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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

für den weiblichen und männlichen Theil der Gesellschaft je eine geräumige Badehütte aufgestellt. Die Mädchen standen in der Regel früh am Morgen auf und badeten vor dem Frühstück. Der Anblick der sonnüberstrahlten Meerfluth und der erfrischende Morgenwind riefen dann all ihre Lebensgeister wach. Bettina war eine ausgezeichnete Schwimmerin, deren Ausdauer kaum eine Grenze hatte; war das Meer nicht allzu stürmisch bewegt, so schwamm sie so weit aus der Bucht, daß die Gefährtinnen sie aus den Augen verloren; kam sie zurück, so zeigte sie keine Spur von Erschöpfung. Nach dem Bad kehrten die Mädchen über den Wiesenpfad zum Schulhause zurück, bereiteten rasch den Kaffee und frühstückten gemeinsam mit dem Sanitätsrath und Fredi im thaufrischen duftigen Garten.

Gewöhnlich fanden sich die Horsts und Ludmillers dann während der Morgenstunden zwischen den Buchen- und Fichtenwäldchen in einer Thalmulde zusammen, die sie als die „Wolfsschlucht“ bezeichneten. Hier lagerten sie sich im Schatten der Buchen auf dem Rasen, plauderten und lasen oder vergnügten sich am Croquetspiel. Am Nachmittag unternahm man weite Fahrten im Segelboot nach verschiedenen Küstenpunkten oder man ging über den schmalen Hals ins nahe Pfarrdorf, wo sich ein gutes Wirthshaus mit Kegelbahn befand.

Wiederholt war den Mädchen bei solchen Gängen ein Landhaus an der Südseite aufgefallen, das sich mit seinem breiten Schieferdach aus einem heckenumschlossenen Obstgarten heraushob. Zuweilen hatten sie helle Kinderstimmen hinter dem grünen Gehege vernommen, hie und da begegnete ihnen auch ein stattlicher Herr mit strengen Zügen, an dessen Seite eine rundliche neugierig blickende Dame einherschritt. Der Schullehrer, den sie ausforschten, erklärte den Mädchen, dies seien die Respektspersonen von Massow, nämlich der Lotsenkommandant und seine Gattin.

Ein Zufall sollte bald darauf den Horsts das Landhaus erschließen. Eines Morgens trat der Lotsenkommandant mit dem Lehrer an der Seite vor die Hollunderlaube, in welcher der Sanitätsrath mit seinen Angehörigen eben das Frühstück verzehrte. Mit allen Zeichen der Bestürzung erklärte er, daß ganz plötzlich eines seiner Kinder heftig erkrankt sei. Gelegentlich habe er gehört, daß sich ein Arzt im Schulhause befinde, und so sei er gekommen, den Herrnt Sanitätsrath recht sehr um seine Hilfe zu bitten. Er könne sich zwar denken, daß Badegäste Massow nicht aufsuchten, um Berufspflichten zu erfüllen, allein der nächste Arzt wohne zwei Stunden entfernt, und es handle sich um die Rettung eines Menschenlebens.

Horst hatte sich unterdessen schon erhoben und erwiderte freundlich: „Es bedarf unter uns keiner Bitte, Herr Kommandant, denn wir gehören beide zur ‚Rettungsgesellschaft für Schiffbrüchige‘. Hoffentlich gelingt es mir, das Lebensschiff ihres Kindes wieder flott zu machen und nun lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren!“

Es war dem tüchtigen Arzte wirklich gelungen, das Kind, welches am Scharlachfieber schwer erkrankt war, in kurzer Zeit jeder Gefahr zu entrücken. Nach der Genesung des Bübchens machten die dankbaren Eltern ihren Besuch im Schulhaus und luden dessen Gäste dringend ein, sich in ihrem Heim einzustellen.

Als die Mädchen in Papa Horsts Begleitung dieser Aufforderung Folge leisteten, fanden sie eine größere Gesellschaft im Garten vor. Der Lotsenkommandant hatte den Besuch seiner Schwiegereltern und seines Schwagers, eines jungen Offiziers, erhalten; außerdem hatte sich der Pfarrer von Groß-Küstrow mit seinem Sohn, jenem schüchternen Reisegefährten, eingefunden. Der Hausherr eilte den Ankommenden mit unverhohlener Freude entgegen und stellte seine neuen Gäste vor; dabei reckte sich Lieutenant Ellernbruck gewaltig in die Höhe, als wollte er vor den Augen der jungen Damen in den Himmel wachsen. Seinen blonden Schnurrbart zwirbelnd, ließ er prüfend seine Blicke über Bettina, Lisa und Lotte gleiten und sagte sich in Gedanken: Da haben wir drei Grazien! Nummer eins: verträumtes Wesen, rothe Haare, vornehme Haltung – sucht ein Ideal, kann ich nicht leisten. Nummer zwei: pikantes Gesicht, Schelmenaugen, munteres Wesen, also vernünftiges Mädchen, mit dem sich spaßen läßt. Nummer drei: grethchenhafter Backfisch, naiv und voller Einbildungen – also Zukunftsmusik. Kriegsplan: Vorpostengefecht mit Nummer zwei. Ist kein Terrain zu gewinnen, so werf’ ich mich auf Nummer drei. Vorwärts denn „Lisette^ soll die Losung sein. Und mit Hochgefühl wandte er sich an Lisa. „Hätte ich eine Ahnung gehabt, meine Gnädigste, daß sich unser Höwt über Nacht in den Berg Ida verwandeln würde, so wär’ ich früher um Urlaub eingekommen.“

