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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

ich das große Herz und die geläuterte schöne Seele, die in diesem elenden Körper wohnte.

Da ließ sich draußen ein müdes Stimmchen hören, das weinerlich „Papa, Papa“ rief, und kleine Fäuste schlugen an die Thür. Der Kranke fuhr auf, seine Seelenangst schien sich zu steigern; des Kindes Stimme war für ihn die Stimme des anklagenden Gewissens. „Lassen Sie das Kind nicht herein!“ stieß er angstvoll hervor. „Ich kann Cillchen jetzt nicht sehen – barmherziger Gott, sei mir gnädig und erspar’ mir, daß ich in dieser Stunde auch noch das Kind sehen muß!“

„Beruhigen Sie sich nur, Herr Ullmann,“ mahnte Brun. „Fräulein Möller wird Cillchen mit hinunternehmen.“ Und sein Blick traf mich, bittend und zugleich befehlend; wenigstens wußte ich, daß ich diesem Blicke gehorchen mußte.

Schon war ich vor der Thür; ich hob das weinende und sich sträubende Kind auf den Arm und trug es die schmale Treppe hinunter, während Brun, sich weit über das Geländer beugend, uns mit seinem kleinen Studierlämpchen leuchtete.

Ich war nicht gewohnt, mit Kindern umzugehen; laut und heftig schreiende Kinder waren mir besonders verhaßt, heut aber fand ich die rechten Worte, das kleine Mädchen zu beruhigen; ein Bonbon verstärkte die Wirkung, und bald hatte sich Cillchen auf dem Sofa, wo ich sie gebettet, in Schlaf geweint. Eine Puppe, die sie nicht aus der Hand gelassen hatte, drückte sie auch jetzt noch zärtlich an ihr Herzchen.

Ich rückte den Lehnstuhl an das Sofa, denn ich erwartete, noch einmal hinaufgerufen zu werden; deshalb hatte ich auch die Vorthüre nicht abgeschlossen, vor fremden Eindringlingen war man ja in dem Hause sicher. Aber Stunde auf Stunde verkündete die Johanniskirche, und niemand kam, mich zu holen.

Allmählich kehrten meine Gedanken von den soeben empfangenen Eindrücken zu den eigenen Verhältnissen zurück. „Natürlich werde ich morgen Migräne haben und muß bei Professors absagen lassen; eine gestörte Nacht taugt für mich nicht. Es ist auch wirklich eine recht peinliche Lage; ich bin wahrhaftig nicht abergläubisch, aber angenehm ist es nicht, gerade diese Nacht in der Nähe eines Sterbenden zu verleben.“

Mein Blick fiel auf Cillchen; nun, da sie des häßlichen Theaterputzes entledigt war, sah ich erst, was für ein liebliches Geschöpf das kleine Mädchen war. Die blonden, von Thränen feuchten Härchen schmiegten sich um das blasse Gesichtchen; von Zeit zu Zeit wurde der kleine Körper noch von Schluchzen durchbebt und das Mündchen verzog sich, als wollte es wieder weinen. Etwas von dem Zauber, der von einer reinen Kinderseele ausgeht, schlich sich in mein Herz. Armes Wesen, dachte ich, was für einer traurigen Zukunft schläfst Du ahnungslos entgegen!

Ohne daß ich’s bemerkte, war ich endlich auch eingenickt; bei einem Geräusch schreckte ich auf, es wurde leise an die Thüre geklopft, und Daniel Brun trat in die Stube.

Ich sah’s ihm gleich an, daß er aufs äußerste erschöpft war, schob ihm einen Sessel hin, und ohne ihn erst zu fragen, ob er etwas bedürfe, lief ich hinaus, goß Wasser in den Theekessel, that Thee in die Kanne und stellte alles Nothwendige auf ein Brettchen, das ich in das Zimmer trug.

Diesen Mann zu erquicken machte mir eine Freude, an die ich vor wenigen Stunden noch nicht geglaubt hätte. Anna Möller, morgens vier Uhr in einer kalten Winternacht bemüht, einem buckligen Schreiber in ihrem Wohnzimmer einen Imbiß zu bereiten! Und das auch noch mit Vergnügen! Nein, so was hätten mir meine besten Freunde nicht zugetraut!

