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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Bergwanderungen allein ließe, aber immer ist er hinter uns und verdirbt mir die ganze schöne Bergwelt mit seinem griesgrämigen Wesen und seinen herzlosen Spöttereien.“

Der Vater widersprach nicht, denn er war im Grunde derselben Meinung. Trotz aller Hochschätzung sagte ihm das Wesen Normanns ganz und gar nicht zu, auch ihn verletzte dessen Schroffheit und Formlosigkeit oft genug; aber er konnte doch nichts dagegen einwenden, wenn der Kollege, den er zufällig in Schlehdorf getroffen hatte und mit dem er seit Jahren in regem wissenschafttichen Verkehr stand, sich ihm anschloß.

„Man sieht es ihm an, daß er wenig mit der Welt und den Menschen verkehrt,“ sagte er ausweichend. „Er ist eben ein Gelehrter, mein Kind, der nur seine Wissenschaft im Kopfe hat und nicht gewohnt ist, auf andere Rücksicht zu nehmen.“

„Nein, wahrhaftig nicht,“ lachte Dora. „Und ich wäre in seinen Augen überhaupt gar nicht daseinsberechtigt, wenn ich nicht das Glück hätte, die Tochter meines Vaters zu sein. Ich glaube, er sperrte mich am liebsten in irgend eine Felskluft, und wenn ich vollends lache, sieht er aus, als möchte er mich gleich auf der Stelle mit Haut und Haar verschlingen.“

Die letzte Behauptung schien in der That nicht so ganz unbegründet zu sein, denn der Profestor, der jetzt zurückkam, machte ein unendlich grimmiges Gesicht, als dies helle frische Mädchenlachen an sein Ohr schlug. Er mochte im Anfang der Vierzig stehen, sah aber weit älter aus, und die finstere Falte auf der hohen Stirn, der herbe Zug um die Lippen verschönten ihn auch nicht besonders. Was ihm aber ein beinahe abschreckendes Ansehen gab, das waren die dichten schwarzen Haare, die ungebändigt und wenig gepflegt um den Kopf starrten wie eine Mähne. Sonst war er eine stattliche, kraftvolle Erscheinung und schien sich trotz angestrengter Geistesarbeit seine volle körperliche Gesundheit bewahrt zu haben.

„Ich denke, wir brechen jetzt auf,“ sagte er kurz. „Sie wollen also zurückbleiben, Kollege?“

„Ja, ich bleibe auf der Alm und plaudere inzwischen mit dem Sepp.“

„Viel Vergnügen zu Ihren Volkspoesiestudien! Ich bitte Sie nur, darin auf meine Mitarbeit von vornherein zu verzichten,“ versetzte Normann in seiner rücksichtslosen Art. „Vorwärts, Friedel, nimm die Sachen! Ist es gefällig, Fräulein Dora?“

Dora nahm Abschied von dem Vater, während Friedel sich mit einer ziemlich schweren Umhängetasche, mit dem Schirm des Professors und verschiedenen anderen Sachen belud; dann schritten die drei über die Matte hin und bald entzog sie der Wald dem Auge des Zurückbleibenden.

Der Weg führte nur eine kurze Strecke unter den schattigen, rauschenden Tannen dahin, dann stieg er in vielfachen Windungen steil und schattenlos empor und die Sonne brannte mit immer heißerer Gluth. Es war eine ziemlich beschwerliche Bergwanderung; das junge Mädchen freilich überwand sie mühelos, sie stieg leicht und sicher aufwärts, und die braunen Augen strahlten immer heller und freudiger, je weiter und mächtiger sich die Landschaft aufthat. Auch ihr Begleiter verrieth keine Spur von Ermüdung, aber es wurde ihm doch heiß bei der ungewohnten Bewegung und er blieb auf einmal stehen.

„Da, Friedel, nimm meinen Plaid,“ sagte er. Dann bemerkte er erst, daß Friedel nicht hinter ihm war. „Wo ist denn der Junge geblieben? Ich glaube, er kann schon wieder nicht mit, da unten schleicht er wie eine Schnecke!“

Dora war gleichfalls stehen geblieben und sah sich um.

„Sie hätten ihn auf der Alm lassen sollen,“ erwiderte sie. „Er trägt so mühsam an der schweren Tasche und der Weg ist überhaupt zu beschwerlich für ihn!“

„Auf der Alm lassen?“ erwiderte Normann. „Wozu habe ich den Jungen denn mitgenommen, doch nicht etwa zu seinem Vergnügen? Die Sachen soll er mir tragen, ich habe keine Lust, mich bei der Hitze damit herumzuschleppen.“

„Er ist aber ein Stadtkind und hält das Bergsteigen nicht aus.“

„So muß er es lernen! Ein Junge von vierzehn Jahren und nicht steigen können! – Da kommt er endlich, aber in was für einem traurigen Tempo! Vorwärts, Friedel!“

Friedel, der in der That eine Strecke zurückgeblieben war, kam jetzt heran. Der Schweiß stand in großen Tropfen auf seiner Stirn, aber das Gesicht war trotz Erhitzung und Anstrengung leichenblaß, und die schmale, kleine Brust keuchte in kurzen schweren Athemzügen. Trotzdem streckte er gehorsam die Hände aus und nahm den Plaid, den sein Herr ihm zuwarf, in Empfang.

