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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

noch die Lichter an dem Christbäumchen anzuzünden. Alle erhaltenen Geschenke hatte ich zierlich darunter ausgebreitet, und von meinem Platz am Eßtische konnte ich die hübsche Bescherung anschauen. Selbst für geistige Nahrung war ich besorgt gewesen; der neueste Roman sollte nach dem Abendessen mich unterhalten. Alles war vorbereitet; ich goß den Thee auf, warf einen prüfenden Blick über meine kleine Tafel und nahm Platz.

Menschenscheu war ich nicht; im Gegentheil, ich lebte äußerst gesellig, und ein stiller Abend in meinem Heim gehörte zu den seltenen Genüssen. Ich gratulierte mir, dem Drängen der Freunde widerstanden zu haben. Ein Weihnachtsabend mit massenhaft aufgebauten Geschenken, die man anschauen und bewundern mußte, erregte in mir stets einen gewissen Widerwillen der Uebersättigung; dazu die in heißen Zimmern zusammengedrängten, laut schwatzenden Menschen, das Nöthigen an der mit Gerichten überladenen Tafel – und gar der Kinderlärm! Das alles war nicht nach meinem Geschmack. Mit welchem Behagen konnte ich hier mein Mahl verzehren. Das Tannenbäumchen, ohne das wir Deutschen nun einmal kein Weihnachten zu feiern vermögen, verbreitete einen lieblichen Wald- und Wachsduft. „So ein Lichterbaum ist verkörperte Poesie,“ dachte ich und knackte eine Nuß.

Da war mir’s auf einmal, als trippelten über mir Kinderfüßchen, als hörte ich ein jauchzendes Kinderstimmchen. „Das muß Cillchen sein!“ überlegte ich und horchte. Im nächsten Augenblick schalt ich meine Einbildung. Ueber mir wohnte ja nicht der Statist Ullmann, sondern der Schreiber Brun.

Aber ich wurde den Gedanken an das kleine Mädchen nicht wieder los. Ich sah das blondköpfige rosige Ding, wie es um den Baum herumtanzte und mit den dicken Patschhändchen nach dem Zuckerwerk langte; dabei schauten mich die Aeuglein so bittend an … Wer hat geseufzt? Ich blicke mich erschreckt um. Nein, wär’s möglich, daß ich selbst geseufzt hätte? Nun, das ist arg! Ich leide doch sonst nicht an sentimentalen Anwandlungen. Das Weihnachtsbäumchen ist schuld an solchen einfältigen Phantasien. Ich stehe auf und lösche die Lichter behutsam aus. „Möchte nur wissen, was ich mit einem Kinde anfangen sollte!“ – ich beginne das Geschirr abzuräumen – „reich bin ich nicht; meine Einnahmen reichen gerade aus, daß ich ein recht angenehmes und sorgenfreies Leben führen kann.“ Aber wenn man in eine Einbildung hineingerathen ist, wird man sie schwer gleich wieder los; es ist mir noch immer, als höre ich das kleine Mädchen da oben schwatzen. Ich muß stehen bleiben und horchen. Natürlich – alles nur Einbildung.

Der zweite Theil des Abends soll nun beginnen; ich drehe meinen bequemen Lehnsessel so, daß der Lampe Schein gerade auf das Buch fällt, das ich jetzt zur Hand nehme. Die Füße in Pelzpantoffeln auf der gestickten Fußbank, spinne ich mich so recht behaglich ein; das Schälchen mit Konfekt steht so, daß ich von Zeit zu Zeit ein wenig Marzipan naschen kann. Von der Johanniskirche tönt die neunte Stunde; auf der Straße scheint der Lärm sich allmählich zu verlieren, und der Wind singt leise im Schornstein. Der von dem Roman gehoffte Genuß tritt aber leider nicht ein; enttäuscht klappe ich das Buch zu. Das sind ja nur Figuren und keine Menschen; der Abwechslung halber hat sie der berühmte Verfasser einmal in altdeutsches Kostüm gesteckt, doch mit ihren modernen Empfindungen und Gedanken passen sie nicht in diese Tracht. Die Hand mit dem geschlossenen Buche liegt im Schoße; meine Gedanken nehmen ihren eigenen Weg. Ich sehe die Stube, wie sie vor einundzwanzig Jahren eingerichtet war.

Es ist mein Geburtstag. In der „guten“ Stube steht der mit einem weißen Damasttuch überhangene Tisch, auf dem die bescheidenen Gaben ausgebreitet sind; eine selbstgebackene Torte, mit siebzehn Lichtchen umsteckt – die Anzahl meiner Jahre – krönt die Mitte, und obwohl man damals mit Blumen noch nicht verschwenderisch war, fehlt’s doch nicht an Hyazinthen und Veilchen. Unruhig gehe ich im Wohnzimmer umher; die Mutter huscht noch mit irgend einem vergessenen Paketchen geheimnißvoll durch die Stube – meine Schwester überblickt noch einmal den gedeckten Eßtisch. Alles ist bereit, nur die Hauptperson, mein Bräutigam, fehlt noch; ich erwarte ihn mit brennender Ungeduld.

Mein Bräutigam war Schriftsteller und wurde als aufgehender Stern gefeiert. Unsere Verlobung war nur den nächsten Freunden bekannt: die Veröffentlichung derselben hing von dem Erfolge eines Romans ab, an dem Eduard Tausig noch arbeitete.

