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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

so wenig verhehlte er sich, daß die Schroffheit und Rücksichtslosigkeit des neuen Professors vielfach verletzen werde. Dieser änderte sich schwerlich, wenn er in der neuen Stellung sein altes Einsiedlerleben fortführte und sich wie bisher hartnäckig jeder Geselligkeit verschloß.

„Ich werde ihm noch einmal ins Gewissen reden,“ sagte Herwig halblaut, „obwohl ich kaum glaube, daß es helfen wird. Ich komme allenfalls noch mit ihm aus, ob das aber auch den andern möglich sein wird –“

Er hielt urplötzlich inne und prallte förmlich zurück bei dem Anblick, der sich ihm bot. Auf einer kleinen rebenumsponnenen Altane, deren Ranken die ersten zarten Blättchen trieben, saß seine Tochter und neben ihr – der vermißte Kollege, mit dessen Schroffheit und einsiedlerischen Neigungen er sich eben noch beschäftigt hatte. Augenblicklich war aber nichts von diesen beiden Eigenschaften an dem Herrn Professor wahrzunehmen, er hatte den Arm um das junge Mädchen gelegt und küßte wieder und immer wieder das rosige Gesichtchen, und Dora ließ sich das ganz ruhig gefallen. Beide waren so vertieft in das Küssen und Geküßtwerden, daß sie gar nicht den Nahenden bemerkten, der starr und regungslos dastand wie eine Salzsäule und erst nach einigen Minuten die Sprache zurückgewann.

„Aber Dora! – Herr Kollege!“

Die Gerufenen sprangen auf, Dora stand da wie mit Gluth übergossen, Normann jedoch stürzte auf den Ueberraschten los und überfiel ihn mit einer stürmischen Umarmung.

„Kollege! Schwiegervater! Da bin ich und stelle mich als Schwiegersohn vor!“

Wäre ihm ein Schwiegersohn aus den Wolken und geradeswegs vor die Füße gefallen, Herwig hätte nicht erstaunter und erschrockener aussehen können als bei dieser Ankündigung, und als nun auch Dora herbeiflog und ihren Kopf an seiner Schulter barg, rief er ganz fassungslos:

Aber Kind, ums Himmelswillen, was soll das heißen? Hast Du wirklich –“

„Ja, sie will mich, Kollege!“ unterbrach ihn Normann triumphierend. „Sie will mich wirklich und wahrhaftig! Sie begreifen das nicht? Ich auch nicht, aber ich nehme sie. O, ich nehme sie unter allen Umständen!“

„Ja, Papa, Du wirst uns wohl Deinen Segen geben müssen,“ sagte Dora leise, mit einem glücklichen Lächeln. „Julius kam zu Fuß vom Bahnhof und sah mich im Garten, und da – da ist er zuerst zu mir gekommen.“

Herwig war vorläufig noch zu bestürzt, um den segnenden Vater zu spielen. Er hätte eher des Himmels Einfall erwartet als diese Verlobung. Seine heitere, übermüthige Dora und dieser herbe, unzugängliche Mann, der jeder Lebensfreude abhold war, das ging doch nun und nimmermehr! Normann mochte ihm diese Bedenken wohl vom Gesichte ablesen, denn er sagte mit einem Spott, der aber nichts Herbes mehr hatte, sondern sehr gutmüthig klang:

„Kollege, Sie sehen aus, als möchten Sie vor Ihrem künftigen Schwiegersohn am liebsten drei Kreuze schlagen. Eigentlich verdenke ich Ihnen das gar nicht, denn ich bin ein verzweifelt unliebenswürdiger Geselle, doch das giebt sich, glauben Sie mir, das giebt sich, sobald Dora meine Frau ist. Den Anfang zum Menschlichwerden habe ich schon gemacht – sehen Sie mich nur an!“

Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, eine Bewegung, mit der er jetzt merkwürdig schnell fertig wurde, denn die „Urwaldsmähne“ war verschwunden. Ihre Bändigung war nur möglich gewesen, wenn man täglich eine Flasche Haaröl dazu verbrauchte, und da der Professor keine Lust verspürte, zeitlebens als „Oelgötze“ umherzulaufen, so hatte er den geliebten Hauptschmuck zum Opfer gebracht und sah nun mit dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar und dem förmlich verklärten Ausdruck in den einst so grimmigen Zügen um zehn Jahre jünger aus.

