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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Richtig, da trat er hinter dem Boskett hervor, der Spanier mit der schlanken Gestalt und dem dunklen Krauskopf: „Ich bin auf einer Touristenfahrt ganz zufällig nach Massow gekommen,“ plauderte der Schelm mit seiner melodisch klingenden Stimme. „Im Gasthaus sagte mir der Wirth – ganz zufällig, Fräulein Wesdonk und der Herr Sanitätsrath seien in diesem Haus. In der Freude meines Herzens laufe ich hierher, glaube, Sie alle wohnen hier. Wie ich in den Salon stürme, errege ich große Verlegenheit; da man aber gastfrei ist in Deutschland, so bittet man mich, zu bleiben, und ich fühle mich schon wie zu Hause. Massow gefällt mir sehr, sehr; ich werde einige Tage verweilen.“ All das sprudelte er in gebrochenem Deutsch mit solcher Komik heraus, daß Bettina lächeln mußte.

Er küßte galant Bettinas Hand und ging mit den Mädchen in den Salon zurück, wo Ludmiller sehr rasch Fühlung mit ihm gewann. Und die beiden Künstler offenbarten eine so glänzende Unterhaltungsgabe, daß die Gesellschaft in heiterster Stimmung fast bis Mitternacht zusammenblieb.

Garcia Diaz begleitete die Horsts zum Schulhaus und wußte es auf dem kurzen Wege dahin so einzurichten, daß er mit Lisa einige Sekunden hinter einem Erlengebüsch zurückbleiben und einen leidenschaftlichen Kuß mit ihr tauschen konnte. „Ich liebe Dich, Lisa, liebe Dich unaussprechlich und werde wahnsinnig, wenn Du nicht bald die Meine wirst.“

„Gedulde Dich bis zu unserer Abreise, Garcia! Mein Vater hat mir noch nie eine Bitte abgeschlagen, sobald ich zur rechten Zeit kam, ich hoffe . .

„Lisa, wo bleibst Du?“ rief der Sanitätsrath, den die auffallende Anhänglichkeit des spanischen Cellisten etwas besorgt machte, und die Liebenden beeilten sich, den Voranschreitenden zu folgen.

In Garcias leichtentzündlichem Herzen wogten die leidenschaftlichen Gefühle noch nach, als die Horsts längst zur Ruhe gegangen waren. Die fröhliche Unterhaltung der Tafelrunde, der feurige Wein und die Hoffnungen, welche Lisa ihm gab, hatten seine Phantasie mächtig erregt. Er konnte sich noch nicht in dem öden Gasthaus zur Ruhe legen und ging am Strand spazieren, wo er in einer Art schwärmerischer Verzückung mit den Gestirnen sprach. Als die vom Meer heraufkriechenden Nebel ihn einzuhüllen begannen, wanderte er an den stillen Gehöften vorüber zum Schulhaus zurück. Er wollte noch einmal das kleine Giebelfenster sehen, welches Lisa ihm als das ihres Zimmers beschrieben hatte. Ob sie schon schlief? Garcia sagte sich, daß das unmöglich sei. Auch sie mußte ja gleich ihm an die Zukunft denken, an die wonnige Zukunft, auch sie würde vor Sehnsucht den Schlaf nicht finden können. Ach, wenn er sie noch einmal sehen, noch einmal sprechen dürfte, und wär’ es auch nur, um ihr gute Nacht zu sagen!

In solchen Gedanken war der Spanier zur Giebelwand des Schulhauses gelangt und bemerkte zu seiner Ueberraschnng, daß eine hohe Eiche ihren Wipfel über das Fenster der Geliebten hinaus bis zum Dachfirst streckte. Die starken Aeste des Baumes reichten bis an die Wand des Hauses, und ihn lockte es plötzlich, hinaufzusteigen und der Geliebten seine Anwesenheit kund zu thun. Er besaß große Gewandtheit in allen Leibesübungen, und es schien ihm ein Leichtes, hinaufzukommen, umsomehr als eine breite Egge, die an der Wand des Hauses lehnte, ihm den Aufstieg bis zum untersten Ast wesentlich erleichtern mußte. Mit keckem Entschluß knöpfte er das jetzt unbequem schwere Jackett, das er vorhin wegen der empfindlichen Nachtkühle angelegt hatte, über der Brust zu, stellte die Egge gegen den Stamm und stieg aufwärts.

Als er sich, um den Ast zu erreichen, auf der Kante der Egge emporhob, gab diese dem Druck des Fußes nach und fiel rückwärts zur Erde, so daß sie ihre Eisenzacken nach oben streckte. Garcia aber hatte den Ast erfaßt, und mit kräftigem Aufschwung gewann er die Höhe. Die vielen Aeste, von denen einige an der Schattenseite des Baumes bereits abgestorben und verdorrt waren, bildeten von da ab bequeme Stützpunkte und Staffeln, und mit spielender Leichtigkeit erreichte er den letzten festen Ast unter dem Gipfel. Als er auf diesem Fuß faßte, hätte er einen Triumphschrei ausstoßeu mögen, denn er sah das Fenster von Lisas Zimmer dicht vor sich. Wie aber sollte er die Geliebte, von deren Wachen er überzeugt war, von seiner Nähe in Kenntniß setzen, ohne deren Schwester Lotte zu wecken? Er beschloß, einen der Zweige abzubrechen und damit leise gegen das Fenster zu klopfen, und er entdeckte auch einen, der lang genug war, über seinem Kopfe. Aber bei dem Bestreben, das zähe Holz abzureißeu, ließ er es an der nöthigen Vorsicht fehlen, und als nun der Zweig plötzlich brach, verlor er den Halt. Vergebens tastete er im Dunkel nach dem Stamm; er schwankte, glitt aus und stürzte mit einem leisen Aufschrei in die Tiefe. In der nächsten Sekunde empfing er einen schmerzhaften Stoß gegen den Rücken, dann hing er wie ein Aufgespießter am Stumpfe eines abgedorrten Astes, der sich zwischen seinen Rücken und das Jackett geschoben hatte.