Diese Arbeit schien ihn völlig in Anspruch zu nehmen; es gab Abende, an denen er ganz in Gedanken dasaß und kaum ein Wort mit uns wechselte. Mutter sagte dann entschuldigend, daß Dichter nun einmal wunderliche Leute seien und daß ich mich in seine Launen fügen müsse. Mich aber machten diese Launen nur ärgerlich, ungeduldig, zornig. An anderen Tagen zeigte sich Eduard dafür lebendig, geistreich und entzückte unseren kleinen, ihm andächtig lauschenden Kreis. Dann war ich stolz, von einem so ausgezeichneten Manne geliebt zu werden, ich sah mich als die Frau eines gefeierten Dichters und träumte, einst an seinem Ruhme theilnehmen zu dürfen.

Wie ich nun so erwartungsvoll auf jeden Laut von draußen horche, wird die Klingel gezogen – scharf, hastig, laut – wie es seine Art war. „Eduard ist da,“ rufe ich der Mutter zu, die nun eilig die Lichtchen um den Kuchen anzuzünden beginnt, und ich laufe in den Flur ihm entgegen.

Dort aber steht ein junger Mensch, der Sohn der Wirthin Eduards – bleich und verstört steht er da, und ohne jedes vorbereitende und mildernde Wort ruft er mir mit heiserer Stimme entgegen: „Herr Tausig hat sich eben in seiner Stube erschossen!“

Ich wurde nicht ohnmächtig, denn ich begriff die Worte nicht; ohne zu wanken kehrte ich in die Stube zurück, die von den Lichtern im Tagesschein eigenthümlich beleuchtet wurde; aber als ich der Mutter sagen wollte, was geschehen sei, versagte mir die Sprache, ich war wie erstarrt.

Nachdem ich endlich so weit zur Besinnung gekommen war, um den Schlag, der mich so unvorbereitet getroffen hatte, zu begreifen – weinte ich nicht Thränen des Schmerzes, sondern Thränen des Zornes. Ich war empört; Eduards Selbstmord, dessen Ursache für mich nie aufgeklärt worden ist, erschien mir als ein Akt der Feigheit; ich konnte ihm nicht vergeben, daß durch ihn auch mein Name plötzlich im Munde aller Leute war; daß er meine Jugend schwer getroffen und meine Zukunft zerstört hatte. Jetzt erst fühlte ich, daß ich ihn gar nicht geliebt; mein Stolz und Ehrgeiz hatten die Wunden empfangen, nicht mein Herz. Jedes Wort der Theilnahme wies ich schroff zurück, ich wollte nicht beklagt sein. Und als ich mich wieder in Gesellschaften zeigte, waren meine Wangen nicht bleich, und ich ging nicht mit niedergeschlagenen Augen, sondern mit stolz erhobenem Haupte einher. Ich sprach mehr als früher, kokettierte und lachte mit den Herren und flocht in meine Unterhaltung satirische Bemerkungen ein; man unterhielt sich mit mir, doch einen Verehrer fand ich nicht. Von den Flügeln der Psyche war der schillernde Staub abgestreift; ich war auf dem besten Wege, eine verbitterte alte Jungfer zu werden. Da bot sich mir die Gelegenheit, eine reiche alte Dame auf Reisen zu begleiten, und später fand ich eine ähnliche Stellung in England. Als ich nach elf Jahren, nach dem Tode meiner Mutter und Schwester, mit einem kleinen ersparten Kapital zurückkehrte, hatte ich das kleinstädtische Wesen völlig abgestreift, und an Welt- und Menschenkenntniß bereichert, trat ich wieder in den Kreis der Jugendfreunde ein. Ich fand dieselben Menschen wieder – nur äußerlich verändert; doch fühlte ich mich ihnen jetzt überlegen. Ich hatte gelernt, in verschiedenen Sprachen mich zu unterhalten, von meinen Reisen und Erlebnissen wußte ich mit Humor zu erzählen, mein Aussehen war so frisch, daß niemand an mein Alter glauben wollte. Bald wurde ich der Mittelpunkt eines geselligen Kreises – überall gesucht und mit Freuden empfangen.

Bei mäßigen Ansprüchen konnte ich mein Leben ganz nach meinen Wünschen gestalten. Den Sommer verlebte ich meist auf Reisen; während des Winters verkehrte ich viel in Gesellschaft und genoß Theater und Konzerte. Die kleinen häuslichen Arbeiten – ein Dienstmädchen hielt ich mir nicht – fand ich für meine Gesundheit sehr zuträglich. Ich musizierte gern, las die neuesten Romane und richtete die altmodischen Stuben meiner Mutter, die ich bezogen hatte, nach meinem Geschmacke ein. Meine Freunde beneideten fast mein Talent, das Leben in der angenehmsten Weise zu genießen, und ich selbst fühlte mich äußerst behaglich.

Die Aufforderung, meine Zeit einigen wohlthätigen Vereinen zu widmen, schlug ich dagegen grundsätzlich ab und erklärte lächelnd, daß ich dazu weder Geschick noch Neigung besäße.

Freilich vermochte ich nicht, mich der Theilnahme für meine Freunde zu entziehen, sobald sie von Krankheit oder Unglück betroffen wurden; doch versuchte ich, sobald wie möglich diese mich störenden Gedanken los zu werden. „Wo hätte man noch eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_842.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)