„Ja, der Anfang ist vielversprechend,“ versicherte Dora schelmisch, „aber in den nächsten Wochen kommt die Feuerprobe, Herr Professor, da müssen wir Brautbesuche machen bei der halben Stadt.“

Das eben noch so strahlende Gesicht Normanns wurde sehr lang bei dieser Ankündigung, und in kleinlautem Tone wiederholte er:

„Brautbesuche? Muß das sein, Dora?“

„Ja, Julius, es muß sein,“ erklärte die junge Dame mit der ganzen Entschiedenheit einer Braut, die entschlossen ist, sich in ihrer künftigen Ehe das Scepter nicht entwinden zu lassen. Der künftige Ehegemahl faltete denn auch ergebungsvoll die Hände und sagte wehmüthig:

„Wenn es durchaus nicht anders geht – in Gottes Namen!“

Das war nun allerdings eine großartige Selbstüberwindung, die auch ihren Eindruck auf Herwig nicht verfehlte. Er blickte in die bittenden Augen seines Kindes, das sich jetzt an ihn schmiegte und leise mahnte: „Papa, wir warten noch immer auf Deine Einwilligung!“ Er breitete die Arme aus und rief:

„Nun, da wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als auch zu sagen: Wenn es durchaus nicht anders geht – in Gottes Namen!“ –

„Wo steckt denn aber der Junge, der Friedel?“ rief Normann, nachdem die allgemeine Umarmung vorüber war. „Ich habe ihn vorhin fortgeschickt, weil er gänzlich überflüssig war bei meinem Gespräch mit Dora. Friedel, wo steckst Du?“

Der Gerufene kam hinter den Rosengebüschen am anderen Ende des Gartens hervor. Er hatte Dora bereits begrüßt, ehe er seiner gänzlichen Ueberflüssigkeit wegen fortgeschickt wurde, und näherte sich nun dem Professor Herwig, der ihn verwundert anblickte. Allerdings hatte Friedel die ihm so streng anbefohlene Entwicklung erst zur Hälfte durchgemacht. Dick war er nicht geworden, aber rothbackig, ein schlanker hübscher Bube, aus dessen Blauaugen jetzt auch die frohe Jugendlust leuchtete wie bei seinen Altersgenossen. Das arme verkümmerte Pflänzchen hatte sich überraschend schnell in ein blühendes Menschenkind verwandelt. Was der Aufenthalt in Schlehdorf begonnen, das hatten die letzten sechs Monate vollendet, der Knabe war augenscheinlich völlig gesund.

„Komm zu mir, Friedel! ich habe Dich ja noch gar nicht recht gesprochen,“ sagte Dora. „Nun, wie war es im Winter? Hast Du brav Stiefel geputzt?“

Sie warf einen neckischen Blick zu ihrem Bräutigam hinüber, der die Frage nicht zu hören schien.

„Gezeichnet hab’ ich!“ rief Friedel mit aufleuchtenden Augen. „Der Herr Professor hat einen andern Stiefelputzer angenommen!“

„Der Arzt behauptete ja, daß der Junge einstweilen noch geschont werden müsse,“ brummte Normann in sichtlicher Verlegenheit, „und da hat er natürlich gekritzelt vom Morgen bis zum Abend. Aber wart’ nur, jetzt bist Du gesund, nun nimmt das Herrenleben ein Ende und das Kritzeln auch – und übrigens kannst Du jetzt Fräulein Dora und mir Glück wünschen, wir sind ein Brautpaar und werden uns heirathen.“

„Ja – das hab’ ich schon in Schlehdorf gewußt!“ versetzte Friedel mit Seelenruhe.

„Nun, da hast Du mehr gewußt als wir selber,“ scherzte Dora, aber ihr Schützling sah mit pfiffigem Lächeln zu ihr auf.

„Ich hab’s auch erst gemerkt, als das Fräulein fort war und der Herr Professor nichts that, als den Schleier anschauen. Den Schleier hab’ ich aber gestohlen und wurde so arg gescholten darum, und dann nahm ihn mir der Herr Professor fort und behielt ihn selbst und hat ihn angeschaut morgens und abends und mittags auch noch, und der Sepp –“

„Du verwünschter Junge, willst Du wohl schweigen!“ fuhr Normann auf und wollte ihn beim Schopf nehmen, allein seine Braut trat dazwischen.

„Mein Schleier, den ich bei der Abreise vermißte? Und was hat denn der Sepp damit zu thun?“

„Untersteh’ Dich und sage ein Wort!“ drohte der Professor, während Dora lachend den Knaben ermuthigte:

„Erzähle nur, Friedel! Es geschieht Dir nichts.“

Friedel schien ein untrügliches Ahnungsvermögen zu besitzen, er wußte bereits ganz genau, wem er zu gehorchen hatte, und hielt es mit der stärkeren Partei. Unter ihrem Schutz fing er vergnüglich an zu schwatzen und erzählte die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende.

„Aber Kollege, Kollege!“ sagte Herwig, halb lächelnd, halb vorwurfsvoll. „Ein Mann der Wissenschaft und Aberglaube! Wie reimt sich das?“

„Pah, die Liebe ist auch ungereimt,“ erklärte Normann und sah seine Braut an, die ihn auslachte, so hell, so lustig und übermüthig wie einst in den Bergen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_835.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)