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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Die vier Zurückbleibenden empfanden kein Gefühl der Erleichterung, als die beiden gegangen waren – nun war der Kreis ganz klein, auf die allernächsten Angehörigen beschränkt, aber es gab kein vertrauliches Band zwischen ihnen, daher war ihnen dies Beisammensein peinlich.

Umsonst versuchte Andree, jenes grenzenlose Glücksgefühl, das ihn vor kaum einer halben Stunde überwältigt hatte, zurückzugewinnen, es gelang ihm nicht. Er war erzürnt über sich selbst – was war denn geschehen? Stella hatte ihm gestanden, daß sie ihn liebe; daß ihre Eltern ungern ihre Einwilligung geben würden, daß sie sich lieber einen andern Schwiegersohn gewünscht hätten, wußte er ja schon vorher. Was gingen ihn denn auch die Eltern an? Er hatte kein herzliches Gefühl für sie – es that ihm leid, aber er konnte sich nicht dazu zwingen!

Die heimliche Verlobung war zwischen ihm und Stella schon zuvor beschlossen gewesen, die Sache hatte ihm widerstrebt, aber er war doch darauf eingegangen. Nun wußten es zufällig ein paar Personen mehr, und gerade ihm würde alles jetzt bedeutend leichter gemacht werden als früher; Stellas Angehörige wußten, daß er ihr Verlobter war, sie brauchten daher beide keine Heimlichkeiten auszusinnen und Unwahrheiten zu sprechen. – Dennoch, trotz der zum Vortheil veränderten Lage, dies schwere Herz!

Die Welt mit ihrem kalten, prosaischen Hauch hatte sein heiß aufwallendes Gefühl gedämpft, die Schwingungen seiner erregten Seele hatten nicht in Ruhe ausklingen können, eine schrille Disharmonie hatte sie durchkreuzt. Er blickte auf das liebreizende Geschöpf an seiner Seite. Da stand sie, sein Abgott, sein künstlerisches Ideal, sie, nach der seine Seele lange Zeit in jeder Stunde stürmisch verlangt hatte – und sie war seine Braut! Narr, dreifacher Narr – warum bist Du denn jetzt nicht überschwänglich glücklich?

Und Stella selbst? Sie sah Waldemars beobachtenden Blick von der Seite, und sie bemühte sich, ihr gewohntes strahlendes Lächeln um ihre Lippen zu zwingen. Es kam denn auch, dies Lächeln, aber es hatte nichts recht Natürliches. Papa und Mama Brühl hatten sich diskret zum Fenster begeben, so weit als möglich von dem neuen Brautpaar entfernt, sie kehrten demselben den Rücken zu und flüsterten sehr eifrig mit einander. Das junge Paar fing schließlich auch an, zu flüstern, aber es kam nur zu einsilbigen Fragen und Antworten. Andree hatte die Hand seiner Braut gefaßt, er führte sie von Zeit zu Zeit an seine Lippen, und ihr Haupt war leicht an seine Schulter gelehnt. Sie verabredeten die nächste Sitzung, und Stella meinte, Mama werde wohl dazu mitkommen. Er berichtete ihr seine Bekanntschaft mit dem Holländer van Kuythen und schilderte dessen schönes Viergespann. Stella that manche Zwischenfrage und interessierte sich allem Anschein nach sehr für jede Einzelheit seiner Kunst; sie verspreche sich in jeder Hinsicht viel von der Ausstellung, die werde und müsse etwas Entscheidendes herbeiführen. Sie ahnte nicht, welch prophetisches Wort sie damit aussprach!

Schließlich wandte sich Frau Brühl vom Fenster zurück und bedauerte sehr höflich, Andree heute keine Einladung zum Essen zutheil werden lassen zu können. Sie seien heute, den Tag nach ihrer Ankunft, noch gar nicht recht eingerichtet, die lange Abwesenheit habe, trotz der Vortrefflichkeit der Willmers, alles aus dem Geleise gebracht, man müsse auch das Auspacken der guten Toiletten selber überwachen, dergleichen könne man unmöglich den Leuten überlassen, und ohne Zweifel werde die Familie selbst heute nur nothdürftig abgespeist, die ganze Maschine sei ins Stocken gerathen und die Dienerschaft werde außer stande sein, eine einigermaßen genießbare Mahlzeit zusammenzustellen.

Andree pflichtete all diesen Auseinandersetzungen höflich bei, erhielt eine Einladung zum Essen am folgenden Tage und die Zusicherung, daß Stella übermorgen vormittag mit der Frau Senator zur Sitzung bei ihm im Atelier erscheinen werde, dann empfahl er sich, und es hielt ihn niemand zurück.

