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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

In einer von Birken und Eschen gebildeten Rotunde stand ein gußeiserner Kartentisch, eine kleine Bank dahinter. Auf dieser kauerte Gerda Brühl in sehr ungezwungener Stellung, einen Fuß hoch hinaufgezogen und unter sich geschlagen, beide Ellbogen vor sich auf die Tischplatte gestemmt, die Finger in die Ohren gesteckt und den Kopf tief über ein aufgeschlagenes Buch gebeugt. Halblaute Worte kamen über ihre Lippen, ab und zu durch einen schweren Seufzer unterbrochen.

„Karl I. 1649 enthauptet ― Karl II. bis 1685 ― Jakob II. bis 1688 ― Kampf bei Sedgemoor ―“

„Brav, Gerda! Immer fleißig?“ sagte Andree lächelnd und sah ihr über die Schulter in das offene Buch hinein.

Sie fuhr in die Höhe, starrte ihn ganz wild aus ihren großen Augen an und wollte augenblicklich aufspringen, verlor aber, vermöge des emporgezogenen Fußes, das Gleichgewicht und wäre von der Bank gefallen, wenn Andree sie nicht rasch erfaßt und gehalten hätte. Sie war während dessen glühend roth geworden. Endlich kam sie auf die Füße zu stehen und sagte nun steif und förmlich: „Guten Tag, Herr Andree! Wünschen Sie etwas von mir?“

Er schüttelte verwundert den Kopf.

„So fremd, kleine Freundin? Ist das hübsch, einem alten Kriegs- und Jagdkameraden gegenüber? Gewiß wünsche ich etwas von Ihnen: zunächst eine Hand und dann ein freundliches Gesicht!“

Die Hand wanderte herüber, aber das freundliche Gesicht blieb Gerda ihrem Freunde vorläufig schuldig. Sie sah zu Boden und kräuselte die Lippen.

„Was ist denn passiert, was hab’ ich Ihnen denn gethan?“ fragte er erstaunt weiter und klopfte mit seiner Linken sanft aufmunternd auf ihre Hand, die noch in der seinen lag.

„Nichts!“ erwiderte sie ausdruckslos und sah an ihm vorüber in die Luft.

„Nun also sehen Sie! Nichts! Und dazu machen Sie ein Gesicht, als sei Ihnen meine Gegenwart über die Maßen zuwider! Und ich war in allem Ernst so unbescheiden, mir einzubilden, Sie wären mir gut!“

Gerdas Lippen zitterten, sie wollte ihre Hand, die Andree noch immer gefaßt hielt, losmachen, aber er gab sie nicht her.

„Was ist denn mit Ihnen, Gerda? Onkel Grimm hat mir erzählt, Sie seien gesund und sehr glücklich, bald bei ihm zu sein ― aber es scheint mir, er hat sich geirrt!“

„O nein – das nicht!“

„Ich habe auch Ihre Schwester verschiedene Male nach Ihnen gefragt und bekam stets zur Antwort, es gehe Ihnen gut. Wo fehlt es denn nun?“

Sein Ton und Gesichtsausdruck waren so theilnehmend und gütig, daß Gerda sich zusammenraffte. Sie wußte ja selbst nicht recht, weshalb es sie so grenzenlos gekränkt hatte, daß er sich gar nicht mehr um sie bekümmerte, nur noch für Stella da war, nie nach ihr fragte … Doch! Er hatte ja nach ihr gefragt ― Onkel Grimm und auch Stella, er hatte es ja eben selbst gesagt. Gerda fand sich selbst ganz unausstehlich, sentimental, launenhaft und kindisch ― es war kein Wunder, daß sich die Menschen, den guten Onkel Grimm ausgenommen, nichts aus ihr machten!

„Ach ― ich bin bloß so dumm!“ sagte sie, über sich selbst ärgerlich, und sah Andree endlich ins Gesicht. „Ich denke, ich kann nicht ganz gesund sein! Schmerzen hab’ ich zwar keine, aber Onkel Grimm meint, ich habe zu wenig Blut, und ich wachse zu rasch.“

„Und das verhindert Sie, freundlich gegen mich zu sein?“ fragte Andree mit humoristischem Kopfschütteln. „Eine seltsame Logik!“

Hierauf blieb ihm Gerda die Antwort schuldig.

„Also englische Geschichte treiben Sie!“ nahm er nach einer kleinen Pause das Gespräch wieder auf. „Das Haus Stuart! Dann müssen Sie ja auch etwas vom Oliver Cromwell wissen, dem Puritaner-General. Soll ich Sie einmal ein wenig examinieren? Was meinen Sie?“

„Ach, um Gotteswillen!“ rief Gerda, halb ärgerlich und halb lachend, „das fehlte mir noch!“ Sie schlug mit Heftigkeit das aufgeschlagene Geschichtsbuch zu. Dabei flog ein loses Blatt heraus, und das junge Mädchen bückte sich hastig, um es an sich zu nehmen. Aber Andree war flinker als sie ― er hatte das Blatt im Fallen erfaßt und, im Begriff, es ihr zurückzugeben, einen flüchtigen Blick darauf geworfen.

