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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

es ihm zuweilen vor, als sei er nicht mehr Waldemar Andree, sondern Pierre Clémenceau! – Umsonst sagte er sich, daß diese Isa nicht in Vergleich gezogen werden könne mit Stella Brühl, daß jene ein Zerrbild sei, ein gewissenloses Weib schlimmster Art, Stella dagegen nur ein verwöhntes, kokettes Mädchen. Immer wieder quälte ihn der eine Gedanke: er hat sie durchschaut und hat sie verachtet, aber er konnte nicht los von ihr, weil sie sein künstlerisches Ideal war, weil ohne sie der Künstler ebenso rettungslos zu Grunde gegangen wäre, wie es der Mensch schon war! Dein Bild ist es, das Du gesehen hast!

Seine Ideen machten immer denselben Rundgang – das konnte er nicht mehr ertragen. Er sprang auf und begann auf und abzugehen, er leerte ein paar Gläser Wein – vielleicht machte das ihn müde, vielleicht konnte er dann schlafen.

Als er seinen Rock ablegte, fiel etwas daraus schwer zur Erde. Ja so, der Brief der guten Signora Marchini! Den wollte er doch lesen, vielleicht brachte der ihm andere Gedanken!

Die würdige Frau schrieb höchst verwirrt in einem sehr fehlerhaften Italienisch und in unleserlicher Schrift: Versicherungen ihrer Zuneigung und ihres treuen Gedenkens – Erinnerungen an Werner Troost, den sie nicht vergessen könne – Berichte über das Aussehen seines Grabes, das sie oft besuche - Erzählungen von der langen, schweren Krankheit ihrer Tochter in Pisa und von dem reizenden Enkelchen – alles das ging bunt und kraus durcheinander, unb Andree hatte Mühe, daraus klug zu werden. Zuletzt kam noch eine Nachschrift. Der einliegende Brief sei zuerst nach Rom an ihre Adresse gekommen, dann ihr nach Pisa nachgeschickt worden, habe sie dort verfehlt, sei wieder nach Rom zurückgegangen und habe dort lange, lange Zeit gelegen – nun schicke sie ihn ihrem lieben Signor Andree, er sei ja Signor Troosts bester Freund gewesen und werde schon Bescheid wissen. Der Briefumschlag habe so entsetzlich ausgesehen von dem vielen Hin- und Herschicken, daß sie es nicht habe ansehen können, und so habe sie ihn durch einen neuen ersetzt. Gelesen habe sie natürlich kein Wörtchen, Signor Andree dürfe ganz ruhig sein – sie könne nicht einmal ein gedrucktes deutsches Wort lesen, geschweige denn ein geschriebenes.

Andree verstand von dem allem nichts. Was war das für ein Brief? Worüber sollte er, als Werner Troosts bester Freund, Bescheid wissen? Er betrachtete kopfschüttelnd den weißen Briefumschlag, zuletzt riß er ihn auf. Es konnte sich um Werners kleine Hinterlassenschaft handeln. ... Er sah eine zierliche, feste Damenhandschrift, und er las, daß die Dame Werner Troost sein Wort zurückgab, daß sie ihm sagte, sie habe sich in ihrem Gefühl für ihn getäuscht, sie sei ein Kind gewesen, das nicht gewußt habe, was Liebe sei – und ihre Eltern hätten ganz bestimmte Pläne mit ihr.

Datiert war der Brief vom Anfang des April. – Waldemar hatte ganz gedankenlos begonnen, ihn zu lesen, ohne eine Ahnung, wer die Schreiberin war. Dann aber, in jähem Erschrecken, wurde es ihm plötzlich klar: Stella allein konnte die Schreiberin sein. Es war kein langer Brief – und doch brauchte Andree eine lange Zeit, bis er ihn drei-, viermal durchgelesen hatte.

Gottlob, daß Werner Troost ihn nicht mehr erhalten hatte, daß er schon friedlich unter den aufgehäuften Blumenkränzen schlummerte, als dieser Brief für ihn eintraf!

Und sie, die vorgegeben hatte, Werner Troost unendlich zu lieben, sein Andenken nicht vergessen zu können – sie, die all ihre launenhafte Kälte gegen Andree mit ihrer treuen Liebe zu diesem Toten entschuldigt, die ihm hundertmal betheuert hatte, Werner sei ihres Herzens einziges Glück gewesen, und man müsse darum Geduld mit ihr haben – ihr Zeit lassen – –

Es wurde ihm dunkel vor den Augen – er drückte den Brief in der geballten Faust zusammen und glättete ihn dann wieder sorgsam – seine Gedanken schweiften zu Pierre Clémenceau zurück ... es stieg etwas Beengendes, Fürchterliches in ihm empor – dann machte er eine Gebärde des Abscheus, als quäle ihn ein Versucher, den er mit Gewalt fortweisen müsse.

