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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Herr Grimm rieb sich die Hände und schmunzelte behaglich vor sich hin.

„Und Hafis?“ fragte Andree.

„Der rebellierte zuerst ganz offen. Es ist überhaupt keine versteckte Katzenart in ihm, nichts Hinterlistiges, Feiges – er ist offen und loyal, er hat einen aristokratischen Sinn! Als Gast hat er Gerda immer gern gehabt, sie stets freundlich mit Spinnen und Zutraulichkeiten begrüßt, ihr gewissermaßen die Honneurs meines Hauses gemacht – aber als er sie nun beständig um meine Person sah, wurde er stutzig, seine Eifersucht erwachte. Er sträubte sein schönes Fell wie eine Bürste, seine Augen funkelten, er ließ sich nicht mehr auf den Schoß nehmen und streicheln, ging oft im Kreise um Gerda herum, als wolle er sie beobachten, er fraß wenig und magerte ab. Was thun? Gerda abschaffen Hafis zuliebe? Nicht daran zu denken! Hafis abschaffen Gerda zuliebe? Gleichfalls unmöglich! Man mußte den Dingen einfach ihren Lauf lassen. Dies that ich, und ich hatte es nicht zu bereuen. Als mein kluger Hafis sah, daß alles blieb, wie es war, daß die neue Bewohnerin ihn nicht von seiner Sofalehne und nicht von seinem Platz in meinem Herzen verdrängte, ihn unbeanstandet seinen Gewohnheiten überließ, ja selbst zu seinem Behagen noch mehr beitrug – da streckte er allmählich die Waffen. In diesem Kater steckt ein Philosoph, müssen Sie wissen! Wer an die Seelenwanderung glaubt, der könnte merkwürdige Dinge an diesem außerordentlichen Thier beobachten. Jetzt ist also die Hausordnung bei mir eine musterhafte, und ich hoffe, Sie kommen in Bälde zu mir, um sich davon zu überzeugen!“

Andree versprach das, führte es auch aus, traf aber Herrn Grimm allein an, da sein Adoptivkind mit Wolfgang und dessen neuem Freund eine kleine Segelpartie unternommen hatte. Der Maler unterhielt sich angeregt und lebhaft mit dem Hausherrn, vertrug sich ausgezeichnet mit Frau Müller und Hafis, dem Philosophen, bedauerte aber sehr, Gerda nicht angetroffen zu haben. Er hätte gar zu gern gesehen, wie sie sich als Herrn Grimms Pflegetochter ausnehme.

Inzwischen kam der Herbst heran, der Oktober stand vor der Thür, und immer noch hörte man nichts von der Familie Brühl. In Andree wohnte eine täglich wachsende Unruhe, selbst seine Kunst wollte ihm nicht mehr recht helfen. Die Sonnenpferde der „Eos“ waren nahezu vollendet, ebenso Himmel und Luft; die Göttin aber fertig zu malen, vermochte er nicht über sich. Trotz der vielen Skizzen von dem schönen Mädchen, die sich in seinem Besitz befanden, Skizzen, von denen ihm sein eigenes Urtheil sagte, sie seien gut, zum Theil sogar vorzüglich gelungen, schreckte er davor zurück, die letzte Hand an diese Figur, dies Gesicht zu legen, machte er sich immer wieder an andern Dingen zu schaffen. „Ich kann es nicht vollenden ohne sie,“ sagte er sich. „Sie selbst muß kommen.“

Aber sie kam nicht.

Und nun machte der Herbst, der lange schon gedroht und verschiedene unangenehme Vorboten als Warnung ins Land geschickt hatte, wirklich Ernst und trat sein rauhes Regiment an.

Und wie that er das!

Es schneite, es hagelte, es regnete, es tobte und stürmte. Es riß die Blätter von den Bäumen und entführte sie in einem tollen Wirbelsturm weithin in die Lüfte. Es sauste gegen die Häuser, klatschte gegen die Fensterscheiben, schoß in schmutzigen Bächlein die Straßen entlang. Die schöne Alster – wie sah sie aus! Die hübschen Ufer – was war aus ihnen geworden! Nasse Nebelfetzen hingen an den halbkahlen, geplünderten Bäumen, das Laub an den Büschen war erfroren und hing schlaff und kläglich nieder, unabsehbare Dohlenschwärme segelten mit heiserem Mißlaut über die Gärten weg und verloren sich im farblosen Grau des Himmels. Endlos troff der Regen nieder – von den Dachrinnen, von den Schirmen, Kleidern, Tüchern – hoffnungslos und entsetzlich! –