Als Garcia nach der ersten Betäubung sich über seine Lage klar geworden war, fand er sie zwar immer noch mißlich genug, war aber dem Schicksal dankbar dafür, daß es ihn vorläufig vor dem völligen Absturz bewahrt hatte. Mit einem Blick maß er dann die Entfernung bis zum Boden, sie mochte etwa zwanzig Fuß betragen; ihm kam der Gedanke, die beiden Knöpfe des Jacketts, welche dem Stoß widerstanden hatten – die beiden untern waren abgesprungen – mit den Händen zu lösen und dann zu versuchen, ob es gelinge, aus den Aermeln zu schlüpfen und sich hinunterfallen zu lassen. Er wollte lieber die Gefahr einer Beschädigung wagen, als vielleicht bis zum Morgen am Baume hängen und dann dem Hohn und Spott der Dorfbewohner preisgegeben sein. Zudem machte ihn der Gedanke rasend, daß Lisa durch sein Abenteuer bloßgestellt werden könne. Lieber ein Bein brechen, sagte er sich, als hier hängen bleiben. Eben begann er an dem untersten der beiden Knöpfe zu zerren, da fiel das Mondlicht durchs Laub und ein heller Schein traf die Erde. Ein heftiges Erschrecken lähmte Garcias Hand, denn er sah, daß gerade unter ihm die umgestülpte Egge lag; wenn er vom Baum fiel, so spießten die Stacheln des Ackergeräths seinen Körper auf. Der arme Bursche befand sich in einer gefährlichen Klemme und in seiner Angst rief er die Santissima Madonna und alle Heiligen an. Aber der Himmel sandte keine Hilfe.

Allmählich fingen, da der Blutumlauf gehemmt war, seine Arme an, abzusterben. Als die Schmerzen immer unerträglicher wurden, gerieth der nervöse Spanier in Wuth, verwünschte diese qualvolle, ewigwährende Nacht und erging sich in den kräftigsten Flüchen, welche die spanische Sprache aufzuweisen hat. Als auch sein Fluchvorrath erschöpft war, kam er zu einem verzweifelten Entschluß. Er wollte um Hilfe rufen, selbst auf die Gefahr hin, sein und Lisas Geheimniß entdeckt zu sehen. Vielleicht hörten ihn die Schwestern zuerst und brachten ihm Rettung. So rief er denn Lisas Namen erst halblaut, dann stärker und stärker; allein die Schwestern schliefen beide den tiefen Schlaf des Gerechten, niemand vernahm seine Rufe, nur die Hunde in der Nachbarschaft wurden laut und übertönten mit ihrem wüthenden Gekläff seine Stimme.

Als er endlich heiser und zum Tode ermattet verstummte und langsam in einen Zustand völliger Theilnahmlosigkcit zu versinken begann, wurde am Fuß der Eiche eine rauhe Stimme laut. „Halloh!“ rief ein Mann, der vom Höwt herunterzukommen schien, „sitzt jemand da oben?“ Garcia fuhr auf und antwortete mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft: „Jawohl, ein Badegast.“

„Ei zum Daus, wie kommen Sie denn in der Nacht auf des Schulmeisters Eichbaum?“

„Ich – ich wollte Vogeleier suchen,“ stotterte Garcia in so kläglichem Tone, daß der Mauu drunten hell auflachte.

„Vogeleier im August, da sieht man, daß Sie ein Städter sind. Bei uns weiß jeder Bauernjunge, daß die Vögel Mitte August keine Eier haben.“

„O, retten Sie mich, ich leide schrecklich, denn ich hänge seit langer, langer Zeit ganz hilflos an einem Ast.“

„Geduld! Ich hole eine Leiter.“

Der Mann verschwand in der Richtung nach dem Lotsenwachthaus und kam nach zehn Minuten, die Garcia eine Ewigkeit dünkten, mit einer Leiter und einem Seil über dem Rücken zurück.

Bald darauf war der Gefangene erlöst. Sein Retter war Ewald Monk, der beim Verlassen seines Nachtpostens auf dem „Utkiek“ die letzten Nothschreie des zappelnden Spaniers gehört hatte. Es währte lange, bis dieser die Arme wieder bewegen konnte. Als es endlich möglich war, wollte er in dankbarer Aufwallung den Seemann umarmen, der aber faßte ihn bei der Brust und rüttelte ihn so heftig, daß ihm fast der Athem verging: „Wollen Sie mir endlich sagen,“ rief er dabei wüthend, „was Sie da droben zu schaffen hatten?“

Der Spanier begriff die Neugierde seines Retters so wenig wie dessen Entrüstung, hielt es jedoch für gerathen, ein offenes

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_076.jpg&oldid=- (Version vom 4.11.2022)