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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Klarheit und Offenheit seines Wesens war es kaum zu verkennen, von wem der Künstler die Weihe erwartete. Der Gedanke aber, daß er ihr seine Liebe erklären könne, rührte in ihr die widerstreitendsten Gefühle auf. Es überraschte und verwirrte sie, daß die rauhe Außenseite dieses Mannes einen so weichen Kern barg. Sie war erstaunt über sein Wissen, seine geistige Frische, seine Willenskraft und konnte sich nicht verhehlen, daß in seinem Lächeln, seiner freimüthigen Sprache, in der Ehrlichkeit seines Wesens ein eigener Zauber liege. Allein sie wollte diese Empfindung nicht in sich aufkommen lassen und wehrte sich gewaltsam gegen die Macht, welche der ernste Mann über sie zu erlangen drohte. Sie sprang plötzlich von ihrem Sitze auf, schaute durchs Wagenfenster und rief beim Anblick eines in der Ferne auftauchenden Thurmes erleichtert aus: „Dort liegt die Hafenstadt!“

Rott hatte die Gemüthsbewegung von ihrem Gesicht abgelesen und richtig gedeutet. Ein Schatten ging über sein Gesicht und seufzend antwortete er: „Wo wir uns trennen müssen.“

Er blieb schweigsam bis zur Ankunft des Zuges. Bettina wollte sich hier von ihm verabschieden, allein er unterbrach sie rasch mit den Worten: „Sie werden mir hoffentlich gestatten, daß ich Sie an Bord des Schiffes bringe und mich so ein klein wenig erkenntlich zeige für die Gastfreundschaft, welche mir einst Ihr Vater erwies.“

Sie lächelte und überreichte ihm den Gepäckschein; es that ihr wohl, daß er ihres Vaters gedachte, und als er mit der Sicherheit des vielgereistett Mannes einen Dienstmann mit der Besorgung ihrer Gepäckstücke betraut und ihr den Arm gereicht hatte, um sie aus dem Menschenhaufen hinaus zu führen, sagte sie in warmem Tone: „Da Sie mich an Vergangenes erinnern, so habe ich Ihnen noch Dank zu sagen – durch Ihr wundervolles Spiel beim Leichenbegängniß meines Vaters hielten Sie diesem die ergreifendste Nachrede.“

Rott wollte einen Wagen herbeirufen, Bettina aber meinte, daß der kurze Spaziergang bis zum Landungsplatz der Schiffe eine wohlthuende Abwechslung sei nach der mehrstündigen Eisenbahnfahrt. So schritten denn beide Arm in Arm zum Hafen hinunter. Das lärmende Treiben dort lenkte sie von wehmütigen Gedanken ab. Der Künstler hatte mit scharfem Blicke den kleinen Dampfer für Massow aus der Menge der Fahrzeuge herausgefunden; er begleitete seine Gefährtin aufs Verdeck, wählte ihr einen bequemen Platz aus und ging dann wieder ans Land, um die Ankunft des Gepäckträgers zu erwarten. Die kurze Zwischenzeit benutzte er, um einen Strauß Veilchen und Schneeglöckchen einzukaufen. Er reichte ihr die Blumen beim Abschied, sah ihr tief in die Augen und wünschte ihr glückliche Reise. Dann setzte er schüchtern hinzu: „Darf ich ‚Auf Wiedersehen!‘ sagen?“

Mit freundlichem Lächeln reichte sie ihm die Hand und antwortete: „Auf Wiedersehen!“ – Sie hatte nicht das Herz, ihm mit einem kalten Nein zu antworten.

Als sich der Dampfer nach einigen Minuten in Bewegung setzte, sah sie Rott an Bord des für Kopenhagen bestimmten Schiffes. Er schritt gedankenvoll über das Hinterdeck und blies von Zeit zu Zeit die blauen Rauchwolken einer Cigarette in die Luft. Durch das Rauschen des vorüberfahrenden Dampfers erst wurde er aus seinen Träumereien aufgeschreckt, und wie sein Blick Bettina streifte, welche grüßend seine Blumen in die Höhe hielt, ging ein heller Schein über sein Gesicht und er sprang zur Kommandobrücke hinauf, um sie nochmals sehen und einen letzten Gruß mit ihr austauschen zu können. Und so wie er dort oben stand, von der hellen Mittagssonne beleuchtet, im flatternden Mantel, mit dem wehenden Haar über der breiten Stirn, prägte sich sein Bild ihrer Seele ein. Nach einer Weile machte sie mit leisem Schrecken die Entdeckung, daß dadurch ein anderes, ähnliches aus ihrer Erinnerung verdrängt werde. Sie erhob sich und schritt auf dem Verdeck hin und her, um die Erinnerung an diese Zusammenkunft los zu werden, aber es gelang ihr nicht. Wider ihren Willen kehrten ihre Gedanken von dem, was vor ihr lag, immer wieder zu dem Gespräch mit Rott zurück. Nachdenklich lehnte sie sich gegen die Schanzverkleidung des Schiffes und schaute hinunter in das schäumende Wasser; da stieg ein lieblicher Duft zu ihr auf.

