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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

sein Geld angelegt und verwendet wird. Nur durch die Gleichgültigkeit des Kapitalistenpublikums, das wohl beweglich klagt, wenn der Schaden da ist, aber vorher sich oft in unbegreiflicher Weise wenig um das Schicksal seines Geldes kümmert, haben so viele große Bankerotte stattfinden, so viele Millionen verloren werden können. Bei vielen Aktienunternehmungen wäre eine regere Nachprüfung durch die Aktionäre zu wünschen; allein trotz aller schlimmen Erfahrungen sieht man noch oft genug kritische Fälle, wo die Betheiligten nicht einmal sich die Mühe geben, in den Generalversammlungen zu erscheinen oder sich vertreten zu lassen. Und nur durch grenzenlose Vertrauensseligkeit war es auch möglich, daß Hunderte kluger und sich ihrer Verantwortung bewußter Leute bei einer Firma ihr Vermögen in Verwahrung ließen, deren Leiter ein stadtbekannter Spieler und Verschwender war und über deren bedenklichen Zustand schon längere Zeit vor der Katastrophe Gerüchte umliefen.

Der kleine und mittlere Kapitalist, an den sich unsere Worte vornehmlich wenden, sollte überhaupt, und wenn er dabei auch seine Lebenshaltung etwas einschränken und sich manches versagen muß, sein Geld nur in den sichersten Werthen, in deutschen Staats- und Kommunalpapieren, in Pfandbriefen, Prioritäten u. dergl. anlegen. Schon die Industrieaktien bieten zu viel Gefahr, als daß ein vorsichtiger Hausvater wesentliche Theile seines Vermögens darauf setzen sollte. Bei den industriellen Aktiengesellschaften hängt zuviel von der guten Leitung und Aufsicht, aber auch von zufälligen Konjunkturen, Glücks- und Unglücksfällen ab. Nach großen Gewinnen können Perioden der Dividendenlosigkeit folgen, die Kurse auch der zur Zeit bestangesehenen industriellen Aktiengesellschaften sind bedeutenden Schwankungen unterworfen. Wer ruhig schlafen und für seine Familie ehrlich sorgen will, läßt sich nicht auf bedenkliche Wagnisse ein, die sich seiner Prüfung gänzlich entziehen. Das ist oft auch bei den größten Unternehmungen der Fall. So hat sich z. B. der Suez-Kanal außerordentlich gut rentiert und seine Aktionäre haben Hunderte von Millionen gewonnen; die zu 500 Franken ausgegebenen Aktien haben den fünffachen Werth und darüber erreicht. Dieser mächtige Erfolg ließ Herrn von Lesseps bei dem zweiten ähnlichen Werke, dem Panama-Kanal, das Geld in riesigen Massen zuströmen, und was ist das Ende? Der Verlust von einer Milliarde Franken für das französische Nationalvermögen, nachdem die Gesellschaft gänzlich verkracht ist und der Kanal selbst sich als kaum ausführbar erwiesen hat.

Am eindringlichsten ist aber vor dem eigentlichen „Spekulieren“, dem Ankauf von mehr Papieren, als mit dem wirklich vorhandenen Vermögen zu erwerben sind, vor Differenz- und Prämiengeschäften zu warnen. Wer einmal Blut geleckt, läßt nicht mehr davon; der Gewinn entfacht die Sucht nach Mehr und vermindert die Vorsicht, der Verlust reizt zu neuem Wagen, um das Verlorene einzubringen. Und dann kommt häufig das Ende mit Schrecken! Wer hat nicht in seinem Verwandten– oder Bekanntenkreise irgend einen traurigen Fall von verspekuliertem Vermögen, welches oft in jahrelanger saurer Arbeit verdient und erspart war, aufzuweisen, mit seinem Gefolge von Jammer, Elend und Gewissensbissen für die Betroffenen selbst!

Hoffen wir also, daß die Vorkommnisse der jüngsten Zeit vor allen Dingen unser Kapitalistenpublikum, den sorgsamen Hausvater, die meist von Geldsachen noch weniger verstehende Frau und Mutter vorsichtiger und der schweren Verantwortung bewußter gemacht haben; daß alle berufenen und betheiligten Kreise mehr als bisher dazu mitwirken, faule Elemente auszustoßen, den Schwindel aufzudecken; daß überhaupt eine strengere Moral auch in Geldsachen wieder platzgreift und daß bei dem Eingreifen der Gesetzgebung behufs Regelung des Depotwesens, Unterdrückung der Differenzgeschäfte, schärferer Bestrafung der Veruntreuungen und der betrügerischen oder leichtfertigen Konkurse etc. etwas Ersprießliches herauskomme. Dann werden die traurigen und schmachvollen Ereignisse, die am Schluß des letzten Jahres auf weitverzweigte ungesunde Zustände ein grelles Licht fallen ließen, doch unserer Zukunft zum Segen gereichen, dann wird man nicht mehr so oft angesichts einer zertrümmerten Existenz, eines aus zwar bescheidenen, aber doch gesicherten Verhältnissen ins Elend gerathenen Familienvaters die verhängnißvollen Worte hören: „Er hat spekuliert!“ Dr. Otto Ballerstedt.     


