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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Herr, daß dies Stück Fleisch zur Sättigung eines Hungrigen nicht ausreichte und daß ich genöthigt war, als Nachtisch Messer und Gabel zu verschlucken.“

Hierauf verspeiste er das Beefsteak, dann nahm er feierlich die Gabel und ließ sie vor Fredis Augen im Schlund verschwinden. Der Knabe war starr und stumm vor Verwunderung. Ludmiller aber zögerte nicht, der Gabel das blanke Messer folgen zu lassen, dann wischte er sich mit der Miene höchster Befriedigung den Mund und sagte zu dem fassungslosen Fredi. „Sollten Sie, junger Herr, jemals gleich mir genöthigt sein, Ihren Hunger mit solch geschmacklosem Futter zu stillen, so rathe ich Ihnen dringend, eine Tasse Kaffee mit Cognac darauf zu setzen, denn diese Dinge sind nicht leicht verdaulich. – Kellner, zwei Tassen Mokka mit Cognac!“

Dieses Kunststückchen bildete die Einleitung zur gegenseitigen Vorstellung und allgemeinen Unterhaltung der Reisegefährten. Lisa konnte dabei die neckische Bemerkung nicht unterdrücken, sie habe Herrn Ludmiller zuletzt als Hamlet gesehen und damals nicht geahnt, daß der finstere Dänenprinz auch Messer verschlucken könne.

„Sie werden sich vielleicht noch erinnern, mein Fräulein, daß dieser Prinz seinem Freund Horatio versichert, es gebe mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lasse. Nun, solch ein Ding, das zwischen Himmel und Erde herumflattert und die landläufige Schulweisheit in Verwunderung setzt, mag wohl meine Seele sein. In mir regte sich schon früh das Komodiantenblut, ich entlief der Zucht meines Vaters, und da ich beim Theater, für das ich schwärmte, keine Gegenliebe fand, weil ich noch gar zu jung und unscheinbar aussah, so begann ich meine Laufbahn als Clown im Cirkus. Heute aber, da auf diesem ehrwürdigen Haupte der üppige Lockenwald langsam sich lichtet, vollzieht sich in meinem Innern ein wunderlicher, täglich sich erneuernder Kampf, der brauseköpfige, lärmende Clown der Jugendzeit will dem rheumatischen, den Weltfreuden entsagenden und der Altersversorgung beim Hoftheater zustrebenden Charakterspieler nicht das Feld räumen. Die beiden Gegner führen in meinem Innern ein verzweifeltes Ringen aus und darum erscheint mein Betragen oft wunderlich. Ich schwanke zwischen den entgegengesetztesten Stimmungen und bin wie ein verliebtes Mädchen bald ‚himmelhoch jauchzend‘, bald ‚zum Tode betrübt‘.“

Ludmiller hatte diese Erklärung mit erstaunlicher Zungenfertigkeit hervorgesprudelt, nun holte er tief Athem und erkundigte sich nach dem Reiseziel der Horsts. Als man ihm Massow nannte, rief er mit der Miene des Entsetzens seiner Frau zu: „Ludmilla, man ruiniert uns!“

Die Angeredete, eine nicht eben schön, aber klug und thatkräftig aussehende Frau, hatte der überschäumenden Natur ihres Gatten so oft einen Dämpfer aufzusetzen, daß ihre Sprache, nicht recht im Einklang mit ihren energischen Zügen, sich an einen sanften Klang gewöhnt hatte. „Du solltest die Erklärung voraufschicken, lieber Karl,“ sagte die kleine Frau, „daß Deine Worte nicht ernst zu nehmen sind.“

„Nicht ernst? Wo die Verzweiflung aus mir spricht? – Kennen Sie Massow, mein Herr?“

Horst entgegnete kopfschüttelnd, daß ihn nur die Schilderung eines Freundes bewogen habe, den Ort aufzusuchen.

„Nun, dann können Sie freilich nicht ahnen, wie sehr Sie uns berauben,“ fuhr Ludmiller in klagendem Tone fort. „Ich habe im vorigen Jahre Massow besucht und die Bäume jenes Wäldchens gezählt, das die Nordseite des Vorgebirges, des sogenannten ‚Höwts‘, bedeckt. Die Halbinsel, auf der das Lotsendorf liegt, besitzt rund hundertzwanzig Buchen und hundertzwanzig Föhren. Da sich nun bisher in jedem Sommer durchschnittlich zwölf Badegäste in Massow niederließen, so kamen auf jeden Gast zwanzig Schattenbäume. Dies auskömmliche Verhältniß aber wird schrecklich verändert, sobald die Zahl der Badegäste steigt. Ludmilla, uns bleiben nur fünfzehn Bäume, und was vielleicht noch schlimmer ist, uns steht eine Hausse der Flundern und Heringe bevor!“

Das Gelächter der kleinen Reisegesellschaft verstummte, als der Kapitän mit der Bemerkung herzutrat, daß ein von Massow kommendes Segelboot in Sicht sei.

