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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


und ernähre aufs beste und sorgfältigste das Kind in seinen ersten Lebensjahren, dadurch sicherst du ihm am meisten Gesundheit und ein langes Leben!

Auf die einzelnen Vorschriften über dieses Gebiet können und wollen wir hier, wo es sich nur um Hervorhebung der hauptsächlichsten Grundsätze handelt, nicht eingehen, vor zweien der häufigsten und verhängnißvollsten Fehler aber müssen wir doch aufs nachdrücklichste warnen. Der eine besteht darin, daß man dem fast allgemein vorherrschenden Hange entwöhnter Kinder zu pflanzlicher Kost nachgiebt und darüber die Zuführung der für den Aufbau des Körpers so wichtigen thierischen Nahrung, besonders des Fleisches, gegen welches häufig ein Widerwille besteht, meist aus verkehrter Elternliebe, seltener aus nothgedrungener und noch seltener aus übel berechneter Sparsamkeit versäumt. Dieses Versäumniß bildet aber eine der Hauptursachen der so weitverbreiteten Skrophulose mit all ihren zahlreichen nicht bloß die Kinderjahre verbitternden, sondern auch für alle Zeit die Lebenskraft schwächenden Folgen. Der zweite Fehler hängt mit dem ersten eng zusammen, insofern dann, wenn die Wirkungen jenes ersten sich geltend machen, die Kinder „zur Kräftigung“ Spirituosen bekommen. Damit wird den Aermsten nur statt eines Stärkungsmittels ein gerade bei Kindern außergewöhnlich schlimm - und zwar nachhaltig schlimm – wirkendes Gift gereicht, das anfangs vielleicht vorübergehend anregt, auf die Dauer aber erfahrungsgemäß Verdauung und Nervensystem beeinträchtigt und schwere Gesundheitsschädigungen nach sich zieht. Grundsätzlich sollte man daher Kindern überhaupt keine geistigen Getränke zukommen lassen. Uebrigens gilt das Vorstehende auch noch für das Knaben- und Mädchenalter in seinem vollen Umfange.

Während des letzteren Lebensäbschnittes nun, der zugleich die übliche Schulzeit umfaßt, erwächst die Aufgabe, die verschiedenen Körperfunktionen vor nachhaltiger Störung durch einseitige Ausnutzung einzelner zu bewahren. Ganz besonders muß verhütet werden, daß Gehirn und Nervensystem auf Kosten der Blutbildung und der Muskelthätigkeit überangestrengt werden. Die Erkrankungen des Nervensystems entstammen ganz gewiß zum großen Theil dem gerade in das Alter raschesten Körperwachsthums fallenden „Drill“ des Gehirns und damit des Nervensystems, welcher der Schule als Aufgabe zugetheilt ist. Die häusliche Erziehung und Ueberwachung muß daher mit der Schule zusammenwirken, um die bei den Ansprüchen des modernen Lebens nicht zu umgehende verhältnißmäßige Ueberbürdung des Nervensystems während der Lernzeit möglichst unschädlich zu machen. Die kurzen zwischen die einzelnen Schulstunden eingeschobenen Unterrichtsunterbrechungen mit Aufenthalt und Spiel in freier Luft und die wenigen Turnstunden in der Woche reichen dazu bei weitem nicht aus. Die Eltern müssen dafür Sorge tragen, daß die Ernährung der Kinder eine möglichst gute sei und daß durch reichliche Bewegung in frischer Luft während der schulfreien Zeit, durch Spielen und Spazierengehen, Baden und Schwimmen, Schlitten- und Schlittschuhfahren u. s. w., dann aber auch durch körperliche Arbeit, z. B. im Garten, und durch ausreichenden Schlaf der lebhaften Inanspruchnahme des Nervensystems das Gleichgewicht gehalten werde. Dann erst werden die Klagen über die sogenannte „Ueberbürdung“ und ihre Folgen für das gesammte Körperleben der Kinder verstummen. Gar viele Eltern sind aber der Meinung, daß sie aller Sorge für die gesundheitsgemäße Entwicklung der Kinder enthoben seien, sobald sie diese der Schule übergeben haben. Gerade das Gegentheil ist der Fall; gerade die Eltern müssen das thun, was die Schule nicht kann, sie müssen darüber wachen, daß außerhalb der Schulzeit die anderen Körperfunktionen, das Athmungs- und Verdauungssystem, die Muskulatur u. s. w., zu ihrem Rechte kommen.

Es ist nun einmal nicht zu ändern, daß wir die Jugend während eines Lebensabschnittes, der durch großen Bewegungstrieb sich auszeichnet und dadurch auf die Forderung der Natur nach hauptsächlicher Entwicklung des Muskelsystems hinweist, in die Schule schicken und damit zu einer vorzugsweise sitzenden Lebensweise verdammen müssen Aber diese Versündigung gegen die Natur sollte, wenigstens soweit es ohne Schädigung des Zwecks irgend angeht, durch ausgedehnte Befreiung vom Zwange des Sitzens unschädlich gemacht werden. Von diesem Standpunkte aus ist der ausschließliche Vormittagsunterricht der allein empfehlenswerthe; in diesem Sinne sollte auch die Gesetzgebung eingreifen, wie man in der Gewerbeordnung die hier in Betracht kommende Altersstufe ja auch vor naturwidriger Ausbeutung ihrer körperlichen Arbeitskraft geschützt hat.

