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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

hängen! Georg und ich wagen den Sprung ins Dunkle; wir gehen in ein fernes Land, kommen in fremde Verhältnisse, da müssen wir beide Hände frei haben und dürfen uns keine anderen Verpflichtungen auferlegen als die, welche das Amt bedingt. Haben wir uns erst drüben zurecht gefunden, haben wir unser Haus behaglich eingerichtet und uns einen Gesellschaftskreis gebildet, dann wirst Du uns allem Vermuthen nach sehr willkommen sein.“

Bettina war bei Mathildens scharfsinnigen Auseinandersetzungen immer gebrochener in sich zusammengesunken. Lange saß sie stumm und hoffnungslos auf ihrem Stühlchen, dann erhob sie sich mit der tonlosen Entgegnung. „Ich sehe ein, daß Du sehr vernünftig bist und daß ich hier zurückbleiben muß. Ich will mir Mühe geben, Deine klugen Gründe nach Verdienst zu würdigen.“

Mit Verzweiflung im Herzen kehrte sie in ihr Zimmer zurück; dort warf sie sich aufs Sofa und rief, in Thränen ausbrechend. „Ich suchte der Schwester Herz und fand nur schnöde Berechnung. O, nun verstehe ich Dich, theurer Toter, verstehe Deine Sehnsucht nach der stillen großen Welt der Natur. Wer mir den Weg zeigen könnte zur Flucht aus dieser Enge, dieser Lüge!“

Der Abschied der Schwestern am anderen Tage war ein recht kühler. Die praktische Frau von Voßleben hatte Bettina noch soviele Aufträge zu geben und wichtige Besorgungen einzuschärfen, daß ihr zu sentimentalen Anwandlungen keine Zeit blieb. Erst als sie Bettina zum Abschied küßte, fiel ihr deren verschlossene Haltung auf und sie bemerkte flüchtig: „Du siehst merkwürdig blaß aus, Betty. Nach den gesellschaftlichen Anstrengungen des Winters und den schmerzlichen Erregungen der letzten Wochen mußt Du etwas thun, um Dich wieder aufzufrischen. Nun, Du wirst ja mit der Mama Baden-Baden besuchen. Geh’ dort recht viel spazieren, mein Herz. Und jetzt lebt alle wohl!“

Es waren mit Bettina und Frau Rosita zahlreiche Freunde und Verwandte auf dem Bahnhof erschienen, um dem jungen Ehepaar Lebewohl zu sagen. Man brachte für Mathilde Blumen und kleine Andenken und tauschte mit ihr und Herrn von Voßleben die wärmsten Freundschaftsversicherungen aus. Nur Bettina stand abseits und blickte dem Zug, als er aus dem Bahnhof hinausrollte, mit trockenen Augen nach. Keine Trauer empfand sie, nur das Gefühl unendlicher erdrückender Leere. – –

In den nächsten Tagen fand der Umzug von der Villa in den ersten Stock eines neuen, vornehm eingerichteten Miethshauses statt. Das bot für Frau Rosita die willkommenste Zerstreuung. Auch Bettina nahm an den Arbeiten regen Antheil; beim Ausräumen der Zimmer, die ihr Vater bewohnt hatte, erschien ihr jedes Stück, das seine Hand berührt, wie ein heiliges Vermächtniß. Mit Sorgfalt forschte sie im Bücherschrank und in den Schubfächern des Schreibtisches nach hinterlassenen Papieren. Eines Tages fand sie ein unscheinbares verstaubtes Buch, dessen vergilbte Blätter eng beschrieben waren. Auf der ersten Seite stand in großen Buchstaben. „Mein Tagebuch“, darunter in kleiner Schrift: „Begonnen an Bord der ‚Schwalbe‘.“

Bettina zitterte vor Erregung. Ihr war es, als habe sie einen Schatz entdeckt, den sie vor neidischen Blicken schützen müsse. Hastig hüllte sie das Buch in eine Zeitung ein und verschloß es in ihren Schreibtisch. Sie konnte es nicht erwarten, sich in die geliebten Blätter zu versenken. Doch erst, als die Einrichtung von Frau Rositas neuer Wohnung annähernd vollzogen war und sie in derselben ein kleines, aber nett eingerichtetes Zimmer erhalten hatte, fand sie dazu Gelegenheit. – Eines Abends nahm sie ihren Schatz hervor und las bis um Mitternacht die Aufzeichnungen des Vaters. Diese umfaßten die Erlebnisse eines Jahrzehnts und reichten von seiner ersten großen Seereise bis zur Uebersiedlung von den Fidschi-Inseln nach Montevideo. Der junge Wesdonk war „mit tausend Masten“ in die Welt hinausgefahren, die Seele erfüllt vom Geiste Rousseaus. Mit der Phantasie des Dichters schilderte er das Meer, jene Inseln im Stillen Ocean, auf denen er seine schönsten Lebensjahre in Arbeit und Frieden verbrachte. Worte voll tiefen Glückes widmete er seiner ersten Frau, die er dort als die Tochter eines deutschen Kaufmanns gefunden und nach mannigfachen Schwierigkeiten heimgeführt hatte. Er verglich das Dasein, das er an ihrer Seite genoß, den Freuden von Paul und Virginie. Und aus allem leuchtete immer wieder das Entzücken an der schönen, tropischen Natur hervor, sein warmes Mitgefühl für die Eingeborenen des Landes. Nicht ohne tiefe Rührung konnte Bettina die letzten Blätter lesen, auf denen der Vater erzählte, wie schwer ihm und seiner Frau der Abschied von den Inselbewohnern geworden sei und wie viele Klagen und Scheidegrüße ihnen gefolgt seien. Das Tagebuch schloß mit einigen flüchtigen Bemerkungen, aus denen zu erkennen war, daß Wesdonk in der südamerikanischen Handelsstadt wohl die Absicht gehabt, die Aufzeichnung seiner Erlebnisse fortzusetzen, daß ihn jedoch die Fluth der Geschäfte abgelenkt hatte.

