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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

verspürt; aber bei meiner Kränklichkeit und den geringen Mitteln meiner Eltern war das Studieren von vornherein ausgeschlossen. Na – und daß sich jemals ein junges Mädchen in mich verlieben würde“ – ein Lächeln zuckte um den feingeschnittenen Mund – „nein, daß ich mir so was einbilden könnte, das trauen Sie mir gewiß nicht zu. Aber mir ein Ideal zu schaffen und es, natürlich ganz aus der Ferne, anzubeten – das hat mir ja niemand gewehrt. Und ich war dabei vor Enttäuschungen sicher – beinahe sicher. Und so hat sich mit der Zeit mein Leben recht angenehm gestaltet. Auf dem Bureau sind die Herren ausnehmend freundlich und rücksichtsvoll mit mir, und ich thue doch nur meine Pflicht. Ja, wenn ich nicht eine recht einfältige Eigenschaft besäße, könnte ich mich wirklich sehr zufrieden fühlen. Jeder vernünftige Mensch wird sich sagen, daß die Welt nun einmal nicht vollkommen sein kann, und das sage ich mir selbst auch vor; aber wenn ich was Schlechtes höre, besonders wenn mir das Gemeine näher tritt, sehen Sie – das ist mir ganz unerträglich. Ich kann den Zustand nur mit einem körperlichen Schmerz vergleichen, wie wenn man sich recht empfindlich schneidet oder stößt. Doch ich darf nicht undankbar sein; wenn ich einem besonders guten, feinfühligen Menschen begegne oder von einer guten That höre, oder wenn einem meiner Bekannten ein Glücksfall begegnet – es kommt ja auch so was vor, Fräulein Möller – dann fühle ich mich gleich ganz neubelebt. Sie werden mich vielleicht auslachen, daß ich bei diesen Dingen immer nur von meinem körperlichen Befinden rede; aber das ist’s eben, daß seelische Zustände solchen Einfluß auf mein Befinden haben; gerade in letzter Zeit hatte ich viel darunter zu leiden. Freilich, was waren meine Leiden gegen die des unglücklichen Mannes, der fast stumpf von all dem Elend geworden ist! Ja, Fräulein Möller, es giebt Zeiten, wo einem die Armuth recht drückend wird. Wenn ich nur das Kind dem Elend entreißen könnte!“ – Ein tiefer Schmerz malte sich in seinen vergeistigten Zügen, und liebevoll strich seine magere Hand über die Decke, unter der das Kindchen schlummerte. „Cillchen ist ein ungewöhnlich gescheites Ding, man sollte es gar nicht glauben, was das Kind für Einfälle hat; das versteht’s, einem Menschen die Langeweile zu vertreiben; so ein verständiges Geschöpf trifft man nicht alle Tage, Fräulein Möller!“

„Aber lieber Herr Brun, Sie können doch unmöglich daran denken, das Kind in Pflege zu nehmen?“

Er schüttelte traurig den Kopf. „Nein, Fräulein Möller, ein solches Glück ist einem einsamen alten Manne versagt; allein eine Frau, die noch keinen Beruf hat und die keine Pflichten abhalten und der das Herz auf dem richtigen Flecke sitzt“ – auf einmal richtete er seinen Blick mit einem eigenthümlichen Ausdruck auf mich; in seiner Seele schien ein Gedanke zu erwachen – „es ist ein schöner Lebensberuf, so eine Waise zu erziehen, es ist die herrlichste Aufgabe, die einer Frau werden kann.“

Unter seinem Blicke krampfte sich mein Herz zusammen, als ob eine gewaltige unsichtbare Hand danach fasse; mir wurde ordentlich Angst vor der Macht dieses Auges, denn ich hatte ihn verstanden, und unwillkürlich, um mich seinem Einflusse zu entziehen, stand ich auf und trat in den Schatten.

„Ein solches Kind zu erziehen, Herr Brun, würde jeder Frau, deren Leben in bestimmte Bahnen eingeengt ist, große Opfer auferlegen. Mir wenigstens würden diese Opfer zu groß erscheinen. Was sollte mich auch veranlassen, fremder Leute Kind, das durch ein unglückliches Verhängniß in meine Wohnung gekommen ist, zu behalten? Ich müßte den Umgang mit meinen Freunden sofort aufgeben …“

„Nur beschränken, Fräulein Möller, nur beschränken!“

„Ach, wie wollen denn Sie das beurtheilen?“ fuhr ich auf. „Meine Freunde, meine Reisen, alle meine Vergnügungen müßte ich einfach aufgeben! Glauben Sie, daß ich ein Krösus bin?“

„Aber Sie würden mehr, als Sie aufgeben, dafür eintauschen, Fräulein Möller.“

„O ja, da haben Sie ganz recht; schlaflose Nächte, Sorgen und Mühen würde ich dafür eintauschen – und schließlich läge auf mir noch eine schwere Verantwortung; wer weiß, was aus dem Kinde wird, es kann ja geistig und körperlich erblich belastet sein.“

„Um so größer ist die Gefahr für Cillchen, und um so höher würde Ihr Verdienst sein, sie aus dem Sumpfe in eine reinere Atmosphäre versetzt zu haben.“

„Ach gehen Sie! Ich glaube, Sie legen es darauf an, mich zu quälen, Herr Brun.“ – Wer mir gesagt hätte, daß ich mit einem Schreiber in diesem Tone verhandeln würde!

