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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

freie Stunde, wenn man den Kummer anderer Leute zum eignen Kummer erheben wollte? Ich habe auch mein Theil gehabt und bin damit fertig geworden. Die Hauptsache ist, daß man sich mit frischer Luft und kaltem Wasser gesund erhält; sie sollten sich an meiner Lebensweise ein Beispiel nehmen!“ – War mein Mitgefühl aber einmal mehr als sonst in Anspruch genommen, so beruhigte ich mich mit der Phrase, daß man, um glücklich zu leben, ein Stück gesunden Egoismus besitzen müsse – –

Was mir da alles für Gedanken durch den Kopf geschossen waren! Ich bildete mir ein, den Schlüssel zu den alten Erinnerungen in das Meer der Vergessenheit versenkt zu haben, und doch hatten sie sich wie Gespenster zu mir hereingeschlichen.

Aber daran war nur schuld, daß mich das Buch langweilte. Ich nahm es auf, um noch einen Blick hineinzuwerfen – doch es lohnte nicht, mit dem Lesen von neuem zu beginnen, es hatte schon zehn Uhr geschlagen, und ich liebte es nicht, bis spät in die Nacht aufzubleiben.

Da wurde draußen die Klingel gezogen, gerade wie vor einundzwanzig Jahren – scharf, hastig, ungestüm. Ich fuhr mit jähem Schrecke auf. Es war mir, als hätte ich seit jenem furchtbaren Tage die Klingel nie mehr so laut, so grell ertönen hören.

Ehe ich mir den Wachsstock angebrannt hatte, wurde das Klingeln schon wiederholt, nur noch heftiger, noch ungeduldiger. „Ich komme schon,“ rief ich und war überzeugt, daß es in unserm Hause brenne. Vor der Thür stand Daniel Brun – bleich und verstört, gerade wie damals der junge Mensch, der mir den Tod meines Bräutigams zu melden kam.

„Entschuldigen Sie, daß ich Sie so spät noch störe“ – jedes Wort kam schwer aus seiner keuchenden Brust und doch ersparte er sich keines, um mich nicht zu erschrecken. „Ich war schon unten beim Hausmann und habe ihn nach dem Arzte geschickt.“

„Ich dachte schon, es wäre Feuer.“

„Nein, ich wollte nur fragen, ob Sie vielleicht ein Hausmittel für Herzkrämpfe haben – oder wenigstens eine warme Tasse Thee – der arme Mann oben ist sehr übel dran.“ Und leiser setzte er hinzu: „Der Ullmann wird’s wohl nicht mehr lange treiben.“

Natürlich erstarrte ich bei dieser Nachricht nicht wie vor einundzwanzig Jahren; doch mein Denken – wenn auch minder tief berührt – war ungefähr das gleiche. Meine Lebenshoffnungen wurden durch das Sterben des Statisten freilich nicht vernichtet; aber mein Behagen war gestört, meine Nachtruhe bedroht, und das empörte mich. Nicht das Unglück meines Mitbewohners stand vor meiner Seele, nur die Folgen desselben, soweit sie meine Kreise störten.

„Der Mensch hat seine Gesundheit durch das Trinken ruiniert,“ rief ich laut. „Es ist empörend, daß er nicht einmal nach dem Tode seiner Frau sich gebessert hat.“

„Es mag wohl sehr schwer sein, eine böse Angewohnheit wieder abzulegen, Fräulein Möller. Es mag dazu eine große sittliche Kraft gehören.“

„Nun, er hätte doch an sein Kind denken sollen; aber wahrscheinlich ist’s für das arme Kind nur ein Glück, wenn’s in andre Hände kommt.“ – Ich sprach gegen meine sonstige ruhige Art erregt und wunderte mich zugleich, daß ich mich von Verhältnissen, die mich im Grunde gar nichts angingen, zu so lebhaftem Unwillen fortreißen ließ.