Gerda war verlegen und beschämt. „Bitte, Herr Andree, sehen Sie es nicht an, geben Sie mir’s wieder!“

Er schüttelte nur stumm den Kopf und hob seine Hand so hoch, daß sie nicht bis zu ihm hinaufreichen konnte und nun neben ihm stand wie ein Kind, das etwas erlangen will und zu klein ist, um dazu zu kommen. ―

Ueber Andrees Gesicht flog ein belustigtes Lächeln, dann ward er wieder ernst.

„Haben Sie das gemacht?“ fragte er, noch immer die Augen auf das Blatt geheftet.

„Ja!“ antwortete Gerda kleinlaut.

Es war die Scene, die sie neulich beobachtet hatte: Kuno von Tillenbach, auf dem niedrigen Schemel zu Stellas Füßen sitzend, die Strähne Seide über den unbeholfen ausgestreckten Armen ― sein dummes Gesicht mit der Schafsfrisur und einem unglaublich komischen Ausdruck verliebten Schmachtens zu dem schönen Mädchen emporgehoben, den Mund offen, die spitzen Kniee hoch hinaufgezogen, die ganze Haltung eckig bis auf die Rockzipfel herab, die am Boden schleifen ― seitwärts davon, sehr absichtlich abgewendet, nur im verlorenen Halbprofil zu sehen, Prinz Riantzew, in seiner ganzen Stellung deutlich Aerger und Mißbilligung ausdrückend, im übrigen tadellos mit seinem dandyhaften Anzug, dem herabhängenden Monocle, der korrekten Frisur. Stellas Gestalt war eben nur in ein paar Linien angedeutet und in keiner Weise ausgeführt, der Hintergrund von Busch und Baum auch nur leicht skizziert.

Es waren auffallende Fehler in dieser kleinen Zeichnung, das sah ein so geübter Blick wie der Andrees sofort. Die Perspektive war schlecht, die Entfernung zwischen den Personen falsch bemessen, die Formen unsicher … was aber dem Ganzen den Stempel des entschiedensten Talentes aufdrückte, das war der ungemeine Scharfblick, mit dem hier das Charakteristische der betreffenden Persönlichkeiten hervorgehoben war, und der ungewöhnlich entwickelte Sinn für Humor, der aus allem sprach.

Als Unterschrift zeigte das Bildchen in Gerdas knabenhaft ungleicher Handschrift die Worte: „Eine Partie mit dem Strohmann“ ― und in einem Eckchen, kaum sichtbar: „G. B. fecit. Den 10. Mai.“

„Bei wem haben Sie Zeichenstunde?“ fragte der Maler nach einer Weile.

„Bei niemand! Bis vor zwei Jahren bei Fräulein Lührmann – dann kam Herr Hilt, um Wolfgang Zeichenunterricht zu geben, aber den kann ich nicht leiden, und so nahm ich lieber gar keine Stunden, obschon es mir sehr leid thut!“

„Was mißfällt Ihnen denn so an Hilt?“

„Alles! Sein Gesicht ― und seine Sprache ― und sein Wesen ― alles! Er ist doch nicht etwa Ihr Freund?“

„Und wenn er es wäre?“

„Könnte ich auch nichts anderes von ihm sagen! Aber nicht wahr, er ist es nicht?“

„Nein, er ist es nicht! Doch genug von ihm! Warum haben Sie die Figur Ihrer Schwester nicht ausgeführt wie die beiden andern?“

„Weil ich bloß Karikaturen machen kann! Das macht mir Spaß ― aber sonst nichts anderes!“

„Prinz Riantzew ist doch keine Karikatur!“

„Sonst nicht ― nein! Aber wie er so dastand, war er eine. Er war so entsetzlich böse! Selbst die Haare in seinem Schnurrbart sträubten sich vor innerer Empörung.“

Andree sah auf das Blatt: richtig, das Stückchen Schnurrbart, das von dem Prinzen sichtbar war, stand steif und nadelspitz empor. Er mußte lachen.

„Haben Sie oft solche Bilderchen gemacht, Gerda?“

„Natürlich!“ gab sie energisch zurück. „Das heißt, aus dem Gedächtniß gerathen sie mir nicht so gut ― diesmal stand ich hinter einem Busch verborgen und zeichnete nach der Natur.“

„Wen haben Sie denn schon abkonterfeit?“

„Na! Alle meine Lehrer natürlich ― und Frau Willmers ― und Hilt ― und Konsul White ― und Dudu ― und manche von den Herren, die zu Papa kommen ―“

„Mich auch?“

Sie sah ihn entrüstet an.

„Sie? Ich sagte doch schon, ich kann bloß Karikaturen zeichnen. Aus Ihnen läßt sich doch keine machen!“

„Hm! Wer weiß! Wenn ich so dagesessen hätte wie Kuno und Ihrer Schwester die Seide gehalten haben würde ―“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_806.jpg&oldid=- (Version vom 12.11.2023)