Als Bettina das Buch aus den Händen legte, glühten ihre Wangen und ihre Augen glänzten wie die einer Fieberkranken. Jetzt erst verstand sie die letzten Reden ihres Vaters ganz. Süße heilige Gefühle durchwogten ihr Inneres. Wie auf Geisterschwingen fühlte sie sich über Zeit und Meere weggetragen zu jener Inselwelt, die ihren Eltern zum Paradies geworden war. Sie hatte stundenlang mit den Theuren in der gleichen Welt geweilt, hatte den Hauch ihres Glückes verspürt, und jetzt, da sie das Tagebuch wieder sorgfältig verwahrte, sagte sie sich mit schwärmerischem Gefühl: „Ich werde nicht mehr allein sein. Dies Buch – es führt mich zu Euch zurück, die Ihr mich geliebt und gesegnet habt. O, daß ich auch ein solches Eiland fände wie Ihr, eine Stätte, die noch unberührt ist vom vergiftenden Hauche der Kultur!“




5.

Berlin schmachtete unter der Gluth der Julisonne, und die aus den Straßen und Alleen aufwirbelnden Staubwolken hatten die Laubmassen des Thiergartens grau gefärbt. Mit dem matten Aussehen der Bäume stand die Stimmung jener Stadtbewohner im Einklang, die in der schwülen Luft ausharren mußten. Auch Frau Rosita gehörte zu denen, welche die Millionenstadt an der Spree noch nicht mit einem Badeort vertauschen konnten. Sie befand sich in einem ärgerlichen Zwiespalt, und dieser Zustand wirkte derart auf ihre Nerven, daß sie Bettina ihre schlechte Laune empfinden ließ. Im Frühjahr hatte sie die Absicht gehegt, mit der Stieftochter die heiße Jahreszeit in Baden-Baden zu verbringen, wo sie darauf rechnen konnte, einen größeren Bekanntenkreis zu finden. Unterdessen war sie dem Grafen Trachberg begegnet, der ihr zu verstehen gab, daß er seinen Urlaub gern in ihrer Nähe verleben werde, falls sie allein reise. Die verständige Witwe begriff nach den Andeutungen des Grafen. daß sie zwischen seiner und Bettinas Gesellschaft zu wählen habe. Ohne Schwanken entschloß sie sich für den Gegenstand ihrer Hoffnung und mühte sich nun vergeblich mit der Frage ab: wie schaffe ich mir auf gute Art die Stieftochter vom Halse?

Die Hilfe sollte ihr von einer Seite kommen, von der sie es nicht erwartete. Bettina selbst war infolge der Lieblosigkeit und steten Bevormundung von seiten ihrer Stiefmutter zu dem Entschluß gekommen, Berlin nach einer andern Richtung zu verlassen als diese. Nur war sie noch unsicher, wie sie ihren Plan ausführen könne.

Eines Tages machte sie einen Besuch bei Lisa Horst, deren Mutter seit Jahren tot war. Sie fand die Freundin in großer Erregung und das ganze Haus in Unordnung. „Wir reisen,“ rief ihr Lisa entgegen, „und die ganze Last des Einpackens, die ganze Sorge für die Geschwister ruht auf mir. Wirthschafterin und Magd bleiben hier. Ach, ich wünschte, Du könntest uns begleiten, Betty!“

„Wohin geht Ihr?“

„An die Ostseeküste. Papa hat sich einen ganz einsamen Fleck Erde ausgesucht, ein Lotsendorf, das von Badegästen fast gar nicht und von Touristen noch weniger besucht wird. Er bedarf zur Kräftigung seiner Nerven nicht nur der Seeluft, sondern auch der Ruhe und Stille des Landlebens. Na, das wird schön langweilig werden! O, Betty, wenn Du der Freundschaft ein Opfer bringen, wenn Du auf Baden-Baden verzichten und mit uns ins Land der Flundern ziehen wolltest, das wäre groß, edel, erhaben – – aber freilich, alles in der Welt hat eine Grenze, und keine Menschenseele wird den Muth haben, sich freiwillig monatelang auf eine Sandbank zu setzen.“

Um Bettinas Mund irrte ein leises Lächeln. „Diesen Muth hätte ich schon, Lisa, wenn mich Dein Papa nur mitnehmen wollte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_044.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2019)