Er saß da, den ernsten Blick meist auf das schlafende Kind gerichtet; meinen Eifer schien er wohl zu bemerken, doch war er zu erschöpft, um sich nach seiner bescheidenen Art gegen diese Vorbereitungen zu sträuben. Erst nachdem er einen Schluck heißen Thee, in den ich etwas Rum gegossen, über die bleichen Lippen gebracht hatte, deutete er nach dem Kinde hin und sprach: „Cillchen ist nun ganz verwaist.“

„Sie wollen sagen, daß der Mann gestorben ist?“ rief ich erschrocken, obgleich ich den Ausgang erwartet hatte.

„Der Arzt hat mir gleich mitgetheilt, wie es kommen werde,“ fuhr er fort. „Wenn der Herzkrampf noch länger andauere, oder wenn er sich nach ein paar Stunden wiederhole, dann werde es mit ihm aus sein. Eine Weile war er nun ein bißchen ruhiger geworden; auf einmal aber schrie er auf – nein, Fräulein Möller, es hätte nichts genützt, Sie noch einmal hinauf zu bemühen. Er hat auch nicht lange mehr gelitten; es kam ein Herzschlag, und er war erlöst.“ Dann blickte er wieder nach dem Kinde. „Wenn nur die ersten Tage vorüber wären; es wird schwer sein, Cillchen zu trösten; sie hat sehr an dem Vater gehangen.“

„Jetzt müssen Sie noch ein Glas Wein trinken, Herr Brun,“ bat ich. „Sie brauchen wirklich eine Stärkung. Was haben Sie auch in dieser Nacht mit dem fremden Manne alles durchlebt!“

„Mir ist der Mann nicht so fremd wie Ihnen, Fräulein Möller; wenn man so einsam lebt wie ich, kümmert man sich um die Menschen, mit denen man durch Zufall näher in Berührung kommt. Cillchen und ich, wir sind schon lange gute Freunde; ich habe ihr ja auch ein Bäumchen geputzt; und während sich das Kind an den Lichtern und dem bißchen Spielwerk erfreute, trat der schreckliche Zustand bei dem Manne schon ein.“

Erst nach einer Weile nahm er in anderem Tone die Unterhaltung wieder auf; sein Blick wanderte mit einer Art kindlicher Neugierde durch die Stube. „Es ist vielleicht keine passende Gelegenheit, das auszusprechen, Fräulein Möller, aber sehen Sie, ich habe mir immer gewünscht, einmal in diese Stube zu kommen, in der Sie wohnen. – Eine sehr schöne Einrichtung“ – er nickte befriedigt – „gebildet und geschmackvoll, gar kein unnöthiger Prunk; aber ganz anders, als es hier bei der seligen Frau Mutter gewesen ist. Sie müssen einen sehr feinen Geschmack besitzen, Fräulein Möller.“

„Wenn Sie soviel Werth auf die Einrichtung legen, Herr Brun, dann haben Sie Ihr Zimmer wohl auch nach Ihrem Geschmacke eingerichtet?“

Das Abgespannte in seinen Zügen hatte sich verloren; ich schob ihm ein mit schottischer Marmelade bestrichenes Weißbrot hin; die Nahrung, vielleicht noch mehr meine unerwartete Freundlichkeit, thaten ihm sichtlich wohl, auch schien’s ihm ganz recht, einmal mit jemand von den eigenen Angelegenheiten zu reden; seine matten Augen belebten sich.

„Sie können selbstverständlich andere Ansprüche machen wie ich, darum würde Ihnen meine Stube vielleicht ärmlich erscheinen; aber ich muß gestehen, daß ich mich sehr wohl darin fühle. O, ich habe auch meinen Luxus, Fräulein Möller! Ich besitze eine kleine, doch, wie ich mir schmeichle, recht gewählte Bibliothek, und meine Augen sind, Gott sei gedankt, noch so leidlich. Wenn ich abends vom Bureau komme, brenne ich mir Feuer an, und wenn das Täßchen Thee fertig ist, dann ist’s unterdeß in dem Zimmerchen auch hübsch warm geworden. Da komme ich mir so zufrieden wie ein König vor – ich meine natürlich einen Märchenkönig, Fräulein Möller, denn ob die wirklichen Könige sich so glücklich fühlen wie ich, bezweifle ich. Ich bin ja von Jugend auf gewohnt, meine Ansprüche zu beschränken, und darum ist mir manche Entbehrung leicht geworden. Für Bücher habe ich freilich immer eine ganz besondere Neigung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_846.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)