrat, „es thut mir leid, es Ihnen, da Sie Werner Troost lieb hatten wie wohl jeder, der ihn gekannt hat, sagen zu müssen: mein Freund ist im März in Rom gestorben!“

Gerda starrte ungläubig zu ihm hinüber, dann hob ein krampfhaftes Aufseufzen ihre Brust, sie warf die verschränkten Arme quer über den Tisch, legte den Kopf darauf und brach in ein lautes, bitterliches Weinen aus.

Und Andree that dieser jugendliche, rückhaltlose Schmerz seltsam wohl. Der Verstorbene war in seiner sonnig liebenswürdigen Weise gut zu diesem Kinde gewesen, und nun das Kind seinen Tod erfuhr, erinnerte es sich dessen und weinte seine heißen, ungestümen Kinderthränen.

Die ältere Schwester hatte ihr soviel tieferes Leid still getragen, sie verstand eben schon die schwere Kunst der Selbstbeherrschung … das Kind aber, dem nur selten ein freundliches Wort zutheil wurde, zahlte den Tribut seines Schmerzes in der einzigen Form, die es dafür hatte!

„Wie – wie hat er denn so schnell sterben können?“ Gerda hob ihr thränennasses Gesicht empor, sie sprach schluchzend und stockend. „Er war ja so jung – und so gesund – und schön!“

„Das war er,“ nickte Herr Grimm. „Ich habe ihn nur selten und flüchtig zu Gesicht bekommen, aber jedesmal meine Freude an ihm gehabt. Werner Troost – ja, ja, ganz recht! Ein schlanker, blühender Mann, mehr Jüngling als Mann, möchte ich sagen – mit schönen dunklen Augen und gelocktem Haar; eine Persönlichkeit, die man nicht leicht vergißt.“

„Ach, und er konnte so lustig sein, so fröhlich lachen!“ klagte Gerda. „Einmal hat er sich mit Wolf und mir im Garten auf der Uhlenhorst gejagt und mit uns Haselnüsse gesucht und sich so gefreut, als wir ein kleines Eichkätzchen sahen. Die Prinzessin war damals nicht zu Hause, und da hat er mit uns gespielt, als ob er selber noch ein Kind wäre, und gesagt, wir sollten ihn Werner nennen und Du! Und einmal hat er zu mir gesagt – nein – das kann ich bloß Onkel Grimm allein erzählen!“

„Mir also nicht?“ fragte Andree.

„Nein, Ihnen nicht! Aber Sie müssen mir erzählen, wie Werner gestorben ist!“

Das that Andree, und sein Bericht fiel ausführlicher und eingehender aus als vor acht Tagen Stella gegenüber, er fühlte sich freier vor dieser jetzigen Zuhörerschaft. Gerda bekam immer wieder Thränen in die Augen während seiner Erzählung, und als er zu Ende war, saß sie, ohne sich zu rühren, mit einem sehr nachdenklichen Gesicht da. Andree hätte gern ihre Gedanken erfahren, auch den Ausspruch, den sie zuvor unterdrückt hatte, aber er wußte es nun schon: was dies Kind nicht sagen wollte, das ließ es sich auch durch keine Ueberredung entlocken.

„Weiß Stella das alles? Haben Sie es ihr so erzählt wie eben jetzt uns?“ fragte endlich Gerda leise aus ihrem Sinnen heraus.

„Ja!“ antwortete Andree kurz.

Sie schien noch mehr fragen zu wollen, unterdrückte es aber. Dann, nach einer Pause:

„Er fand sie so hinreißend schön, ich weiß es! Darum hat er sie ja auch gemeißelt – ich kann mir’s denken! – Und wie hat er mich ausgelacht, als ich einmal so unglücklich war über meine Häßlichkeit!“

„Möchten Sie denn so sehr gern schön sein, Gerda?“ fragte Andree lächelnd.

