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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

und ehe jemand von der Alm kommt, vergeht eine Stunde – da trage ich ihn lieber selbst.“

Dora sah ihn in wortlosem Erstaunen an. Es war freilich das Beste, wenn der kaum nothdürftig verbundene Knabe sobald als möglich nach der Alm geschafft wurde, wo man ihm die nöthige Hilfe leisten konnte, daß aber Professor Normann sich selbst dazu erbot, erschien ihr doch sehr sonderbar. Dieser wartete übrigens gar nicht ihre Antwort ab, sondern hob den Knaben von neuem empor; die empfangene Zurechtweisung schien indessen doch gefruchtet zu haben, denn es war eine merkwürdig schonende und vorsichtige Bewegung, mit der er ihn in die Arme nahm, während seine Stimme schon wieder sehr befehlshaberisch klang.

„Jetzt legst Du den Kopf an meine Schulter und rührst Dich nicht – so! Und nun kannst Du zum dritten Male ohnmächtig werden, wenn es Dir Vergnügen macht!“

Er trat mit dem Knaben in den Armen den Rückweg an, während Dora folgte. Die schmächtige Gestalt Friedels war keine schwere Last, aber auf dem steilen, schattenlosen Bergwege, auf welchen die Sonne in voller Mittagsgluth niederbrannte, machte sie sich doch sehr fühlbar, zumal für den Herrn Professor, der nicht gewohnt war, irgend etwas zu tragen. Jetzt keuchte er und verlor den Athem, jetzt rann ihm der Schweiß in Strömen von der Stirn. Er ging zwar unverdrossen weiter, aber sie wurde ihm doch blutsauer, diese erste Leistung im Dienste der „sogenannten Menschenliebe“.




Die Wohnung des Professors Herwig in Schlehdorf war ziemlich einfach, wie man es in dem kleinen Bergorte nicht anders erwarten konnte, und ließ manche der gewohnten Bequemlichkeiten vermissen, aber das Häuschen war freundlich und sauber und hatte die volle Aussicht auf das Gebirge. Ein kleiner Garten trennte es von dem Nebenhause, wo sich Professor Normann angesiedelt hatte, und selbstverständlich verkehrte man bei der nahen Nachbarschaft täglich miteinander.

In dem großen, zu ebener Erde gelegenen Zimmer, das Herwig bewohnte, saßen die beiden Herren in angelegentlichem Gespräche und hatten sich so darin vertieft, daß sie weder den schönen Sonnenuntergang noch den Gesang beachteten, der durch das offene Fenster hereindrang. Draußen in der Laube saß Dora und bemühte sich, dem Friedel einige Lieder beizubringen. Er schien auch ein gelehriger Schüler zu sein, denn er sang mit schwacher, aber vollkommen reiner Stimme die Melodie nach, die er schnell begriff.

„Wie ich Ihnen sage,“ schloß Herwig soeben eine längere Auseinandersetzung. „Professor Welten geht im nächsten Frühjahr nach Wien; die Verhandlungen schweben augenblicklich noch, aber er wird jedenfalls annehmen. Ich weiß aus bester Quelle, daß man Sie sehr gern für unsere Universität gewinnen möchte, allein Sie hatten ja bisher eine entschiedene Abneigung gegen jede umfangreichere Lehrthätigkeit und wollten sich nicht binden.“

„Ja – bisher!“ sagte Normann mit einer gewissen Verlegenheit, die seinem Kollegen aber vollständig entging, denn dieser fuhr lebhaft fort:

„Ich hoffe, Sie nun endlich umgestimmt zu haben. Glauben Sie mir, es ist doch ein erhebendes Wirken vom Lehrstuhl aus, und wir brauchen eine jüngere, tüchtige Kraft, wenn Welten uns verläßt. Ich zweifelte nur bisher, ob Sie eine etwaige Berufung annehmen würden, denn – der Gesang da draußen stört Sie wohl? Dora hätte sich auch einen anderen Platz dazu aussuchen können! Wir wollen das Fenster schließen.“

Er machte eine Bewegung nach dem Fenster hin, denn er hatte bemerkt, daß Normann, anstatt auf ihn zu hören, unausgesetzt dorthin blickte. Aber wie ein Stoßvogel schoß der Professor herbei und stellte sich davor.