Der Blinde und seine gesunden Sinne.

Von Anna Pötsch in der Blindenanstalt zu Leipzig.

Wie verschiedenartig auch die Ansichten sein mögen, die unter dem großen Publikum über Blinde, über deren Fühlen, Können und Wissen verbreitet sind, und wie schwer es gelingen mag, dieselben völlig zu klären, so pflegt doch eine Thatsache von allen leicht begriffen und verstanden zu werden: daß das Gehör des Nichtsehenden sich durch ungewöhnliche Schärfe auszeichnet. Durch das Auge nehmen andere eine Anzahl von Eindrücken und Bildern in sich auf, die uns Blinden nur durch das Gehör oder den Tastsinn zugänglich werden können. Während die Empfindung des Sehenden häufig auf Auge und Ohr zugleich sich stützt, so zwingt uns Blinde die Nothwendigkeit, zunächst das Gehör als den Schlüssel zu benutzen, der uns zum großen Theil die Außenwelt öffnet, als den Untergrund, auf dem sich der Inhalt unserer Erfahrungswelt aufbaut. Was wir nicht durch die Thätigkeit des Ohres wahrzunehmen vermögen, das muß uns in vielen Fällen gänzlich verschlossen bleiben; kein Wunder daher, daß wir durch unausgesetzte Uebung die Leistungsfähigkeit desselben zu erhöhen und nach Kräften auszubeuten bemüht sind!

Wir Blinde vernehmen das Prasseln der Flammen, den singenden Ton des Gaslichts, das Brausen des Gewässers, können uns also vor Beschädigungen hüten, ohne von Fremden erst gewarnt werden zu müssen. Wenn ein Gegenstand unserer Hand entgleitet und auf harten Untergrund aufschlägt, so werden wir ihn weit leichter wieder finden, als wenn er auf einen weichen Teppich fällt, weil wir im ersten Falle durch Vermittlung des Gehörs ungefähr die Stelle errathen, wo das Vermißte liegen muß.

Der nichtsehende Lehrer, dem es vergönnt ist, seine Schicksalsgenossen zu unterrichten, ist zur Erfüllung dieser schönen aber schweren Aufgabe vielfach ebenfalls auf die Zuverlässigkeit seiner Gehörwerkzeuge angewiesen. Durch sie kann er kleine Eigenheiten seiner Schüler entdecken und bekämpfen; so wird er z. B. unruhiges Sitzen, Drehungen des Kopfes, die von manchen kleinen Blinden mit großer Vorliebe fort und fort ausgeführt werden, an dem veränderten bewegteren Klange der Stimme wahrnehmen. Auf gleiche Weise pflegt es ihm nicht zu entgehen, wenn ein Kind, dem noch ein Theil seiner Sehkraft verblieben ist, beim Arbeiten diese statt des Tastsinns in Anwendung bringt und sie dadurch unnöthig schwächt; denn das angestrengte Niederbeugen zum Sehen giebt der Stimme eine gedämpfte Färbung. Sogar Achtsamkeit oder Unaufmerksamkeit wird der blinde Lehrer bei seinen Schülern aus den veränderten Schattierungen des Tones herauslesen können.

Die angeführten Beispiele, die sich verzehnfachen ließen, zeigen genugsam, daß das Gehör die Lichtlosen vor mancherlei Gefahren schützt, ihnen eine gewisse Selbständigkeit verleiht und häufig ihre berufliche Thätigkeit erleichtert. Allein damit ist die große Wichtigkeit, welche dieser Sinn für uns hat, noch bei weitem nicht erschöpft. Wie nämlich der Mangel des Gehörs den Tauben so häufig unzufrieden, mürrisch und mißtrauisch macht, so versöhnt der Besitz desselben den Nichtsehenden in der Regel mit seinem Schicksale und verschönert ihm seine Lichtlosigkeit. Der Gesang der Vögel läßt uns vergessen, daß unser Auge das liebliche Grün des Frühlings nicht erblickt; wenn im milden Sonnenschein, dessen Wärme wir fühlen, die Schwalbe zwitschert, dann zieht lichte Lenzstimmung ein auch in unser Herz. Ein Gelehrter hat einmal mir gegenüber die Aeußerung gethan, es gewähre ihm besonderen Genuß, an schönen Sommerabenden im Freien geschlossenen Auges die Laute der Natur und das allmählich verstummende ferne Treiben der Menschen auf sich wirken zu lassen. Und wirklich, eine sommerliche Abendlandschaft mag dem Sehenden vielleicht mannigfaltiger aber kaum poetischer erscheinen als dem Blinden! Im Gegentheil: dieser wird das wesentlichste Merkmal derselben, den von ihr ausgehenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_048.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2024)