Es war ein starkgebautes Boot, das auf ein Flaggenzeichen des Dampfers herbeigesegelt kam, um die für Kassow bestimmten Fahrgäste und Gepäckstücke mitzunehmen. Ludmiller sprang zuerst in das schwanke Fahrzeug, um den die Schiffstreppe herabsteigenden Damen behilflich zu sein. Allein er überzeugte sich schon beim Empfang seiner Gattin, daß die beiden breitschultrig und breitbeinig im Boot stehenden Lotsen fester standen und fester zugriffen als eine „Landratte“, und so begnügte er sich damit, die Damen zu den Bänken zu geleiten.

Als der Sanitätsrath mit seinen drei Kindern und Bettina neben den Ludmillers Platz genommen hatte, fragte der alte graubärtige Lotse am Steuer nach weiteren Passagieren für Massow.

Ein junger schüchtern aussehender Mensch, der während der Fahrt Lisa und Bettina unablässig mit schmachtenden Blicken angestarrt hatte, rief jetzt hinunter. „Pischel, ist noch Platz?“

Der Mann am Steuer nickte.

„Dann nehmt mich mit. Ich werde über den schmalen Hals zu Fuß nach der Pfarrei gehen.“

Die Lotsen brummten etwas in den Bart, was nicht gerade sehr ermunternd klang, allein sie nahmen auch diesen Reisenden ins Boot und wiesen ihm seinen Platz zwischen den Koffern an. Als der Dampfer den Kurs änderte und mit voller Kraft nordwärts steuerte, setzten die Lotsen ihr Segel um und richteten den Kiel gen Osten. Nach kurzer Zeit gewann das Fahrzeug die offene See und frischer Wind blähte sein Segel, sodaß es in flottem Laufe durch die Wellen schoß. Während Lisa lachend ihre Schwester Lotte umfaßte und beim Anschlagen und Aufspritzen der Wogen einen leisen Angstschrei ausstieß, erhob sich Bettina von der Bank, lehnte sich gegen den Mast und schaute auf die zackigen hohen Küstenränder. Im Licht der Abendsonne flimmerten fernab die Dünen, dann wurden einige glührothe Backsteinhäuschen sichtbar und eine weite grüngoldige Wiesenfläche. „Das ist Massow,“ sagte Ludmiller, „hier gründen wir unsere Ferienkolonie.“

Bettina fühlte bei dieser Nachricht ihr Herz schwellen. Das kleine Stück Land hob sich wie eine Insel aus dem weiten wogenden Meere. Den schmalen langen Dünenstreifen, der es mit der Küste verband, sah man nicht; dem Kenner der Landschaft verrieth er sich durch eine silberne Linie über den grünlich blauen Wogen – die Brandung.

(Fortsetzung folgt.)




Er hat spekuliert!

Mitten in das prickelnde Geräusch einer Tanzpause, in das Tönegewirr von flüsternden Stimmen, rauschenden Schleppen, schwirrenden Fächern, klirrenden Gläsern, dröhnt aus dem Erdgeschoß des Hauses herauf in den festlichen Saal ein dumpfer Knall. Die schwatzenden Gruppen, die wandelnden Paare verstummen, bleiben stehen; die Dame des Hauses mit dem Brillantdiadem im Haar stockt erblassend für einen Augenblick in der lebhaften Unterhaltung, die sie mit den vornehmsten ihrer Gäste führt, dann, sich gewaltsam beherrschend, versucht sie das befremdete Aufhorchen abzulenken und unbefangen das Gespräch weiterzuführen. Aber nicht nur ihre nächste Umgebung hat ihr Erbleichen gesehen, das Zittern bemerkt, welches sie befiel; vergeblich läßt der Sohn des Hauses die Musiker die nächste Tanztour anstimmen; von der weitgeöffneten Saalthür her dringt ein Flüstern anderer Art als das fröhliche, jäh unterbrochene, fliegt von Gruppe zu Gruppe, ein Flüstern voll Entsetzen, voll Mitleid, voll Scham; die Gesellschaft löst sich auf, entflieht mit verlegener Scheu der Stätte, welche eben noch schimmernde Festlust durchrauschte und durch die nun ein Schauer des Grauens geht, ein Hauch des Todes, dem die Dame des Hauses in Ohnmacht erliegt. – Wo ist ihr Gatte? – Auf der Treppe wächst das Flüstern zur lauten Klage, zum Zornesausbruch, zum Fluche … Unten im Komptoir hat er sich erschossen, der Bankerotteur! … Er hat spekuliert!

In der kleinen Provinzstadt geht mit niedergeschlagenen Augen, den Hut tief in die Stirn gedrückt und den Schatten der Häuser trotz des spärlichen Laternenlichts ängstlich suchend, ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_046.jpg&oldid=- (Version vom 30.6.2023)