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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

den Flur öffnete. Während sie dort voll Angst auf die weiteren Mittheilungen des Arztes warteten, drangen vom Vorplatz her die Stimmen abziehender Gäste herein.

„Fatale Störung, das!“ hörte Bettina eine schnarrende Stimme draußen sagen. „Geschichte war famos im Zuge. Hast Du ’ne Ahnung, Knobelwitz, was der Alte anzeigen wollte?“

„Wie ich eben höre, die Verlobung seiner Tochter Bettina mit dem Grafen Trachberg – –“

„Donnerwetter! Die Kleine ist wohl ’n Goldfisch?“

„Jedenfalls. Billig verkauft sich der schöne Guido nicht.“

Säbelrasseln und Zuschlagen der Hausthür verkündete den Abzug der Sprechenden, deren Worte wie aus einem dumpfen Traum zu Bettina gedrungen waren.

Frau Rosita und Mathilde hatten den Vorgängen im Nebenzimmer gelauscht, jetzt mit einem Male öffnete sich die Thür. Bettina flog mit einem freudigen Aufschrei der Schwelle zu, sie hatte mit Sicherheit erwartet, der Vater werde ihr entgegentreten; statt dessen kamen Herr von Voßleben und Graf Trachberg mit ernsten, unglückverheißenden Mienen aus dem Raume. „Mathilde,“ sagte der Diplomat zu seiner jungen Frau, „der Zustand Deines Vaters giebt zu schweren Bedenken Anlaß.“

„Er ist tot!“ schrie Bettina auf, und ehe sie jemand aufhalten konnte, war sie über die Schwelle geeilt. Sie wollte sich über den Toten werfen, allein der Arzt fing sie in seinen Armen auf.

„Weinen Sie Ihren Schmerz aus, liebes Kind, aber nicht hier; den Toten dürfen Sie erst sehen, wenn Sie gefaßter sind.“

Mit diesen Worten drängte sie der theilnehmende Freund hinaus, und da Lisa eben in die Stube trat, gab er ihr einen Wink, über die Verzweifelnde zu wachen. Darauf schloß er das Zimmer ab, in welchem der Konsul lag, und trat in den Festsaal, um dem Rest der Versammlung anzukündigen: „Mein Freund, der Konsul Wesdonk, ist soeben infolge einer Lungenlähmung verschieden.“

Die Nachricht trug kalte Schauer durch die lichten Räume und scheuchte den Rest der Gäste fort. So leise schlichen sich diese aus der Villa, als könnte ihr Schritt den ewigen Schlaf des Dahingeschiedenen stören.

Die Töchter ließen in heißen Thränen ihrem Schmerze freien Lauf. Frau Rosita aber zeigte sich gefaßt und konnte Bettina noch einige Worte des Trostes sagen. Sie bat Lisa, die Weinende in ihr Schlafzimmer zu bringen, und bewog auch Mathilde und Voßleben, sich zurückzuziehen.

Als dies geschehen war, ließ sie sich vom Sanitätsrath die Thür aufschließen und sagte mit frommem schmerzlichen Augenaufschlag: „Ich werde bis zum Morgen am Lager des geliebten Toten beten.“

Sie stellte zwei silberne Leuchter neben das starre Antlitz und ließ sich, Gebete murmelnd, auf die Kniee nieder. Als das Rollen des letzten Wagens sie belehrte, daß auch der Arzt das Haus verlassen habe, streifte sie leicht die Stirn des Gatten mit ihren Lippen und sagte leise, ganz leise: „Mir scheint, theures Herz, Dich hat der liebe Gott zur rechten Zeit abberufen. Hab’ Dank für Deine Güte und ruhe sanft!“

Darauf erhob sie sich und lüftete vorsichtig die Thürvorhänge, um zu sehen, wer noch im Festsaale sei. Als sie den Diener und das Hausmädchen bemerkte, welche schläfrig die Tafel abräumten, huschte sie gleich einem Schatten über das Parkett und gab dann leise aber nachdrücklich ihre Anordnungen. Sie blieb, bis die werthvollen Tafelgeschirre in den Schränken verwahrt, die übriggebliebenen Vorräthe in der Speisekammer abgeschlossen waren, und dann erst entfernte sie sich schwebenden Schrittes in der Richtung nach dem Treppenhause.

*      *      *

Bettina war unterdessen vom Grafen Trachberg und von Lisa bis an ihr Schlafgemach begleitet worden, wo sich der Graf mit wohlgesetzten, aber förmlich klingenden Worten verabschiedete; Lisa hatte die Freundin umarmt und herzlich geküßt … Als Bettina im Schlafzimmer ein Licht entzündete, fiel ihr Auge auf den breiten Wandspiegel. Ein Laut des Schreckens kam von ihren Lippen beim Anblick des Spiegelbildes. Sie befand sich noch immer in dem Pagenkostüm, das sie zum Festspiel angelegt hatte. Zum ersten Male drängte sich ihr die Bemerkung auf, wie sehr die Erscheinungswelt von unserer Seelenstimmung abhängig ist. Als sie die Verkleidung anlegte, war sie entzückt gewesen von dem Reiz der Farben und der Anmuth der Formen, mit Selbstgefälligkeit hatte sie ihr Bild betrachtet und ihm lächelnd zugewinkt. Nun waren nur drei Stunden seit jenem Augenblick des Glücks vergangen, und es ergriff sie beim Anblick der leuchtenden Farben ein Gefühl so tiefen Abscheus, so herber Selbstverachtung, daß sie in den Ruf ausbrach: „Herunter mit der Narrenjacke!“ Mit zitternden Händen riß sie sich den kostbaren Anzug vom Leibe und schleuderte jedes Stück weit von sich.

