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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

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Junge Gäste.

Skizze von Hans Arnold. Mit einem Bild von G. Buchner.

Die Hausfrau saß in der beschaulichen Ruhestimmung der ersten Stunde nach dem Essen in ihrer Fensterecke und strickte. Da wurde die Thür eilig aufgerissen und ihr ältester Sohn, der Untersekundaner Fritz, stürzte, mit dem unverkennbarsten Ausdruck einer großen und reinen Freude in seinen edlen Zügen, in das Zimmer.

„Mutter,“ rief er ihr voll Entzücken entgegen, „der Doktor Schneider hat ein gastrisches Fieber – ist das nicht famos?“

Empört über diese augenscheinliche Herzlosigkeit blickte die Mutter auf.

„Was fällt Dir denn ein?“ fragte sie scharf, „wie kannst Du denn das famos finden?“

Fritz sah etwas beschämt aus.

„Nun,“ meinte er zögernd, „es wird ja wieder besser werden – aber wir haben heut nachmittag frei!“

„Ach so!“ sagte die Hausfrau besänftigt, „na, und was weiter? Da wollt Ihr doch entschieden etwas!“

„Ja!“ gestand Fritz, in dessen Augen es sehr unternehmend blitzte, „Müller und Reimann machen einen Waldspaziergang –“

„Bis wann?“ unterbrach die Mutter kurz.

Ach – ein paar Stunden!“ wich ihr Sohn aus, „und sie wollen mich mitnehmen!“

Die Mutter legte das Strickzeug zusammen.

„Eigentlich ist mir an dem Verkehr mit Reimann nicht viel gelegen,“ sagte sie mit der ihrer Würde zukommenden Zurückhaltung, „er ist mir viel zu erwachsen für Dich!“

Fritz wippte vor Ungeduld mit dem Fuß.

„Was schadet denn das, Mutter? In zwei Jahren bin ich ja ebenso alt!“ vertheidigte er sich mit mehr Wärme als Logik.

„Vorausgesetzt, daß Reimann so lange mit dem Aelterwerden auf Dich wartet!“ bemerkte der eben eingetretene Vater; „um was handelt es sich denn?“

Die Mutter, die in der ganzen Welt eine große Falle zu sehen geneigt war, in welcher man ihren Fritz zu fangen oder zu beschädigen beabsichtigte, theilte die Pläne des Sohnes mit offenkundigem Widerwillen gegen ihre Ausführung dem Vater mit – sie hatte sogar noch die Gefühllosigkeit, an einen Aufsatz zu erinnern, welcher seit Tagen drohend am Familienhimmel schwebte, und die Hauptcharakterzüge des Torquato Tasso „im Unreinen“ zu behandeln hatte. Der Vater aber legte sich ins Mittel, er vermochte sich besser in das Gefühl der freiheitdürstenden, jungen Seele seines Sohnes zu versetzen.

„Laß ihn nur gehen, Mathilde,“ sagte er, „Du kannst ihn doch nicht ewig am Schürzenbändchen hängen haben! Warum sollen die Jungen nicht bei dem himmlischen Frühjahrswetter einen Spaziergang machen?“

Die Mutter fügte sich, wenn auch etwas unwillig, nachdem sie sich erst noch von Fritz „in die rechte Hand“ hatte versprechen lassen, daß er unter keinen Umständen Kahn fahren würde – ein Eid, der um so leichter zu halten war, als das Bächlein, welches den Wald als einziger Wasserreichthum durchrieselte, höchstens eine mäßig breite Zündholzschachtel hätte tragen können.

Selig, die Schülermütze auf dem lockigen Haare, den dargebotenen Ueberzieher mit Entrüstung und Hohnlachen zurückweisend, stand Fritz bald darauf vor der Hausthür, die Freunde erwartend.

Reimann war Primaner – ein in alle Tücken und Gefahren des Lebens eingeweihter, sehr weltmüder Mann von siebzehn Jahren, der geneigt war, bitter über Einbildungen und jugendliche Aufwallungen zu lächeln, und mit den meisten Freuden dieser Erde schon endgültig abgeschlossen hatte, „da der ganze Rummel, in der Nähe betrachtet, doch nur Blech sei!“

Diese Weltanschauung, sowie ein Scheitel über den ganzen Kopf, eine in mehrjährigen Tanzstundenkursen erlangte tiefe Kenntniß des weiblichen Herzens, die ebendaselbst erworbene Fähigkeit, links herum zu walzen und den Hut beim Grüßen nach der Tagesmode mit tiefem, feierlichem Ernst und so langsam abzunehmen, als wenn ein Begräbniß vorbeikäme, sicherten Reimann die unbedingteste, widerspruchloseste Achtung seiner Gefährten.

