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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Friedel legte die einzelnen Blätter in die Mappe und verschlang sie dabei fast mit den Augen. Er trug noch eine breite, frische Narbe auf der Stirn, ein Erinnerungszeichen an jenen Sturz vom Felsen, sonst aber hatte er sich merkwürdig verändert in den letzten vier Wochen. Seine Haltung war freier und kräftiger, sein Aussehen frischer geworden, und statt der krankhaft bleichen Farbe zeigte sich bereits eine leise Röthe auf seinen Wangen. Die dunklen Ränder um seine Augen waren verschwunden, ebenso wie das Scheue, Gedrückte in seinem Wesen. Er trug auch nicht mehr die dürftige, abgetragene Kleidung, die er mitgebracht hatte, sondern einen nagelneuen Anzug, und die Joppe mit den grünen Aufschlägen und das Lodenhütchen standen ihm allerliebst, man sah es erst jetzt, daß der Friedel eigentlich ein sehr hübscher Junge war. Das arme, verkümmerte Stadtkind, das zum ersten Male die frische Bergesluft hatte athmen dürfen, zum ersten Male Freiheit und Freude kennengelernt hatte, war förmlich aufgeblüht bei dieser heilkräftigen Arznei.

In das muntere Geplauder, das Dora mit ihrem Schützling führte, kam der Herr Professor wie ein Ungewitter hineingefahren und störte die ganze Gemüthlichkeit.

„Hast Du denn ganz vergessen, daß es sieben Uhr ist?“ schalt er. „Deine Abendmilch sollst Du trinken, pünktlich soll sie getrunken werden! Da nahm ich den Jungen auf das unnütze Drängen des Doktors hin mit in die Berge, damit er ein menschliches Aussehen bekommen soll, und nun sitzt er da und guckt Bilder an, statt seine Milch zu trinken, um dann natürlich als das gleiche Jammerwesen nach Hause zurückzukehren. Auf der Stelle gehst Du nach dem Kuhstall!“

Dora hatte erstaunt zugehört. „Aber Herr Profestor,“ rief sie dann, „das klingt ja fast nach der dummen Menschenliebe, die Sie jüngst so furchtbar verurtheilt haben! – Geh nur, Friedel,“ fuhr sie fort, „ich werde schon allein fertig. Da nimm meinen Hut mit und trage ihn in das Haus!“

Der Knabe warf einen wehmüthigen Abschiedsblick auf die Zeichnungen, die er gar zu gern noch einmal angesehen hätte, aber er gehorchte, nahm den Hut – es war das Strohhütchen mit dem blauen Schleier, das Dora stets auf den Bergwanderungen getragen hatte – und trottete davon. Das junge Mädchen sah ihm nach und fragte dann den Professor:

„Finden Sie nicht, daß der Friedel sich merkwürdig erholt hat in den vier Wochen?“

„Das finde ich gar nicht merkwürdig,“ versetzte Normann. „Der Junge wird ja gepäppelt und verhätschelt und verwöhnt wie ein Prinz. Und einen neuen Anzug habe ich ihm auch kaufen müssen, der ein Heidengeld kostet!“

„Er sieht aber so hübsch darin aus! Uebrigens bat ich nur ganz bescheiden um ein neues Jäckchen, da kauften Sie den ganzen Anzug und noch dazu vom teuersten Stoff.“

„Weil ich mich schämte, daß der Junge in seinen Lumpen den ganzen Tag mit uns herumläuft. Sie nehmen ihn ja überall mit, es geht gar nicht mehr ohne ihn, und dabei trägt er höchstens Ihre Skizzenmappe, weil er sich beileibe nicht anstrengen soll. Ich muß mir meine Sachen selber tragen, ich werde überhaupt gar nicht mehr gefragt, eine förmliche Tyrannei wird über mich und den Knaben ausgeübt.“

„Friedel befindet sich aber sehr gut bei dieser Tyrannei,“ sagte Dora ruhig, „und Sie auch, Herr Professor.“

„Bitte, ich befinde mich sehr schlecht dabei, denn der Junge wird mir in Grund und Boden verdorben. Ich hatte ihn mir so schön angelernt. Er wagte früher in meinem Zimmer nicht den Mund aufzuthun, – jetzt schwatzt er nur so drauf los, fängt sogar an, aufzumucken. Bei jeder Gelegenheit bekomme ich zu hören: Fräulein Dora mag das aber nicht! Fräulein Dora will das aber so haben! Und dann thut er natürlich, was das gnädige Fräulein will, und kümmert sich den Kuckuck um mich und meine Befehle.“

„Ja, warum lassen Sie sich das gefallen?“ fragte Dora. „Ich thäte es eben nicht an Ihrer Stelle!“ Dabei nahm sie ihren Sonnenschirm von der Bank und lehnte ihn seitwärts an das Holzgitter.

„Ja, warum lasse ich mir das eigentlich gefallen?“ wiederholte Normann in hochgradiger Entrüstung und nahm schleunigst den leer gewordenen Platz auf der Bank ein. „Sie kümmern sich ja gar nicht um meinen Widerspruch.“

„Nein, und ich leide es auch nicht, daß der Friedel wieder zur Maschine gemacht wird wie früher. Was gedenken Sie denn eigentlich mit ihm anzufangen, wenn Sie wieder in der Stadt sind?“

„Die Stiefel soll er mir putzen!“ erklärte der Professor mit grimmigem Behagen. „Oder glauben Sie etwa, daß ich ihn so weiter verhätscheln werde wie Sie, mein Fräulein? Schwindsüchtig ist er nicht, nur verkümmert, hat der Arzt gesagt, er braucht nur Luft, Bewegung, kräftige Kost. Nun, die hat er jetzt, und wenn er dabei gesund wird, um so besser für ihn! Dann aber ist es zu Ende mit dem Herrenleben, dann muß er wieder Stiefel putzen, vom Morgen bis zum Abend.“

„Haben Sie denn eine so unendliche Menge Stiefel?“ rief das junge Mädchen und brach in ein helles Gelächter aus, das den Professor vollends zur Verzweiflung brachte.