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Wenige Tage später hatte man sich in gewissen Kreisen Hamburgs sehr zu wundern. Waldemar Andree, der bedeutende Künstler, der Schöpfer der „Eos“, die man mit Recht als das weitaus schönste Gemälde der diesjährigen Ausstellung pries, hatte ganz plötzlich die Hansestadt verlassen. Einem aus Rom eingetroffenen Freunde, Hartwich mit Namen, der einige Zeit in Hamburg verweilen wollte, hatte er Auftrag gegeben, seine Ateliereinrichtung aufzulösen und zu verkaufen und etwaige Anfragen bezüglich der „Eos“ zu beantworten. Hilt war empört, daß man nicht ihn mit diesem Vertrauen beehrt harte, mußte sich aber den gegebenen Verhältnissen fügen. Frau Wiedekamp wußte von nichts, konnte auf alle Fragen nur mit dem Kopf schütteln und betonen, Herr Andree sei ein sehr nobler Miether gewesen, da er ihr das volle Quartal bezahlt habe. Hartwich wußte einiges mehr, sagte aber nichts – er war Andree recht nahe getreten in diesen wenigen Tagen, und sie hatten sich versprochen, im Briefwechsel miteinander zu bleiben.

Der einzige, der ganz genau in die Dinge eingeweiht war, war Herr Grimm.

Ihn hatte Andree am Tage nach jenem Theaterabend besucht, bleich und verstört, und ihm allein hatte er umfassende Mittheilungen gemacht. Als der ältere Freund Einblick in Andrees Gemüthsverfassung gewonnen hatte, war sein einziger Rath der gewesen: alles stehen und liegen lassen und schleunigst abreisen! Kein Wiedersehen, keine Aussprache mehr herbeiführen – Herr Grimm ahnte nichts Gutes, wenn er in seines Freundes finstere Augen sah – er selbst wolle der schönen Stella ihren Brief an Werner Troost übermitteln, und sie werde sich, klug wie sie sei, den Zusammenhang zwischen diesem Brief und Andrees Abreise leicht deuten können.

So ernstlich war Grimm um seinen Freund besorgt, so sehr fürchtete er ein vielleicht durch den Zufall herbeigeführtes Zusammentreffen Stellas mit ihm, daß er ihm nicht von der Seite wich und sich sogar über Nacht bei ihm einquartierte. Auch mit Hartwich wurde Grimm bekannt, und sie fanden entschiedenes Wohlgefallen an einander. Sie athmeten beide erleichtert auf, als der Bahnzug den Freund entführte, obgleich der ältere Mann sich mit schwerem Herzen sagte, er werde Andree unendlich vermissen.

Herrn Grimms Mission der schönen Stella gegenüber war rasch erledigt. Sie sah ein wenig betroffen aus beim Anblick des Briefes, der sie eine zeitlang so ernstlich beunruhigt hatte, aber schließlich hatte sie doch wieder erreicht, was sie gewollt: sie war frei! Herr Grimm konnte nicht umhin, angesichts dieser bewundernswürdigen Kaltblütigkeit der jungen Dame anzudeuten, daß ihre Lage Andree gegenüber eine bedenkliche, ja gefahrvolle gewesen sei, und daß sie es nur der Vorsicht seiner Freunde zu danken habe, wenn eine aller Voraussicht nach ungewöhnlich schlimme Wendung vermieden worden sei. Ihr reizendes rosiges Gesicht wurde um einen Schatten blässer, und die schönen Lippen zuckten ein wenig – sie erwiderte aber kein Wort auf diesen in sehr ernstem Ton gehaltenen Ausspruch und entließ Herrn Grimm in verbindlichster Haltung.

Die „Eos“ blieb noch ein paar Wochen in der Hamburger Ausstellung, dann wurde sie für einen außerordentlich hohen Preis nach Philadelphia verkauft.




24.

Mehr als zwei Jahre sind seitdem vergangen.

Herr Bernhard Grimm hat mit seiner Pflegetochter Gerda eine schöne Reise durch ganz Italien gemacht und zeigt ihr jetzt Berlin, das sie bisher nur auf der Durchreise kennengelernt hat.

Sie wandern Arm in Arm durch den Thiergarten, der im schönsten Herbstschmuck prangt. In der Nähe des Goethe-Denkmals, das sie beide aufrichtig bewundert haben, finden sie eine Bank und lassen sich darauf nieder.

Herr Grimm ist sehr nachdenklich – Gerda ist es nicht. Sie spricht unbefangen und heiter. Eine strahlende Schönheit ist nicht aus ihr geworden, wohl aber ein sehr hübsches, frisches Mädchen mit wundervollen dunkelgrauen Augen.

Da ihr Begleiter fast kein Wort redet, schiebt sie ihre Hand leicht unter seinen Arm und fragt leise: „Onkelchen, sind Sie mir denn so schrecklich böse?“

„Dummes Kind!“ entgegnet er unwillig. „Wie kann ich denn böse sein? Ich möchte nur wissen, ob Du überhaupt niemals heirathen willst!“

„Können Sie mich gar nicht rasch genug los werden, Onkel? Ich bin ja noch nicht neunzehn Jahre alt.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_882.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)