Dora aber war nicht gesonnen, diese Mehrbelastung des armen Jungen zu dulden.

„Setze Dich hin, Friedel, und ruhe Dich aus,“ ordnete sie in einem sehr nachdrücklichen Tone an. „Du kannst ja nicht weiter. Gieb mir den Plaid, ich will Dir wenigstens das dicke Tuch abnehmen, wenn es dem Herrn Professor zu schwer ist!“

Sie machte wirklich Miene, ihren Vorsatz auszuführen, jetzt aber schien es dem Herrn Professor doch einzuleuchten, daß das nicht ganz schicklich sei. Er riß mit einem unverständlichen Gebrumm dem erschöpften Knaben den Plaid aus der Hand und warf ihn über die Schulter, aber dabei fiel ein bitterböser Blick auf die junge Dame, die sich einen derartigen Eingriff erlaubte und ihm dabei noch eine verhüllte, aber doch recht fühlbare Zurechtweisung gab.

„Nun, so ruhe Dich aus!“ grollte er. „Der Weg ist ja nicht zu verfehlen. Kannst nachkommen, wenn es durchaus nicht anders geht.“

Die Erlaubniß wurde im barschesten Tone gegeben. Friedel nahm sie schweigend hin, aber die Art, wie er sich auf einen Stein niederließ, zeigte, daß er in der That nicht weiter konnte, während Normann, der offenbar nicht begriff, daß man von dem „bißchen Bergsteigen“ ermüdet sein könne, die kraftvollen Glieder reckte und rüstig weiter stieg. Als er bemerkte, daß seine Begleiterin sich von Zeit zu Zeit besorgt umsah, fragte er spöttisch:

„Sie haben den Friedel wohl sehr ins Herz geschlossen.“

„Wenigstens habe ich Mitleid mit ihm; es geht dem armen Knaben so hart.“

„Hart? Nun, ich dächte, es ginge ihm so gut, wie es einem Jungen in seiner Lage überhaupt gehen kann.“

„Halten Sie es für ein Glück, eine Waise zu sein und bei fremden Menschen sein Brot essen zu müssen?“

„So? Ist der Friedel elternlos?“ sagte der Professor mit einer gewissen Verwunderung.

Dora sah ihn erstaunt an.

„Das wissen Sie nicht? Und Sie kennen ihn doch seit zwei Jahren, wie er mir erzählte.“

„Kennen? Nun ja, ich weiß, daß er im Hinterhause wohnt, daß er jeden Tag kommt, um mir die Stiefel zu putzen, und weil er still und ruhig ist, habe ich ihn mir überhaupt zur persönlichen Bedienung genommen. Meine alte Wirthschafterin schwatzt den ganzen Tag lang, das geht wie ein Mühlwerk vom Morgen bis zum Abend, deshalb darf sie mir auch nie in das Studierzimmer. Der Friedel weiß, daß er nicht mucksen darf, der thut den Mund nur auf, wenn er gefragt wird, den habe ich mir gezogen!“

„Ja, ich merke etwas von dieser Trappistenerziehung,“ spottete das junge Mädchen. „Ich hatte anfangs Mühe genug, ihn zum Reden zu bringen, wenn er so still und traurig neben mir stand und zusah, wie ich malte oder zeichnete. Er ist ja glücklich, wenn er nur zuschauen darf, und dabei verräth er in seinen schüchternen Bemerkungen oft ein ganz merkwürdiges künstlerisches Verständniß.“

„Künstlerisches Verständniß!“ Normann zuckte verächtlich die Achseln. „Das ist doch nichts als der Reiz der Neuheit, welchen die bunten Farben auf den Jungen ausüben, weil er zu Hause und bei mir dergleichen nicht zu sehen bekommt! Leider ist er wie gebannt an Ihre Staffelei; so oft ich ihn brauche, steckt er drüben in Ihrem Garten und seine ganze Lebensgeschichte scheint er Ihnen auch schon erzählt zu haben. Warum denn nicht, wenn es Ihnen Vergnügen macht! Ich aber habe mehr zu thun, als mich mit meinem Stiefelputzer abzugeben.“

Der spöttisch wegwerfende Ton reizte das junge Mädchen vielleicht noch mehr als die Worte selbst. Die sonst so weiche Stimme hatte einen ungewöhnlich herben Klang, als sie erwiderte:

„Das wäre auch zu viel verlangt von Ihnen, Herr Professor! Mein Vater aber, der doch auch ein Mann der Wissenschaft ist, hat mir oft gesagt: Man kann in jedem Menschen den Prometheusfunken suchen und finden, den man selbst in der Brust trägt, es gehört nur ein wenig Herz und ein wenig Menschenliebe dazu – darüber verfügt freilich nicht jedermann.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 784. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_784.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)