Seite:Die Gartenlaube (1891) 872.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Schmerz, zumeist im Gelenke der großen Fußzehe oder in einem andern Fuß- oder Zehengelenke, weckt ihn aus dem Schlafe und steigert sich rasch. Wie mit einer glühenden Zange gepackt, windet sich der Kranke unter dem oft geradezu unerträglichen Schmerze, schreit und jammert, wirft sich im Bette herum, zittert und bebt vor Weh am ganzen Körper. Das betroffene Gelenk ist geschwollen, die Haut darüber geröthet, gespannt und glänzend, die leiseste Berührung desselben, der geringste Druck, schon die leichte Last der Bettdecke steigert die Qual, welche so bedeutend ist, daß selbst ruhige phlegmatische Menschen ganz außer sich gerathen. Starkes Fieber, heftiger Durst, aufgeregter Puls geben dem Krankheitsbilde eine ernste Färbung, und erst in den Morgenstunden tritt einigermaßen Erleichterung ein. Die Schmerzen verschwinden nicht, aber sie werden erträglicher, und der folgende Tag verläuft ruhiger; nur der bedeutend geschwollene, rothe Ballen der kranken Zehe, die Schwellung des ganzen Beines mahnen daran, daß noch nicht alles überstanden ist. In der That – mit Anbruch der Nacht wiederholt sich die Schreckensscene, bis wiederum das Morgengrauen Linderung bringt. Noch mehrere solche böse Nächte folgen einander, geschieden durch ziemlich leidliche Tage, dann fühlt sich der Kranke besser, vielleicht zeitweise ganz wohl. Das Fieber hört auf, der Schmerz nimmt ab, die geschwollene und geröthete Haut schuppt sich. Der so schwer Heimgesuchte athmet wieder frei auf und – vergißt.

Indessen, der erste Anfall bleibt höchst selten der letzte. Dafür sorgt nicht nur die gichtische Anlage, sondern der Gichtkranke selbst. Hat er die Vorläufer der Krankheit nicht beachtet, so gedenkt er des „Zipperleins“ selbst auch nicht mehr, sobald das „Zippern“, das Zucken in dem Fuße aufgehört hat. Die alte schädliche, aber liebgewordene Lebensführung wird wieder aufgenommen und die vom Arzte vorgeschriebene Diät beiseite gesetzt. Allein pünktlich nach einem Jahre stellt sich der vergessene, unliebsame Gast wieder ein, und dem neuen Anfalle folgen in kürzeren oder längeren Zwischenräumen andere, welche zuweilen mehrere Gelenke ergreifen, sodaß der Kranke vollständig überwältigt wird und, jeder Bewegung unfähig, ans Bett gefesselt bleibt. Das beginnende Frühjahr und der endende Herbst sind die bevorzugten Jahreszeiten, in denen zumeist die Gichtrückfälle eintreten, in immer kürzeren Pausen; nur der Sommer bringt einige Zeit der Erholung und Befreiung.

Hat die Gicht den chronischen oder dauernden Charakter angenommen, dann sind die schmerzhaften Erscheinungen weder so heftig noch so regelmäßig mehr wie früher; die Anfälle verlieren an Schärfe, die Geschwulst und die Röthe an den betroffenen Gelenken entwickeln sich langsamer – aber damit ist nichts besser geworden. Im Gegentheile, das Allgemeinbefinden und das örtliche Leiden verschlimmern sich. Die Geschwulst in den Gelenken verschwindet nicht mehr nach dem Anfalle, sondern sie bleibt zurück und nimmt eine andere Gestaltung an. In der weichen, teigigen Anschwellung tauchen verschiedene feste Körperchen auf, und es kommt zur Bildung der harten Gichtknoten, welche die Gelenke schmerzhaft, schwer beweglich machen und ihre Gestalt verkrüppeln. So werden außer den Fußgelenken die Handgelenke, die Kniee, die Hüft-, Ellbogen-, Schulter- und Wirbelgelenke betroffen, und das Ende ist eine allgemeine Steifigkeit, welche nicht nur die Arbeitsfähigkeit und das Bewegungsvermögen des unglücklichen Opfers beeinträchtigt oder gänzlich aufhebt, sondern dieses auch äußerlich in einen Krüppel verwandelt. Welch elender Anblick, wenn aus dem aufrecht und stolz einherschreitenden Lebemann von ehemals ein auf Stöcke sich stützender, gebückten Ganges mühsam einherschleichender Siecher geworden ist!

Mit diesen äußeren Veränderungen verbindet sich eine Verschlechterung der Ernährung und des Gesammtbefindens. Die Körperfülle, welche durch das Wohlleben entstanden war, ist geschwunden, das reichliche Fettpolster verloren gegangen; die blühende Farbe des Gesichtes hat einer fahlen Blässe Platz gemacht; die Muskelkraft ist rasch erschlafft; eine allgemeine Schwäche giebt sich kund und statt froher übermüthiger Laune, wie sie der Wein und der Lebensgenuß erzeugte. herrscht Mißstimmung, Unmuth, Reizbarkeit und Ueberdruß. Störungen des Blutkreislaufes, Beeinträchtigung der Verdauung, ein schleichendes Fieber tragen weiter dazu bei, die Kräfte des Organismus zu mindern, seine Widerstandsfähigkeit zu untergraben. Er ist ein recht unglücklicher, bemitleidenswerther Mensch, der Gichtbrüchige mit seinen mannigfachen Qualen, und es ist ein herzlich schlechter Trost für ihn, wenn man ihm sagt, daß er mit all seinen Leiden ein hohes Lebensalter erreichen kann.