„Lachen Sie nicht, Fräulein Dora,“ sagte er zornig. „Ich muß dringend bitten, daß Sie mich nicht auslachen, mich –“

„Den Professor Julius Normann, die Leuchte der Wissenschaft, die so viele Stiefel besitzt, daß man vom Morgen bis zum Abend daran zu putzen hat,“ ergänzte Dora und lachte, daß ihr die Thränen in die Augen traten. „Das möchte doch über die Kräfte des armen Friedel gehen, und ich wollte Ihnen auch ohnedies einen ganz anderen Vorschlag machen.“

„Soll der Junge etwa Opernsänger werden?“ fragte Normann boshaft. „Oder soll ich ihn studieren lassen, damit er dereinst auch eine Leuchte der Wissenschaft wird?“

„Das gerade nicht, aber etwas Aehnliches. Sehen Sie sich einmal dies an – Friedels erste künstlerische Leistung!“

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüthen.

Zum Gedächtniß eines Menschenfreundes. Vor kurzem ist in Darmstadt ein Mann aus dem Leben geschieden, welcher dort in reger dreißigjähriger Thätigkeit bemüht war, der Noth um sich her zu steuern und Gemeinnütziges zu schaffen. Wilhelm Schwab – dies ist sein Name – hat auch in weitgehendem Maße erreicht, was er anstrebte. Er suchte mit den Schenkungen und Einrichtungen, die von ihm ausgingen, vor allem eine dauernde Wirkung zu erzielen. Nicht um flüchtige Almosen war es ihm zu thun, sondern darum, den in Armuth Gerathenen durch einsichtige Unterstützung die Möglichkeit zu bieten, sich selbst emporzuarbeiten. Die Anstalten, die er ins Leben rief, sollten deshalb gerade jenen zu Hilfe kommen, welche den guten Willen zur Arbeit besaßen: so der „Verein zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse kleiner Leute“ und namentlich die „Pfennigsparkasse“, die erste ihrer Art in Deutschland. Wie sehr er darauf bedacht war, nicht bloß durch materielle Unterstützungen, sondern ebenso durch gemüthliche und geistige Anregungen Segen zu stiften, das beweist der Umstand, daß er unentgeltlich Blumenstöcke an die Armen vertheilen ließ, um bei ihnen, die keinen Garten und kein Stückchen Land ihr Eigen nennen, die Freude an der Blumenzucht zu wecken, um einen freundlichen Wiederschein der Natur auch in ihre Wohnungen zu bringen. In seinem Testament hat er den größten Theil seines beträchtlichen Vermögens der Stadt Darmstadt vermacht mit der Bestimmung, die Zinsen zur Ausbildung begabter junger Leute zu verwenden.

Schwab hat im stillen gewirkt, er wollte nicht an die laute Oeffentlichkeit treten. Jetzt, da sich sein Auge geschlossen hat, ist es vor allem für die „Gartenlaube“, der er zu manchen Artikeln über gemeinnützige Bestrebungen die Anregung gegeben hat, eine Pflicht der Dankbarkeit, seinem Andenken ein ehrendes Wort zu widmen. Möge das, was er geschaffen hat, bleibende Wirkung haben!

Venetianische Fischerbarke. (Zu dem Bilde S. 793.) Kein Sterblicher dürfte das Alter des Schiffleins zu bestimmen wissen, das der Künstler in unserem Bilde veranschaulicht. Geflickt und kalfatert an allen Ecken und Enden, wurmstichig, vom Salzwasser des Oelanstriches längst beraubt, das Segel gleich einem Harlekingewande mit bunten Lappen bedeckt, das ganze Fahrzeug mit seinen schmutzigen Netzen, Körben, Fischbehältern und sonstigem Handwerkszeug einer Trödlerbude ähnlich: so treibt es hinaus in die unabsehbare, in allen Farben des Regenbogens schimmernde Fluth, vergoldet von den Strahlen der Morgensonne. Wie die kräftigen, geschmeidigen Männergestalten mit ihren wie in Bronze gegossenen Zügen scherzend und lachend hantieren! So mögen einst die Urväter des Völkchens vor vierzehnhundert Jahren als die ersten Bewohner der nachmaligen Beherrscherin des Meeres ausgezogen sein nach der geschuppten Beute.

Sie selbst, die rüstigen Gesellen, wissen allerdings so wenig von ihren Ahnen wie von der Poesie ihrer gottbegnadeten Heimath.

Ihr Sinn strebt ausschließlich nach nützlichen Zielen, zumal heute, da sie sich, wie die windgeschwellten Barkensegel in der Ferne verrathen, ein wenig verspätet haben. Was der Mann aus der vom leichten Morgendunst verschleierten Barke soeben herüberrief, klang nicht eben schmeichelhaft für die Langschläfer in unserem Schiffe. Indessen nur der Hauptschuldige,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_803.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)