„Wozu denn? Ich höre gar nicht darauf – es ist doch etwas heiß im Zimmer!“

„Nun, wie Sie wollen,“ sagte Herwig. „Was also unser Heidelberg betrifft, so sind Ihnen die akademischen Verhältnisse ja hinreichend bekannt, die gesellschaftlichen Kreise sind sehr angenehm und die schöne Lage der Stadt kommt doch auch in Betracht bei einer etwaigen Uebersiedlung.“

„Ich gehe nie in Gesellschaft,“ erklärte Normann in seiner gewohnten Schroffheit. „Und aus der Lage mache ich mir gar nichts. Sie wissen ja, ich bin nicht angelegt für Landschaften.“

„Ja, das weiß ich und habe es auch aufgegeben, Sie zu bekehren – aber Dora, was soll denn das? Hören Sie nur, das übermüthige Mädchen hat jedenfalls Ihre letzten Worte gehört und macht sich lustig über Sie!“

Dora hatte in der That ein angefangenes Lied mitten drin abgebrochen und urplötzlich ein anderes angestimmt. Sie besaß eine etwas verschleierte, aber liebliche Stimme, und durch die Abendstille ringsum klang es weich und lockend:

„Alt Heidelberg, Du feine,
Du Stadt an Ehren reich,
Am Neckar und am Rheine
Kein’ andre kommt Dir gleich.“

Bei der zweiten Strophe fiel Friedel ein, noch etwas schüchtern und unsicher, aber die Melodie wurde ihm schnell geläufig und den dritten Vers sang er tapfer mit.

„Ja, Fräulein Dora scheint förmlich etwas darin zu suchen, mir bei jeder Gelegenheit einen Possen zu spielen,“ sagte Normann in grollendem Tone. „Den Friedel hat sie mir überhaupt fortgenommen und thut, als wäre er ihr ausschließliches Eigenthum. Ich bekomme den Jungen gar nicht mehr zu Gesicht! Und jetzt lehrt sie ihn gar singen – singen, weil sie weiß, daß ich das nicht leiden kann. Aber gnade ihm Gott, wenn er sich einfallen läßt, bei mir zu singen!“

Indessen stand der Herr Professor trotz aller Entrüstung unverrückbar am Fenster, um den ihm bereiteten Aerger recht gründlich zu genießen.

Herwig gerieth in einige Verlegenheit, denn die Beschwerde war wirklich nicht ganz unbegründet. Dora stand mit seinem Kollegen nun einmal auf dem Kriegsfuße und ließ sich durchaus nicht zu der schuldigen Ehrfurcht bewegen. Selbst der Vater richtete mit seinen Ermahnungen nichts aus, und auch jetzt zuckte er nur die Achseln.

„Sie müssen Nachsicht mit dem Uebermuth haben. Ich gebe ja zu, daß meine Tochter etwas verzogen und eigenwillig ist. Sie hat früh die Mutter verloren und weiß nur zu gut, daß sie die erste Stelle im Herzen und im Hause des Vaters einnimmt, wo sie die Hausfrau vertritt. In der Gesellschaft wird sie nun vollends verwöhnt, die Studenten machen ihr eifrig den Hof und die jüngeren Docenten thun das auch, zum Theil wohl mit ernsteren Absichten. Da bildet sich solch ein junges Ding ein, es dürfe mit aller Welt spielen, und vergißt bisweilen, was es einem Manne von Ihren Jahren und Ihrer Bedeutung schuldig ist.“

Die gutgemeinte Entschuldigung hatte nicht die beabsichtigte Wirkung. Herr Professor Normann verzog den Mund, als gäbe mab ihm etwas sehr Bitteres zu kosten.

„Von meinen Jahren?“ wiederholte er gedehnt. „Für wie alt halten Sie mich denn eigentlich?“

„Ich denke, Sie werden in der Mitte der Vierzig stehen.“

„Bitte, ich bin erst neununddreißig!“

„Nun, nehmen Sie es mir nicht übel,“ lachte Herwig. „Sie sehen wirklich älter aus. Aber das darf Ihnen gleichgültig sein, in der Wissenschaft zählen Sie unbedingt noch zu den Jüngeren.“

Das Gespräch wurde hier unterbrochen; die Hauswirthin trat ein und berichtete, der Kutscher, der den Herrn Professor und das Fräulein morgen nach der Bahn bringen solle, sei da und möchte wegen der Abfahrtszeit und des Gepäckes noch mit den Herrschaften reden.

„Ich werde wohl selbst mit dem Manne sprechen müssen,“ meinte Herwig, indem er aufstand. „Wir sehen uns ja noch vor der Abreise, lieber Kollege, Sie werden froh sein, wenn Sie die unruhige Nachbarschaft endlich los sind!“

Der Herr Kollege war so unhöflich, nicht zu widersprechen, aber er sah nicht gerade besonders froh aus, als er sich gleichfalls erhob und das Zimmer verließ; er schien im Gegentheil recht übler Laune zu sein, trotzdem die ersehnte Ruhe und Stille nun in sicherer Aussicht stand.

Draußen in der Laube saß Dora und ordnete ihre Skizzen und Zeichnungen, die während des Aufenthaltes in Schlehdorf entstanden waren und nun eingepackt werden sollten. Es waren einige Landschaften in Wasserfarben und einige Studienköpfe darunter, und die sämmtlichen Arbeiten verriethen zwar keine hervorragende künstlerische Begabung, aber doch ein hübsches, frisches Talent.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_802.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)