Müller und Fritz fühlten sich demgemäß durch die Aufforderung dieses jungen Weltweisen, mit ihm spazieren zu gehen, auch namenlos geschmeichelt. Beide waren trotz ihrer fünfzehn Jahre überraschenderweise kindlicher Auffassung noch nicht so ganz fern und wären nicht abgeneigt gewesen, nachdem man das Menschengewühl verlassen hatte, sich zu fangen oder zu prügeln – aber wer hätte davon vor Reimann anfangen mögen! So schritten denn die drei, rauchend und die tiefsten Fragen der Menschheit mit einer wahrhaft erquickenden Leichtigkeit behandelnd und lösend, durch den frühlingsgrünen Wald.

Uebrigens rauchten nur Fritz und Müller – Reimann that es „nicht mehr“, wie er sagte, als wenn ihm dergleichen durch jahrelanges, gewohnheitsmäßiges Betreiben schon überdrüssig geworden wäre – in Wirklichkeit, weil ein einmaliger Versuch mit einer entsetzlichen Krankheitskatastrophe für ihn geendet, die der Vater Reimann durch eine wohlgezielte Ohrfeige noch gefährlich verschärft hatte.

Daß übrigens der freie Schultag, der köstlich blaue Himmel und die fröhliche Frühlingsluft die erstorbene Lebenslust bei Reimann soweit wieder anzufachen vermochte, daß er, auf einer Waldlichtung angelangt, sich ohne vorherige Herausforderung auf Müller stürzte und mit ihm einen jauchzenden, quiekenden und von beiderseitigem höchsten Genusse begleiteten Ringkampf begann, verdient erwähnt zu werden! Fritz betheiligte sich nach Kräften durch Hiebe auf den jeweilig siegreich scheinenden Kämpfer und durch die anspruchslose flehentliche Bitte: „Haut mich doch auch!“ Ich theile übrigens diesen ganzen Zwischenfall nur im geheimen mit, da Reimann es doch nur den jüngeren Kameraden „zuliebe“ gethan hatte! Selbstverständlich!

Die Unterhaltung kam auf diesem Wege in ein lebhafteres Tempo und der Spaziergang wurde durch freundschaftliches Schubsen und Puffen nach rechts und links und durch gegenseitiges Rollen in zum Glück rücksichtsvoll ausgetrocknete Gräben gewürzt, während einige zoologische Bezeichnungen deutlich bekundeten, daß man aus den Regionen der höchsten philosophischen Probleme wieder in die Gymnasialluft niederzusteigen begann.

Man gelangte bei all diesen Erheiterungen ziemlich tief in den Wald hinein, und allmählich begann trotz aller Freude an der schönen Natur doch auch die materielle Seite des Lebens ihr Anrecht an die jungen Männer geltend zu machen. Nachdem Fritz als der jüngste und unbesonnenste sich zu einem „infamen Hunger“ bekannt hatte, erklärten auch Müller und Reimann, daß man sich wohl jetzt nach einer „Kneipe“ umsehen dürfte.

„Soviel ich weiß,“ sagte der Senior unserer Gesellschaft, „giebt’s hier irgendwo ein Forsthaus mit Wirthschaft – da wird man uns für Geld und gute Worte schon etwas vorsetzen!“

Fritzens Gesicht wurde bei diesem Vorschag merklich lang! Seine Barschaft war infolge eines verlorenen und auf väterlichen Befehl „vom Eignen“ wiedergekauften Zirkels zu sehr betrübender Kleinheit zusammengeschmolzen, und sich von den Gefährten freihalten zu lassen, wäre ihm doch äußerst „peinlich“ gewesen! Er beherrschte sich aber wacker und hörte mit dem Gesicht eines vollendeten Feinschmeckers den Berathungen über das zu, was man im gegebenen Fall „futtern“ würde.

Das Forsthaus war bald erreicht. Es lag idyllisch mitten im tiefen Walde und bot mit seinem schrägen, moosbewachsenen Dach einen hübschen Anblick. Sehr erhöht wurde dieser Eindruck noch dadurch, daß in der halbgeöffneten Thür, vom Sonnenschein umflimmert, ein bildhübsches, blondes Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren saß, das den Gruß der drei Jünglinge mit einem freundlichen Nicken erwiderte und durch einen einzigen Blick ihrer blauen Augen Reimanns im ganzen gegen Damen sehr unempfindliches Herz in die hellsten Flammen setzte. Auch die beiden andern fühlten sich angenehm berührt durch den Anblick der allerliebsten Waldnymphe, drückten aber ihre Empfindungen nur durch ein paar stumme Püffe aus, die sie sich gegenseitig verabfolgten, während Reimann mit der ihm eigenen Sicherheit auf das Försterstöchterlein lossteuerte.

„Mein Fräulein, würden Sie drei ermüdeten Wanderern vielleicht eine Stärkung angedeihen lassen?“ frug er in musterhaft gewählter Ausdrucksweise. „Was könnten wir hier wohl haben?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 868. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_868.jpg&oldid=- (Version vom 25.11.2023)