Halb entkleidet setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes und ließ die Ereignisse des Abends noch einmal an sich vorüberziehen. Was drängte sich nicht alles in den engen Zeitraum weniger Stunden hinein – welche furchtbaren Wandlungen hatten sich vollzogen! Vor ein paar Stunden lebte sie noch des wonnigen Glaubens, daß die Welt ganz besonders zum Vergnügen ihrer werthen Person erschaffen sei, nur durch das Uebermaß geselliger Veranstaltungen war sie bisher ermüdet worden; sie hatte sich dem Wahn hingegeben, in der vollkommensten aller Welten zu leben. Und welche Erhebung, welch’ berauschende Gefühle und rosige Hoffnungen hatte ihr der Abend gebracht! Sie hatte geglaubt, von einem gütigen Geschick auf festgefügte Stufen des Glücks gestellt zu sein, und nun mit einem Schlage war alles zertrümmert!

Ihr war es plötzlich, als sehe sie noch einmal den Vater mit brechenden Augen wanken und nach einem Halt tasten, sie hörte noch einmal den dumpfen Fall. Hatte der sterbende Vater nicht all ihr schimmerndes Glück mit sich hinabgerissen? Und was sollten seine dunklen Andeutungen vorhin? Ihr war zu Muthe, als schwanke das Haus, welches sie bisher für unerschütterlich gehalten. Die Unterredung auf dem Balkon trat lebhaft vor ihre Seele. Sie hatte mit heimlicher Ungeduld auf die letzten Worte des Vaters gehört und gleichwohl einen tiefen Eindruck von ihnen empfangen. Seine Stimme hatte so weich geklungen, sein Auge so sehnsüchtig nach den dunklen Himmelstiefen geblickt! Sie suchte in der Erinnerung nach jedem Wort, das der theure Heimgegangene gesprochen, und da ihr fieberndes Gehirn die Sätze nicht gleich wiederfinden konnte, so kam das brennende Verlangen über sie, noch einmal in dieser Nacht an dieselbe Stelle zu treten, wo sie mit dem Vater in feierlicher Stimmung zum Sternenhimmel aufgeblickt hatte.

Rasch entschlossen zog sie ein Morgenkleid an und lief über die mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf zum Arbeitszimmer des Vaters. Als sie die Thür öffnete, tönte ihr ein Ruf der Ueberraschung entgegen. Auch sie prallte auf der Schwelle zurück bei dem unerwarteten Anblick, der sich ihr bot. Frau Rosita, welche bei dem Toten hatte wachen wollen, befand sich vor dem Schreibtisch. Des Vaters Geldschrank war geöffnet, und die trauernde Witwe hatte Geld, Papiere und das Kontobuch des laufenden Jahres vor sich ausgebreitet. Beim Anblick der eintretenden Stieftochter hielt sie in jähem Schreck die Hände über die Banknoten, dann glitt ein fahles Lächeln über ihre Züge und sie fragte mit unsicherer Stimme: „Was suchst Du hier, Bettina?“

Diese erholte sich nicht so leicht von ihrer Betroffenheit wie ihre Mutter. Sie schwieg eine Weile, ihre Blicke hingen an einigen Rollen Goldes, die im Schein der Lampe funkelten; dann entgegnete sie in gepreßtem Tone: „Ich suchte – suchte – das Andenken meines Vaters – wollte auf den Balkon, wo er zum letzten Male mit mir gesprochen hat. Dort enthüllte er mir seine Weltverachtung, und mir will scheinen, sie war gar wohl berechtigt. Was aber suchst Du hier? Ich dachte, Du seiest bei dem Toten, und finde Dich schon – bei der Erbschaft.“

Bettina hatte bei den letzten Worten die Stiefmutter so fest und drohend angesehen, daß diese die Augen niederschlug. Aber Rositas Verwirrung dauerte nicht lange, ihre listige Natur fand rasch einen Ausweg. „Thörichtes Kind,“ sagte sie sanft und einschmeichelnd, „wer sollte über Eure Interessen wachen, wenn ich es nicht thue? Dein armer Vater befand sich in geschäftlicher Bedrängniß. Nach den Andeutungen, welche er mir noch vor einigen Stunden machte, mußte ich beinahe befürchten, daß er dicht vor dem Ruin stehe. Als ich nun drunten vor der Leiche betete, kam mir der Gedanke: ist dein Gatte auch in Ehren gestorben, können wir

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