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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

da lebte die Erinnerung an die großen Unsterblichen, die in Weimar gewirkt hatten, noch mit persönlicher Kraft in allen Herzen. Das und jenes hatte der Herr „Geheimderath“ zu einem seiner Beamten, zu einem seiner Arbeitsleute gesagt. Wahr oder erfunden, das wurde nicht untersucht, es ging von Mund zu Mund. Die noch in frischem Angedenken lebende Gestalt Goethes trat durch hundert kleine, jetzt für das große Gesammtbild seiner Wesenheit nebensächliche Züge für uns damals in lebensvolle Erscheinung. Ein kleiner verwachsener Tapezierer, Werner mit Namen, der sich rühmte, des Herrn „Geheimderath“ Kanapee in dessen Hause neu aufgepolstert und dabei mit Excellenz in Knüttelversen gesprochen zu haben, war ein vielbegehrter Arbeiter in den Familien. An Schiller mahnten nur wenige volksthümlich gewordene persönliche Erinnerungen; er war schon zu lange tot, die Familie war weggezogen. So kam es, daß er nur in der Verklärung, aber auch in der persönlichen Entfremdung des Dichters unter uns lebte.

Wir kleinen Mädchen athmeten damals ganz die Luft der alten Zeit; zusammen mit uns besuchten Herders und Wielands schöne Enkelinnen die Fiege’sche, später die Schulze’sche Schule. Herders Enkelin, Jenny Aulhorn, blieb die ganze Kinderstudienzeit hindurch meine Schulnachbarin, Bianka Wieland war meine kleine Gefährtin bei Herstellung der hübschen, kleinen Handarbeiten, die wir Kinder anfertigten, auch beim Spinnen, das damals noch mehr gepflegt wurde als heutzutage. Wenn zur Weihnachtszeit Bianka und ich uns mit den Fenstervorsetzern gegen die neugierigen Blicke ihres ernsten Papas, des Sohnes von Wieland, verbarrikadiert hatten, wenn sie selbst mit dem von uns Kindern vielbeneideten Rosenantlitz zu leiser Rede sich zu mir neigte, da erlebte ich Märchen. Der Großpapa konnte ja jeden Augenblick herausschreiten aus dem Bild, an der Wand; der freundliche Mann mit dem schwarzen Sammetkäppchen schien sich über unser Geheimthun zu freuen, und ich war ihm ja keine Fremde! Denn wie liebte ich die unverstandenen Werke des „Großpapa“!

Kein Schulkind hat je wieder so eifrig den „Goldnen Spiegel oder die Könige von Scheschian“ gelesen als Bianka und ich. Ich möchte es auch, aufrichtig gesagt, keinem mehr anrathen. Wir aber lasen das Buch unter persönlicher Ermuthigung der freundlichen Augen; weil es uns wahrscheinlich im Bücherschrank zuerst in die Hände gefallen war. Tili und Alibanda nannten wir uns damals, ich weiß nicht mehr, aus welchem Grunde. Biankas Wangenrosen sind leider früh verblüht. Als ich nach längerer Abwesenheit mein geliebtes Weimar wieder einmal besuchte, fand ich sie nicht mehr unter den Lebenden. Auch Weimar selbst hatte sich so sehr verändert, es war so viel größer und moderner geworden. Ich erkannte es zuerst kaum wieder.

Ich erzähle alle die kleinen Erinnerungen an die Kinderzeit im Enkelkreise der berühmtesten Männer meiner Vaterstadt aus dem Gedächtniß; kaum kann ich eine Jahreszahl bestimmen, wann dies oder jenes geschah, mir erscheint auch die ganze Zeit heute wie ein Märchen voll Glanz und Glück, und ich forsche nicht nach der Zeitenfolge der kleinen Begebnisse.

Meine Eltern wohnten Ende der dreißiger, anfangs der vierziger Jahre in der Großen Windischengasse bei einem Fräulein Spangenberg. Hinter dem Hause lag ein Garten, der durch ein Holzstaket auf ziemlich hoher Steinmauer von der Straße getrennt war. Auf morscher Treppe stieg man zu einem Altan hinauf, der die Aussicht auf diese Straße, damals Esplanade, jetzt Schillerstraße genannt, hatte. Das Haus bewohnten mehrere Familien, aber es war allen untersagt, in den Garten zu gehen, auch meinen Geschwistern. Ich allein hatte mir die Erlaubniß erbettelt, erschmeichelt, erlistet. Ueber den Altan neigte ein alter Birnbaum seine Zweige tief, tief herunter; dort saß ich oft versteckt und las. Die ganze linke Seite des Gartens begrenzte ein hohes Haus mit vielen Fenstern, wenigstens hielt ich es damals für sehr hoch. Flieder- und Holunderbüsche unseres Gartens reichten bis zu den Parterrefenstern des bewunderten Hauses hinauf, dessen Eingang auf der Esplanadenseite lag. Das war der Grund, daß mir das Haus immer geheimnißvoll erschien. Aus den geöffneten Fenstern drang öfters der Ton von Menschenstimmen, zuweilen zeigte sich auch auf kurze Zeit ein Gesicht an den Scheiben, aber nie konnte man von unserer Seite irgend jemand das Haus betreten sehen.