Die folgende Lebensstufe, welche bei den sogenannten „höheren“ Berufsarten auch noch für die Schule beansprucht wird, ist die Zeit tiefgreifender Aenderungen im körperlichen und geistigen Leben des einzelnen, die der Entwicklung; sie hat für Jüngling und Jungfrau neue Gesundheitsgefahren im Gefolge, und dazu fällt in sie gewöhnlich auch die für das fernere körperliche Befinden so wichtige Berufswahl mit ihren - oft verhängnißvollen – Mißgriffen. Es ist ja die Berufswahl erfahrungsgemäß einer der schwierigsten Schritte im menschlichen Leben, und es wirken meist eine ganze Menge von Umständen bestimmend auf sie ein. Immer aber sollte dem hygieinischen Gesichtspunkt mehr Gewicht eingeräumt, der körperlichen Anlage des Individuums mehr Rechnung getragen werden; die ererbten oder gegebenen leiblichen Fähigkeiten und geistigen Kräfte sollten viel mehr Berücksichtigung finden als z. B. Familienüberlieferung, spätere äußere Stellung, wirtschaftliche Bedürfnisse u. dgl., welche so oft allein den Ausschlag geben. Oder wäre es nicht verkehrt, einen Muskelschwachen zu einer schweren oder auch nur sitzenden Lebensweise, einen Lungenschwacheu zu einer Beschäftigung in Staub und Stube, einen Nervenschwachen zu vorzugsweise geistiger Arbeit zu bestimmen? Wie oft wird bei der Berufswahl ein Arzt zu Rathe gezogen? Fast nie! Statt dessen erfahrene Tanten und unwichtige Vettern umsomehr, ohne Frage meist ganz brave Leute, die aber nicht begreifen können, daß z. B. ein Brustschwacher besser zum Landwirth oder Gärtner taugt als zum Uhrmacher oder Schreiber. Auf diese Weise werden bedauerlicher Weise ganze Berufszweige mit körperlich dazu nicht geeigneten Leuten belastet, wie derjenige der Schneider mit skrophulösen und lungenverdächtigen Jungen, jener der Nähterinnen mit ebenso veranlagten oder blutarmen und nervenschwachen Mädchen.

Mit der Lebensstufe des Mannes und der Frau treten wir ein in das Alter der produktiven Arbeit.

Arbeit als solche ist anerkanntermaßen eines der besten Mittel, die Gesundheit zu erhalten und ein langes Leben sich zu sichern, wenn nur das richtige Maß nicht überschritten wird. Welches aber ist das richtige Maß? Die Antwort darauf ist sehr schwer zu geben, sie läßt sich nicht in Zahlen fassen, weil die Leistungfähigkeit jedes einzelnen eine zu verschiedene und wechselnde ist. So viel jedoch kann man sagen, daß das richtige Maß dann eingehalten ist, wenn die Arbeit nicht das Gefühl der Uebermüdung, das heißt nachwirkender Ermattung, zurückläßt, wenn der Mensch, sei seine Beschäftigung nun eine vorwiegend geistige oder vorwiegend körperliche, „frisch zur Arbeit“ bleibt, so daß er die Aufgabe der folgenden Stunde, des kommenden Tages ebenso leicht erfüllen kann wie vorher.

Ruhepausen sind bei jeder Arbeit nothwendig, da die dem Willen unterworfenen muskulösen Arbeitsorgane, die Arme, Hände etc., ihrer Natur nach nicht in einem fort wie eine Dampfmaschine, sondern nur mit zeitweisen, wenn auch nur über Bruchtheile einer Minute sich erstreckenden Unterbrechungen, also ruckweise thätig sein können. Diese dem Arbeitenden selbst stets unbewußten Ruhepausen lehrt uns eine genauere Beobachtung kennen. Sehen wir z. B. einem hobelnden Schreiner zu, so folgt auf jeden Vorstoß des Hobels ein ganz kurzer Stillstand, bevor das Geräthe zum nächsten Stoß zurückgezogen wird. Diese unbewußte, nur sekundenlange, aber regelmäßig sich wiederholende Pause dient einestheils zur Bildung des für die Einleitung des nächsten Hobelstoßes nöthigen neuen Willensakts und ermöglicht anderntheils ein wenn auch noch so kurzes Ausruhen der vorher thätig gewesenen Muskeln, während dessen sie sich zu erholen vermögen. Man glaubt gar nicht, welche Wichtigkeit diese kleinen Unterbrechungen haben. Sind sie z. B. zu kurz, wenn auch nur um Theile einer Sekunde zu kurz, folgen sich also die Hobelstöße zu rasch, wie dies bei hastiger Arbeit der Fall ist, so werden die Muskeln über Gebühr angestrengt, und die Folge ist dann durch Häufung dieser kleinsten Ausfälle an Ruhe das Gefühl der Uebermüdung. Jede eilige, überhastete Arbeit – nicht gleichbedeutend mit fleißiger, stetiger Arbeit – ist also hygieinisch falsch. Um möglichst ausdauernd arbeiten zu können, muß man die naturgemäßen Pausen zur Erholung der Muskeln richtig einhalten; das gilt für jede

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_011.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2017)