Daniel Brun entgegnete mit seiner klaren Stimme, deren Wohlklang ich zum ersten Mal empfand: „Gegen sein Kind ist der Ullmann immer gut gewesen, das muß man ihm lassen; Cillchen hat’s an nichts gefehlt. Jetzt wird er sie freilich vor Noth nicht mehr schützen können, und das hat ihn vollends krank gemacht; er ist ganz zerknirscht und geistig wie körperlich in einem recht trostlosen Zustande. – Aber ich muß doch gleich wieder hinauf. Verzeihen Sie nur, Fräulein Möller, daß ich Sie so spät noch beunruhigt habe; ich dachte, eine Tasse warmen Thees würde ihm den Krampf erleichtern – der Doktor ist ja an so ’nem Abend auch nicht gleich bei der Hand. Aber wenn Sie keinen Thee mehr haben, Fräulein Möller …“

Ich fiel ihm fast ärgerlich ins Wort: „Sie können sich doch denken, Herr Brun, daß ich eine Tasse Thee kochen werde; in ein paar Minuten ist sie fertig; ich bringe sie gleich selbst hinauf.“

Es schien ihn zu freuen, daß ich seine Bitte erfüllte; wenigstens kam mir’s so vor. –

Ach, was für ein Elend predigten die kahlen Wände der niedrigen Dachstube! Was für eine bittere Noth war hier heimisch! Und ich, nur eine Treppe tiefer, hatte nie etwas davon erfahren, weil – nun weil ich nichts davon erfahren wollte.

Der unglückliche Mann stand trotz der kalten Winternacht am offnen Fenster, an das er sich mit einer Hand klammerte, mit der andern tastete er angstvoll umher; bald strich er sich durch das wirr herabhängende Haar, bald versuchte er, die ohnehin lose Jacke aufzureißen, denn es fehlte ihm an Luft. Die mageren ausgehungerten Glieder klapperten vor Kälte, trotzdem litt er nicht das wärmende Tuch, das Brun mit unermüdlicher Ausdauer ihm über die Schulter zu hängen versuchte. Mit stets steigender Qual rang sein keuchender Athem nach Luft, eine furchtbare Seelenangst lag in seinem hilfesuchenden Auge. Aber sobald er meine Gegenwart merkte, war er bemüht, sich zusammenzunehmen; er zog die Jacke zusammen und fing an, eine Entschuldigung zu stammeln. Doch gleich begann wieder das Keuchen der schwerarbeitenden Brust und die Hand fuhr von neuem krampfhaft umher. Es war eine schreckliche, eine hoffnungslose Pein.

Der Anblick traf mich ins Herz; zum ersten Mal stand ich dem Elend in seiner ganzen Furchtbarkeit gegenüber, und meine Anklagen verstummten. Indeß versuchte Daniel Brun mit großer Ausdauer und Geschicklichkeit, dem Kranken ein paar Tropfen Thee einzuflößen und während dieser Bemühungen zugleich des Mannes Seelenqual zu beschwichtigen. Seine Augen schienen eine Fülle des Mitleids und erbarmender Liebe auszuströmen, seine Worte aber waren auch an mich gerichtet oder doch für mich bestimmt, wie ich bald bemerkte; er war bemüht, den Kranken durch seinen Zuspruch zu ermuthigen und die wahrscheinlich kurz zuvor ausgesprochenen Selbstanklagen desselben zu entkräften, zugleich jedoch wollte Brun mir beweisen, daß der Arme meiner Theilnahme gar nicht so unwürdig sei, wie es wohl den Anschein habe, und daß neben dem traurigen Laster, das zu bekämpfen der Mann nicht mehr die Kraft besaß, seine Seele für edle Regungen nicht unzugänglich wäre. Ich fühlte in dieser Stunde, wie gewaltig der Einfluß eines Geistlichen sein muß, der es versteht, mit dieser hingebenden, alles begreifenden Menschenliebe wie Daniel Brun zu einem verzweifelten Menschen zu reden.

Der Kranke schien ihn zu verstehen; öfter nickte er wie bestätigend; einmal aber kam’s ganz laut aus seiner heiseren Kehle: „Wie sind Sie so gut! Gott vergelt’s Ihnen!“

Dreißig Jahre hatte ich mit Daniel Brun in demselben Hause gewohnt, und doch war mir niemals eingefallen, daß der bucklige Schreiber in dem abgetragenen Röckchen ein guter, ein edler Mensch sein könne; er erschien mir stets als ein viel zu unbedeutender Gegenstand, um meine Gedanken länger als für einen flüchtigen Augenblick mit ihm zu beschäftigen. Jetzt schämte ich mich darüber, ja mir traten die Thränen in die Augen, und wenn ich nur Zeit gefunden hätte, an mich selbst zu denken, ich wäre mir diesem Manne gegenüber klein und jämmerlich vorgekommen. Wie war’s nur möglich, daß ich erst jetzt den bedeutenden Kopf des unscheinbaren Schreibers bemerkte! Mir war, als werde ein Vorhang vor meinen Blicken weggezogen, und nun erkannte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_843.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)