Auf halber Höhe meiner stillen, grünen Blätterwiege, in der ich versteckt träumte, befand sich, nahe der Straße, an jenem hohen Hause ein sehr kleines Balkönchen, von Holzpfeilern gestützt, die in den Boden unseres Gartens eingerammt waren. An warmen Sommertagen führte man einen alten, fast gelähmten Herrn auf den kleinen Balkon, damit er sich daselbst sonne. Der alte Herr hieß Völcker – seine nächsten Verwandten wohnen noch in Weimar –; Fräulein Spangenberg, unsere Wirthin, hatte ihm das Anbringen dieser luftigen Freistatt in ihrem Garten erlaubt, weil er sonst zu wenig Luft und Sonne genießen könne.

An einem schönen Frühlingstage lag ich wieder, von Bienen umsummt, von Blüthenduft umwogt, hinter meinem grünen Blätterschleier, als der alte Herr herausgeführt wurde. Aber nicht der Diener allein trat mit ihm ins Freie, ihm folgte ein junges Mädchen, fast nicht größer als ich, welches ihm das Kissen und die hohe Fußbank rückte und dabei mit fester, wenig kindlicher, aber doch sehr wohlklingender Stimme den alten Herrn neckend schalt. Ich höre sie noch, diese Stimme, obwohl ein halbes Jahrhundert zwischen heute und damals liegt. Neugierig lugte ich durch meine Zweige, deren Rascheln dem jungen Mädchen nicht entging. Mit großen, blitzenden Augen sah sie zu mir herauf, lehnte sich mit beiden Armen auf das Geländer des Balkons und fragte, als ob sie alles Recht der Erde zu dieser forschenden Frage habe:

„Was thust Du da oben?“

Scheu und leise antwortete ich: „Ich lese.“

„Was liest Du denn?“

„‚Gumal und Lina‘!“ Es war das ein damals viel gelesenes Werk des Pfarrers Lossius.

„Das ist dummes Zeug, das mußt Du nicht lesen; komm’ herunter, ich hole Dir ein anderes Buch.“

Sie hatte kein einziges zärtliches Wort zu mir gesagt, hat dies überhaupt in den leider nur zu kurzen Jahren unseres Zusammenlebens nie gethan – aber von diesem Augenblicke an hing mein Herz an ihr. Es war etwas Gebieterisches, Fremdartiges, Vornehmes, Selbstbewußtes in ihr, das mich vollständig in ihre Nähe bannte. Sie hätte mit mir thun können, was sie wollte. Ich stieg vorsichtig meine gebrechliche Holztreppe herab – noch in diesem Augenblick erinnere ich mich, wie sehr ich das Knarren des grauen, morschen Holzes vermied – und harrte unfern des Balkönchens, was sich begeben würde. Sie war verschwunden, kam aber nach wenigen Augenblicken zurück und warf mir ein Buch zu mit den Worten: „Da hast Du ein Buch vom Großpapa! Komm morgen wieder!“

Ich hob das Buch auf. Es war der erste Band von Goethes Werken mit den Gedichten. Zum ersten Mal hielt ich diesen Schatz in der Hand. Schillers und Goethes Werke waren damals noch sehr theuer und nicht in jeder Familie heimisch. Es hat einige Zeit gedauert, ehe ich erfuhr, daß der Unsterbliche noch mehr Werke geschaffen hat als das kostbare, das ich jetzt in Händen hielt. –

Das war der Anfang einer tiefen und reinen Kinderfreundschaft. Sie war einige Jahre älter als ich; ich arm, sie reich; ich sehr einfach, sie sehr selbstbewußt. Wir sahen uns täglich, heimlich und offen, wie es eben ging. Wenn sie mir vom Balkon herab, oder aus den über unsern Holunderbüschen liegenden Küchenfenstern ihres großmütterlichen Hauses, oder beim Herumstreifen an all den ihr vertrauten, durch Goethes Fuß geweihten Plätzen des Parks, oder gar einmal im Garten des großväterlichen Hauses vorerzählte, wie schön es bei Großpapa gewesen sei, kam es mir natürlich nicht in den Sinn, zu überlegen, ob sie bei Goethes Tod schon so groß gewesen sei, daß sie noch eine klare Erinnerung an das Leben mit ihm haben könne. Kinder fragen nicht, wann jemand geboren, noch wann ihnen ein geliebtes Wesen gestorben. Ihnen genügt die Thatsache des Seins und des Gewesenseins. Wie für sie das Leben mit Großpapa, so war mir das Leben mit ihr ein Traum, ein Märchen. Mit ihr habe ich Goethes Gedichte zuerst gelernt, der Reihe nach, ohne Auswahl, aber mit einer Liebe und Begeisterung ohnegleichen. Ich fürchtete mich vor ihrem Urtheil über mein „Deklamieren“, wie wir es stolz nannten, mehr als einige Jahre später vor dem Eckermanns, der an meiner jungen Goethebegeisterung seine Freude hatte und, trotz seiner grämlichen Einsamkeit in einem Garten nahe beim sogenannten „Goldbrunnen“ am Fuße des Ettersberges, sich die Besuche der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_830.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)