Sie nickte lebhaft. „Ja!“

„Nun, und wenn Sie es wären – was thäten Sie wohl?“

„Ach, das ist doch leicht zu sagen: ich würde glücklich! Aber was hilft das alles: ich bleib’ nun, wie ich eben bin!“

„Glaub’ ich nicht!“ erwiderte er mit bedächtigem Ernst. „Sie sehen in zwei, drei Jahren ganz anders aus!“

„Meinen Sie – hübscher?“ fragte sie eifrig dagegen. „Ach, ich glaub’ es aber nicht!“ klang es in tiefer Muthlosigkeit hinterdrein. „Was an mir soll eigentlich hübsch werden?“ Sie warf einen Seitenblick in den Spiegel, der ihre Gestalt in dem schlecht sitzenden Kleide, ihr Gesicht mit den verschwollenen Augen wiedergab. „Nein, das kann ich mir nicht denken! Und dazu mein Name: Gerda! War’s nicht irgend eine Blumen- oder Frühlings- oder Liebesgöttin, die so hieß? Ich und eine junge Göttin! Für andere ist’s zum Lachen und für mich zum Weinen. Meinem armen Bruder geht’s ebenso. Den haben sie Wolfgang genannt, auf daß er ein zweiter Goethe oder ein zweiter Mozart werde. Nichts davon! Er kann keine Melodie behalten und hat in seinem Leben noch keine zwei Reime zusammengebracht. Eigentlich müßte man erst dann seinen Namen bekommen, wenn es sich feststellen läßt, wie man aussieht!“

Herr Grimm lachte über diese in altklugem Ton ausgekramte Weisheit, und Andree erhob sich, um zu gehen.

„Ach, Sie wollen schon fort?“ sagte Herr Grimm und klopfte seinem Gast gemüthlich auf die Schulter. „Aber, nicht wahr, wenn es Ihnen in meinem Nest gefallen hat – und es trägt den Anschein, als sei es so – dann kommen Sie bald einmal wieder?“

„So bald, daß Sie sich wundern sollen! Mir ist hier so behaglich und ‚zu Hause‘ zu Muthe geworden wie lange nicht. Auf Wiedersehen, Herr Grimm! Adieu, Fräulein Gerda!“

„Ach – bitte – bloß Gerda! Mich nennt eigentlich noch kein Mensch Fräulein, trotzdem ich so groß bin! Einmal haben Sie heute auch „Gerda“ gesagt, und darüber habe ich mich so gefreut!“

„Habe ich das wirklich? Nun, die Freude sollen Sie noch oft erleben, ich sage mit Vergnügen Gerda zu Ihnen!“

„Werden Sie auch zu uns herauskommen, wenn wir auf Uhlenhorst sind?“

„Ich denke – ich hoffe – aber das hängt nicht von mir ab! Wollen Sie Ihrer Schwester sagen, daß ich ihres Rufs gewärtig bin, und daß es mich glücklich machen würde, wenn sie das Versprechen von jenem Ballabend einlösen möchte. Werden Sie ihr das wörtlich bestellen, Gerda?“

Sie stand vor ihm mit schlaff herunterhängenden Armen und sah mit großen, traurigen Augen zu ihm in die Höhe. Sein Gesicht spiegelte eine mühsam niedergehaltene innere Bewegung wieder – das kaum dem Kindesalter entwachsene Mädchen aber hatte es noch nicht gelernt, seine Mienen zu beherrschen; es sah geradezu unglücklich aus.

Sie nickte zu seiner letzten Frage ganz mechanisch mit dem Kopf, erwiderte nicht seinen herzhaften Händedruck und hörte theilnahmlos zu, wie er von Herrn Grimm endgültig Abschied nahm. Als dieser, der seinen Gast höflich hinausbegleitete, wieder zurückkam, stand Gerda mit finster zusammengezogenen Brauen auf derselben Stelle und starrte vor sich nieder.

„Was ist das für ein Kassandragesicht!“ rief Herr Grimm scherzend und hob ihr Kinn mit sanftem Griff in die Höhe. „Was hat Dir denn unser liebenswürdiger Gast zuleide gethan, daß Du aussiehst wie Hans Huckebein, der Unglücksrabe? Was denkst Du von ihm, Gerda? Wie?“

„Denken?“ rief sie hart. „Dasselbe, was Sie auch wissen, Onkel – daß er in Stella verliebt ist wie alle – wie alle!“

„Hm!“ Er wiegte langsam seinen weißen Kopf hin und her. „Es könnte sein, daß Du recht hast – mir schien es auch so!“

„Schien? Sie wissen, daß es so ist - nicht nur so scheint! Er hat solch treue, gute Augen, Onkel, und er wird sehr unglücklich sein, wenn’s ihm geht wie den andern. Er ist zu gut dazu, zehntausendmal zu gut!“

„Aber Kind! Wenn sie diesen sympathischen und, wie ich höre, als Künstler hochbedeutenden Menschen vielleicht wirklich lieben lernt –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_744.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2024)