„Ah, seine Blumen!“ rief sie entschlossen. „Dieses Duften des Frühlings hat es mir angethan; fort damit!“

Sie schleuderte das Blumensträußchen ins wirbelnde Fahrwasser, und als es ihren Blicken entschwunden war, setzte sie mit einer kräftigen Bewegung hinzu: „Aus der Welt, in welcher eine Rosita ihr Glück sucht, will ich nichts in mein Naturparadies mit hinübertragen.“




9.

Während der Fahrt wurde Bettina sehr enttäuscht durch die Mittheilung des Kapitäns, daß sie nicht darauf rechnen dürfe, von den Leuten aus Massow abgeholt zu werden, diese kämen nur während der Sommerzeit mit dem Boote heraus. So mußte sie an einem der größeren Küstenorte landen, von wo sie mit einem gemietheten Leiterwagen nach vierstündiger Fahrt auf holperigen und sandigen Wegen matt und zerschlagen Massow erreichte. Sie stieg im Schulhause ab. Die Lehrersfrau konnte ihre Verwunderung darüber, daß das Fräulein so früh und ganz allein in Massow eintreffe, nicht verhehlen. Als Bettina am gemeinsamen Abendtisch Platz genommen hatte, um eine Tasse Thee nebst einem Pfannkuchen zu genießen, enthüllte sie den Wirthsleuten ihren Plan, sich dauernd im Dorfe niederzulassen.

Sie hatte erwartet, daß die guten Leute bei dieser Eröffnung in freudige Zustimmung ausbrechen würden, allein zu ihrer Ueberraschung schüttelten beide den Kopf und der Lehrer fragte nach einer Weile, ob sie sich das auch wirklich überlegt habe; es sei hier zu Lande nicht der Brauch, daß ein Mädchen für sich allein lebe, und Leute wie der Herr Pastor würden das wahrscheinlich für unschicklich erklären. Bettina antwortete, daß ihr Gewissen die Richtschnur ihrer Handlungen bilde. Der Lehrer meinte, mit diesem Grundsatz möge der auskommen, der seinen Nebenmenschen nicht brauche, in Dörfern aber begegne man dem Nachbar zu oft, um seiner Gefälligkeit entrathen zu können. Besser sei es schon, wenn sie sich in den Schutz einer Familie begebe. Wolle sie nicht im Schulhause bleibeu, so werde der Lotsenkommandant sie gewiß gern bei sich aufnehmen, wenn sie in ihren freien Stunden den Kindern Musikunterricht ertheile. Bettina schwieg – sie konnte ja doch nicht sagen, daß sie weder des Lehrers noch des Lotsenkommandanten bedürfe, daß ein anderer ihr bald seinen starken Schutz gewähren werde.

Am folgenden Morgen erkundigte sie sich nach Ewald Monk und erfuhr, daß er als Lotse ein Vollschiff nach der Hafenstadt führe. Sie schritt durch die Felder, am Landhaus des Kommandanten vorüber, wo an den Hecken und Bäumen eben das erste junge Grün hervorsproßte; sie wollte sich einen Platz auswählen für ihr künftiges Heim und entschied sich für eine Staffel am Abhang des Höwts. Dort lag, etwa vierzig Meter über dem Meere, ein flaches Gelände, welches sich vortrefflich zur Anlage einer Villa eignete. Man hatte von da einen schönen Ausblick über die Bucht und die Küsten des Festlandes. Seitwärts von der Staffel, etwa fünfundzwanzig Fuß tiefer und jenseit des Fahrwegs, lag ein Bauernhof mit bemoostem Strohdach, der dem alten Bräuning gehörte. Vor dem Acker senkte sich das Land nicht jäh, sondern in schräger Linie zum Meere hinab, und ein Pfad schlängelte sich von der Höhe zwischen silberweißen Sandhaufen zum Wasser hin. Bettina, deren geschäftige Phantasie schon Landhaus und Garten auf dem Feld entstehen sah, entwarf Pläne um Pläne. Ein Ziergärtchen mit Rosenbüschen, Bosketten und zwei Obstbäumen sollte vor dem Hause angelegt werden, dahinter ein Gemüsegarten. Sie war bald von ihrem Vorhaben derart erfüllt, daß sie den Flächenraum schrittweise abmaß und vertheilte.

Im Laufe des Tages führte sie den Lehrer zu der künftigen Baustelle hin und fragte ihn, wem der Acker gehöre. Sie erfuhr, daß Bräuning der Besitzer sei. Als sie nun die Absicht enthüllte, das Feld zu kaufen, ermahnte der Lehrer zur Vorsicht, denn „oll’ Bräuning“ sei ein schlauer Fuchs, der gern seinem Nebenmenschen Schlingen lege. Bettina meinte, die Warnung könne sich nur auf die Höhe der Kaufsumme beziehen, und erkundigte sich, was das Stück Land wohl werth sei. Der Lehrer schätzte es auf zweitausend Mark, fügte jedoch hinzu, daß Bräuning jedenfalls mehr fordern werde. Bettina war als Tochter eines Kaufmanns nicht ganz unerfahren in geschäftlichen Dingen, sie beauftragte den gefälligen Mann, mit Bräuning in Unterhandlung zu treten, ohne dem Bauern zu verrathen daß sie die Kauflustige sei.

Sie dachte sich die Ordnung der Angelegenheit unter diesen biederen Menschen unendlich leicht, allein zu ihrer Ueberraschung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_107.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2022)