Weitaus tröstlicher ist der Gedanke, daß es wenige Krankheiten giebt, bei denen eine planmäßig geregelte, zielbewußt dem Einzelfalle angepaßte Diät so günstige Ergebnisse zeitigt, wie dies beim Beginne des gichtischen Leidens möglich ist, und daß hier die Willenskraft des Kranken lohnende Erfolge zu erreichen vermag. Mehr als alle Heilmittel aus der Apotheke bewirkt hier die genaue Vorschrift und das haarscharfe Einhalten vernunftgemäßer Lebensweise, mehr als die lateinische Küche bringt der streng angeordnete Speisezettel zu Wege.

Da der weitaus größte Theil der Gichtischen sein Uebel sich dadurch zugezogen hat, daß er, um mich gelinde auszudrücken, ein Mißverhältniß zwischen Nahrungszufuhr und Stoffverbrauch bestehen ließ, sei es, indem er zu viel, zu üppig, zu reichlich sich nährte, oder daß er zu wenig Bewegung und Muskelthätigkeit entfaltete – so ist es vornehmstes und wichtigstes Gebot kluger Vorsicht, bei den ersten Anzeichen des Zipperleins auf einen Ausgleich jenes Mißverhältnisses hinzuwirken, die Zufuhr möglichst einzuschränken, den Verbrauch angemessen zu steigern. Nicht nur der Gichtkranke, sondern jeder zur Gicht Geneigte, erblich mit Gichtanlage Behaftete, muß Mäßigkeit als Losung auf die Fahne seiner Lebensführung schreiben.

Jener englische Arzt, welcher seinen durch Wohlleben gichtkrank gewordenen Patienten den Rath gab, sie möchten, wenn sie sich wohl befinden wollten, für ihren täglichen Lebensbedarf nur einen Schilling (eine Mark) ausgeben und zwar einen solchen, den sie sich selbst durch körperliche Arbeit verdient hätten, hat so ziemlich das Richtige getroffen. Indeß ist es weder nöthig, noch auch nützlich, daß der Gichtkranke von einem Extrem ins andere springt, von einer alle Genüsse in vollen Zügen schlürfenden Lebensweise plötzlich zu den härtesten Entbehrungen übergeht. Man muß nicht zu herbe und zu schwer durchführbare Prüfungen auferlegen.

Die Ernährung muß nach solchen Grundsätzen geregelt werden, daß die Säurebildung in den Körpersäften möglichst gemindert, die Ausscheidung der Harnsäure dagegen thunlichst gefördert und beschleunigt werde. Es ist aber durch physiologische Beobachtungen festgestellt, daß reichliche stickstoffhaltige Nahrung, träge Lebensweise und Mangel an körperlicher Bewegung die Harnsäureanhäufung im Körper steigert.

Jedes Uebermaß der Nahrungsmittel ist darum zu meiden und nur so viel zu gestatten, als der einzelne nach seiner Körperbeschaffenheit, seiner Größe, seinem Alter und seiner Beschäftigung für die Erhaltung des Stoffbestandes bedarf. Der Arzt soll, unter Berücksichtigung der Einzelverhältnisse, dem Gichtischen genau vorschreiben, wie viel er essen darf. Aber auch genau, was. Die Kost soll eine gemischte sein, aus thierischen und pflanzlichen Speisen zusammengesetzt, jedoch mit Vorwiegen der letzteren. Der Genuß von Fleisch, Eiern, Milch und Fetten braucht nicht, wie manche Aerzte dies verlangen, gänzlich vermieden, er soll nur eingeschränkt werden. Wenn freilich die Ernährung bei Gichtischen gelitten hat und Siechthum sich kund zu geben beginnt, dann ist gerade eine ausgiebige Zufuhr von Eiweißstoffen, besonders von Fleisch nothwendig. Grüne Gemüse, besonders Spinat, Spargel, Wurzelgemüse, Salat, sowie frische Früchte, welche an pflanzensauren Alkalien reich sind, wie z. B. Kirschen und Erdbeeren, sind sehr empfehlenswerth, da diese pflanzlichen Nahrungsmittel, wie die Erfahrungen an den Pflanzenfressern erweisen, die Säfte alkalisch machen und dadurch die Harnsäure in das günstigste Lösungsverhältniß bringen. Hingegen sind Kohlenhydrate, stärkemehl- und zuckerhaltige Stoffe, also besonders Mehlspeisen, Kartoffeln, Süßigkeiten, vom Speisezettel der Gichtischen zu verbannen, weil dieselben eine starke Säurebildung im Magen und im Darme befördern.

Von Wichtigkeit ist die strenge Enthaltsamkeit gegenüber alkoholhaltigen Getränken. So schwer es den meisten Gichtkranken fallen mag, sie dürfen durchaus keinen Wein und kein Bier trinken. Diejenigen, welche außerordentlich viel von diesen Getränken zu sich zu nehmen pflegten, müssen sich durch allmähliche Verminderung der Menge davon entwöhnen – aber dann muß das Verbot strenge durchgeführt und unbeugsam aufrecht erhalten werden. Da wir alle schwache Menschen sind, welche der Versuchung nur zu leicht unterliegen, so ist es besser, dieser aus dem Wege zu gehen, und darum soll jeder Gichtische das Gasthaus und die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 872. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_872.jpg&oldid=- (Version vom 26.11.2023)