„Aber Fräulein Möller, ich spreche doch nur aus, was Sie selbst viel besser fühlen und denken. Und nachdem Gott Sie einmal zu dem Amte berufen hat, können Sie sich der Verantwortung ja gar nicht mehr entziehen.“

„Wie wollen Sie das beweisen?“ rief ich hart und laut. Das Kind bewegte unruhig die Händchen, aber es erwachte nicht.

„Sie saßen hier behaglich in Ihrer Stube, Fräulein Möller, und feierten nach Ihrer Art das Weihnachtsfest; und Sie dachten gewiß nicht mehr an die Ullmanns, als ich Sie zu dem armen Manne um Hilfe rief. Aber nicht wahr, es wäre Ihnen doch nicht möglich gewesen, diese Hilfe nicht zu gewähren? Und ebenso wenig konnten Sie abschlagen, das Kind unter Ihren Schutz zu nehmen.“

„Ja, für ein paar Stunden – ein paar Tage.“

„Freilich, so denken Sie jetzt. Aber glauben Sie denn, daß Sie, wenn Sie das Kind fortgegeben, ins Waisenhaus geschafft haben, befriedigt wie bisher weiterleben können? Nein, Fräulein Möller“ – und seine Stimme erhob sich – „von heute an werden Sie sich an jedem Abend fragen: wofür lebe ich eigentlich? Ist es denn ein würdiger Lebenszweck, nur für meine eigene Person zu schaffen und zu sorgen? Ist es denn eine Lebensaufgabe, meine guten Freunde zu amüsieren? Und von heute an wird Ihr Leben Ihnen schal und öde und unbefriedigend vorkommen. Und denken Sie nur, wenn Sie einmal hörten, daß Cillchen auf abschüssige Bahnen gerathen wäre! – Fräulein Möller, wollen Sie diese Verantwortung auf sich nehmen? Könnte Ihre Reue jemals gut machen, was Sie in dieser Stunde zu thun unterlassen haben?“

„Ach, reden Sie nicht weiter!“ rief ich heftig. „Ich bin selbstsüchtig, ich will’s offen bekennen: allein wie soll ich mich von heut auf morgen ändern? Ich bin nicht imstande, mein Leben, so wie ich es zu führen gewohnt bin, eines fremden Kindes wegen aufzugeben. Ein solches Opfer übersteigt meine Kräfte.“

„Ja, Opfer verlangt so ein Kind, das ist wahr, – recht viele, recht große Opfer; aber wie kann es auch diese Opfer belohnen! Es ist ein Kapital, das sich zu hundert Prozent verzinst. Was für Herrlichkeiten in so einer Menschenknospe schlummern, davon haben Sie noch gar keine Ahnung, Fräulein Möller; wenn sich jedoch Blatt nach Blatt entfaltet, bis die junge Seele in ihrer ganzen Pracht vor ihnen steht – dann, Fräulein Möller, werden Sie es selbst einsehen, daß in dieser Stunde sich Ihnen das größte Glück geboten hat, das einem Menschen zu theil werden kann.“

Aber noch immer sträubte sich mein Herz. „Daß dieses Kind zu dieser Stunde und unter diesen Verhältnissen zu mir gekommen ist, verpflichtet mich zu nichts,“ sagte ich hart.

Er stand auf. „Ich habe von einem Glück gesprochen, Fräulein! Glauben Sie vielleicht, daß dieses Glück, das Sie heute von Ihrer Thür fortgewiesen haben, ein zweites Mal wiederkehren wird?“

Und darauf ging er geräuschlos, wie er gekommen war; ich sah ihn nicht gehen, denn ich stand am Fenster und starrte in das Dunkel hinaus. Die Straße war ganz leer; da und dort schimmerte durch den Nebel eine müde Flamme in den Laternen; kein Schritt nah und fern, alles still; aber in meinem Herzen tobte ein leidenschaftlicher Kampf. Es war, als ob feindliche Gewalten meine Seele zerreißen würden. Doch eines war mir jetzt schon klar: Meine Ruhe, mein Behagen, alle Lebensfreude,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_847.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)