„In den Berg Ida?“ Lisa blickte zur Höhe hinauf, wo eben einige Schafe blökten und sagte mit Schelmenmiene: „Ich sehe die Schafe, vermisse jedoch den Schäferprinzen.“

„Thut nichts – die Göttinnen wenigstens sind da, gnädiges Fräulein, und wenn ich in dieser Schönheitskonkurrenz den goldenen Apfel zu vergeben hätte ...“

„Aber, Herr Lieutenant,“ unterbrach ihn Lisa spottend, „es hieße der Gerechtigkeit ins Gesicht schlagen, wollten Sie nach so kurzer Bekanntschaft bereits Ihr Urtheil fällen. Auch können Sie versichert sein, daß wir drei keine anderen Aepfel auf dieser Insel suchen als – eßbare.“

Sie wandte sich dem im Schatten eines breitästigen Apfelbaums aufgestellten Kaffeetisch zu, und der Lieutenant sagte sich: Kurzer Angriff ... abgeblitzt ... werde nach dem Kaffeeklatsch Spielchen vorschlagen.

Die kleine Gesellschaft unterhielt sich jedoch in dem schattigen Gartenwinkel so vortrefflich, daß des Lieutenants Vorschlag, eine Croquetpartie zu machen, keinen Anklang fand. Man plauderte über die Tagesereignisse und das gesellschaftliche Leben der Hauptstadt. Zu Bettinas Verwunderung legten der Pfarrer und die Gattin des Lotsenkommandanten eine schwer zu stillende Begierde an den Tag, Neuigkeiten vom Hofe und aus der großen Welt zu erfahren. Sie schienen die Städter nicht wenig zu beneiden, daß diese inmitten rauschender Vergnügungen lebten, von denen sie selbst nur aus der Ferne hörten. Als die Damen später einen Gang durch den blühenden Garten unternahmen, sagte Bettina zur Hausfrau: „Sie leben in einem kleinen Paradies – wie glücklich müssen Sie sein!“

Diese schaute die Sprecherin überrascht an und fragte verwundert: „Sprechen Sie im Ernst? Nennen Sie mich glücklich um dieses Gartens willen, der eine Oase bildet in der Wüste?“

„Sie können für sich allein leben und sind frei ...“

Die Frau des Lotsenkommandanten lachte. „Das Alleinleben ist recht schön für den Uebersättigten, nur darf es nicht zu lange dauern. Während des Sommers finde ich den Aufenthalt auf der Halbinsel ganz erträglich, da haben wir auch viel Besuch, im Winter aber – Sie haben keine Ahnung, wie schauerlich es da wird! Mein Mann hat wenigstens seine Berufsthätigkeit, und diese führt ihn von Zeit zu Zeit nach der nahegelegenen Hafenstadt, ich jedoch sitze mit den Kindern im Schnee und schmachte nach geselligem Verkehr, nach den Vergnügungen, die meine Mädchenjahre so schön und ereignißreich gemacht haben und die ich seit meiner Verheirathung schmerzlich entbehren muß. Mein Mann und ich werden den Tag segnen, an dem unsere Versetzung nach einer Stadt erfolgt. Hoffentlich geschieht’s bald – sonst laufe ich noch davon.“

Bettina erblickte in diesen überraschenden Aeußerungen nicht viel mehr als die Merkmale eines leichtfertigen Charakters. War es denn möglich, daß diese Frau das unaussprechliche Glück, hier in der Einsamkeit ganz dem Gatten und den Kindern leben zu können, um elender Nichtigkeiten willen opfern wollte? Freilich mochte jene die große Welt noch nicht so klein und erbärmlich gesehen haben wie sie selbst, es mochten ihr so bittere trübe Erfahrungen erspart geblieben sein. Allein trotz dieser Entschuldigungen fühlte sie sich von der Frau eher abgestoßen als angezogen.

Spät am Abend erst verließen die Horsts das Landhaus, und der Lotsenkommandant sagte seinen Gästen beim Abschied: „Betrachten Sie mein Haus als das Ihrige, Sie werden mir stets willkommen sein!“

Die neue Bekanntschaft trug viel dazu bei, den Sommergästen den Aufenthalt in Massow angenehm zu machen. Wollten sie segeln, so stand ihnen des Kommandanten Boot zur Verfügung, bedurften sie der Zerstreuung, so stellten der kecke Lieutenant und der schüchterne Theologe sich rechtzeitig ein – kurz, man hatte allen Grund, mit der Gestaltung der Dinge zufrieden zu sein.


*      *      *

In der Bucht vor Massow war ein Kriegsgeschwader vor Anker gegangen, das von den dänischen Küsten herabkam, und dessen Befehlshaber hier einige Uebungen vorzunehmen gedachte. Der

Anblick der schwarzen Kanonenboote und zweier Fregatten brachte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_071.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)