Auch Stella nicht, trotzdem sie ihm beide Hände zum Abschied reichte und ihm dann die Lippen zum Kuß bot. Die Eltern schärften ihm noch einmal strengste Bewahrung des Geheimnisses ein, und nun schied er. Sehr langsam, wie ein im Traum Wandelnder, ging er die Treppe herab, die er vor kurzem so eilig emporgestürmt war. Er mußte flüchtig daran denken, wie er bei seinem ersten Besuch im Brühlschen Hause Gerda und Wolfgang auf eben dieser Treppe im Handgemenge mit dem Sohn des Portiers angetroffen hatte, und dabei fiel ihm ein, wie seltsam sich Gerda eben gegen ihn benommen hatte. Auch Grimm –00

Auf der untersten Stufe angelangt, hörte er von oben her ein klägliches Winseln ertönen, das durch das ganze Haus schallte. Dann verstummte es mit einem Male, und eine schwere Thür wurde dröhnend zugeworfen. Danach blieb alles still. Andree war die Stimme bekannt vorgekommen, er dachte aber nicht weiter darüber nach. –

Die schöne Stella hatte Dudu für seine so schwerwiegende Unachtsamkeit geohrfeigt, ihn dann in eines der oberen Zimmer eingesperrt und auf einen Tag zum Hungern verurtheilt. –0




21.

Indessen war Herr Bernhard Grimm mit seinem Pflegekinde nach dem andern Flügel des Hauses hinübergegangen.

Gerda weinte nicht mehr. Aber sie athmete stoßweise, und ihr junges Gesicht war so finster wie eine Wetterwolke. Herr Grimm hatte sie bei der Hand genommen wie ein kleines Mädchen, das man noch leiten muß, und sah sie zuweilen mit einem raschen, prüfenden Blick von der Seite an. –

Oben in dem gemüthlichen Wohnzimmer kam ihnen Hafis entgegen. Er begrüßte zuerst den Hausherrn, dann stieß er mit dem Kopf zärtlich an Gerdas Knie, wozu er laut spann. Frau Müller war bei den Blumen thätig gewesen, ihre Wirthschaftsschürze war ganz naß vom eifrigen Begießen, und sie hatte die Hände voll abgeschnittener Schößlinge und Ranken. Ihr faltiges Gesicht hellte sich auf, als sie Gerda gewahrte, die ihr etwas gezwungen zulächelte. Die Alte schlich sich dicht an das junge Mädchen heran und flüsterte mit geheimnißvollem Augenzwinkern: „Heut giebt’s Schildkrötensuppe, Gerdachen! Was Delikates!“ – Grimm sollte es nicht hören, stellte sich auch taub, schmunzelte aber behaglich.

Gerda blieb mitten im Zimmer stehen und schaute sich darin um, als sehe sie es zum ersten Mal. Ihre Augen wurden feucht. Wie traulich war es hier, wie heimathlich! Und hier sollte sie ihr Heim haben! Was hätte aus ihr werden sollen, wenn sie jetzt und immer im andern Flügel dieses Hauses hätte bleiben müssen, bei den Ihrigen, die doch die Ihrigen nicht waren! Sie hatte die Empfindung, als könnte sie es jetzt gar nicht mehr ertragen, bei ihren Eltern, bei ihrer Schwester zu leben. Ja, wo hätte sie bleiben sollen, wenn Onkel Grimm nicht gewesen wäre! –

Ihr dankbares Herz strömte über. Sie legte ihren rechten Arm um ihres Pflegevaters Hals und streichelte mit der Linken Frau Müllers runzlige Wange. Dann hob sie Hafis vom Boden empor und nahm ihn auf den Arm. Der „Zauberer“ drückte die Augen halb zu und schnurrte aus Leibeskräften.

„Onkelchen, ich bin so glücklich, daß Sie mich zu sich genommen haben!“ sagte sie tiefathmend. „Und Frau Müller ist auch immer so gut zu mir und Hafis auch!“

„Ja, wir finden alle drei, daß sich’s jetzt zu vieren doch noch besser lebt als vorher, nicht wahr, Frau Müller?“ fragte Herr Grimm gutlaunig.

„Na ja, Herr Grimm!“ gab die Alte zurück. „Aber jemand anders als Fräulein Gerda hätte es auch nicht sein dürfen, das hätten Hafis und ich nicht erlaubt – wie, Hafis?“

Die Perserkatze blinzelte verständnißvoll mit den Augen.

Frau Müller ging, um nach ihrer delikaten Schildkrötensuppe zu sehen, und Herr Grimm zog Gerda neben sich auf das Sofa. „Das heißt, wenn Du lieber auf Dein Zimmer gehen willst, dann lauf’ nur!“

„Nein, danke Onkel, ich möchte bleiben!“

Sie hatte Hafis auf dem Schoß behalten und streichelte gedankenvoll sein seidenglänzendes Fell.

„Sie freuen sich auch nicht, Onkel, nein?“ fragte sie nach einer Weile.

„Nein, ich freue mich auch nicht! Ich habe Andree liebgewonnen, und es wäre mir sehr leid, wenn er unglücklich werden sollte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_827.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)