Andree ging nur selten auf die Straße, er hatte sich einen ganzen Haufen theils wissenschaftlicher, theils unterhaltender Bücher aus Buchhandlungen und Bibliotheken zusammengetragen und lag nun stundenlang auf dem breiten niedrigen, mit weichen Stoffen behangenen Divan in seinem Atelier und las. Ihm zur Rechten prasselte ein schönes rothes Feuer im Kamin, ihm zur Linken stand ein kleiner Tisch mit Wein und Cigaretten – hob er den Blick, so sah er gerade auf die „Eos“, die, mit packender Leuchtkraft gemalt, des unholden trüben Wetters zu spotten und das ganze große Atelier mit Licht und Glanz zu erfüllen schien. Es war alles da, um den Raum und die Existenz darin für den Bewohner „riesig gemüthlich“ zu machen – so fand es Herr Grimm, der Andree wieder einmal besuchte: die „Eos“ hatte es ihm angethan! – und so fand es auch Andree selbst, der so sehr die Behaglichkeit liebte! Wenn nur sein Inneres mit dieser harmonischen Umgebung mehr im Einklang gestanden hätte! Das war’s! Ihm war nicht harmonisch zu Muth – ganz und gar nicht! Gegen seinen Willen gab ihm dies lange Fortbleiben Stellas zu denken. „Ein paar Wochen!“ hatte sie gesagt – und: „Ich komme bald wieder!“ und dies mit einem Ausdruck, der ihm alles Blut zum Herzen gejagt, ihn schwindlig vor Glück gemacht hatte. Um die Mitte des August war sie abgereist – jetzt ging der Oktober auf die Neige, und sie war noch immer nicht da! Konnte sie krank sein? Diese blühende, rosige Jugend? War sonst irgend etwas geschehen, was diese Reise so ins unendliche ausdehnte? Aber was konnte dies sein? Herr Grimm wußte es nicht, oder wenn er es wußte, sagte er es nicht; er schüttelte auf Andrees erregte Fragen und Muthmaßungen nur stumm den Kopf und hatte ein Lächeln auf seinem Gesicht, das den meisten andern Menschen als sehr seltsam aufgefallen wäre, aber dem Maler fiel es nicht auf!

Liebte sie ihn nicht? Werner Troosts Warnung fiel ihm ein, seine Bitte, sie zu stützen, zu veredeln, ihr Wesen zu vertiefen – sie sei ja so jung und schön und namenlos verwöhnt, es sei alle Gefahr für sie da, daß sie der Weihrauch der Anbetung verderbe!

Dieser Gefahr war sie jetzt mehr denn je ausgesetzt. Und er konnte sie nicht davor behüten. Ihre Eltern schützten sie auch nicht davor – im Gegentheil, sie riefen die Gelegenheit herbei.

Wenn diese Gedanken über den einsamen Mann kamen – und das geschah immer häufiger von Tag zu Tag – dann sprang er wohl ungeduldig von seinem weichen Ruhebett auf und ging mit großen Schritten hin und her. Zwischendurch griff er zum Stift, zum Pinsel und versuchte immer aufs neue, eine Mignon wiederzugeben – seine Lieblingsidee, die ihn schon in Rom verfolgt hatte. Umsonst! Sein Stift irrte ziellos über das Papier, es wollte sich ihm nichts gestalten. Dabei quälte es ihn, daß ihm nebelhaft, im Hintergrund seiner Gedanken, ein Etwas vorschwebte, das zu diesem Bilde paßte – sowie er aber versuchte, ihm greifbare Gestalt zu geben, zerflatterte dies nebelhafte Etwas in ein wesenloses Nichts. Zuweilen, wenn er sich fürs Lesen wie fürs Malen zu ruhelos fühlte, wenn es ihn um keinen Preis zwischen seinen vier Wänden litt, wickelte er sich in einen warmen Mantel, drückte eine englische Schirmmütze tief in die Stirn und ging in den Regen und Nebel hinaus, seinen Lieblingsweg – zum Hafen. Er sah da viel Fesselndes und Charakteristisches, und wenn er es auch nicht skizzieren konnte, so behielt er doch manches packende Motiv im Gedächtniß und „schrieb sich’s zu Hause auf,“ wie er es nannte, wenn er auf lose Blätter, die in einer großen Mappe lagen, kleine beobachtete Scenen aus dem Leben hinwarf.

An einem der ersten Novembertage begab sich das Wunderbare, daß die Sonne zum Vorschein kam. Man hatte sie solange nicht gesehen, daß alle Welt sie mit Entzücken begrüßte. Es ist merkwürdig, wie der langentbehrte Sonnenschein die Erwartung belebt, die Hoffnung erweckt! Hundertmal sagt man sich: der Sonnenschein thut’s nicht! Eine leise Stimme antwortet immer wieder: vielleicht geschieht heute dennoch das, was Du Dir wünschest!

Und als Andree an diesem sonnigen vierten November seinen gewohnten Spaziergang antrat – siehe, da hatte das stattliche Haus des Herrn Brühl seine Augen wieder aufgeschlagen. Die Vorhänge waren emporgezogen, die Fensterscheiben blinkten im Sonnenschein, das Gitterthor stand weit offen. Wie ein Träumender schritt Andree hindurch. Es hatte ihn wie ein Schlag getroffen, als er das zum Leben erwachte Haus sah, und das Herz schien ihm still zu stehen in Erwartung.

Er war ja jetzt ein naher Freund des Hauses geworden, mußte nicht warten, bis man ihn rief – er konnte sich auf sein gutes Recht berufen!

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_811.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)