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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


dürfen wir nicht der Rohheit begegnen, Ewald, sonst bricht etwas in uns nieder, das sich in der Frauenseele nie wieder aufrichten läßt.“

Er schaute sie verständnißlos an, und da er bemerkte, daß ihre Augen sich mit Thränen füllten, machte er eine ungeschickte Bewegung, in der sich seine ganze Hilflosigkeit verrieth. „Geh, geh,“ versetzte er, „was das nun für Alfanzereien sind! Du thust gerade, als ob so ein tüchtiger Trunk ein Verbrechen wäre. Wann soll man lustig sein, wenn nicht an seinem Hochzeitstag? Bei solchen Gelegenheiten darf man kein Spielverderber sein!“

Ein leiser Seufzer drängte sich uber ihre Lippen – er verstand sie nicht. „Ich kann Dir nicht recht geben, Ewald – aber wir werden uns schon verstehen lernen; ich muß mich erst an Eure Lebensart gewöhnen. Im übrigen wäre es doch besser gewesen, wir hätten die Hochzeit im Gasthof gefeiert, noch ein solches Fest – und wir müssen eine neue Einrichtung kaufen.“

„Und Du kannst Dich dann nach einem neuen Manne umsehen, denn es ist ein wahres Wunder, daß ich mit dem Leben davongekommen bin. Einmat stand ich gegen vier –“

Während Bettina ihm einen Stuhl zum Tische hinrückte und seine Tasse füllte, verbreitete sich Ewald mit der stolzen Genugthuung des Siegers über den Verlauf des Streites, und dabei schwand sein Unmuth. Er empfand mit Behagen die Nähe der jungen Frau, die ihn mit Aufmerksamkeit bediente, die Traulichkeit des warmen Zimmers, aus dem die Spuren der Zerstörung entfernt waren, und nur sein Kopfschmerz erinnerte ihn noch an das unangenehme der verflossenen Nacht.

Als Bettina sich dann erhob, um den Frühstückstisch abzuräumen, kam ein Bewußtsein stolzen Glückes über ihn. Er durfte die Tochter eines Konsuls sein Weib und das schönste Haus in Massow sein eigen nennen. „Betty,“ sagte er in weichem Tone und preßte einen Kuß auf ihren Mund, „jetzt gehörst Du mir.“

Sie schaute ihm tief in die Augen; aber bei dem Gedanken, daß sie alle Verbindungen mit der Welt, in der sie bisher gelebt, abgebrochen habe und daß ihr Geschick unauflöslich mit diesem Manne verbunden sei, kam mit erneuter Gewalt ein Gefühl der Bangigkeit über sie, und sie antwortete zitternd: „Du bist jetzt meine Zuflucht, mein Halt, meine Stütze im Leben. Sei gut gegen mich, Ewald, damit ich heimisch werde hier in Massow! Willst Du?“

„Ja, mein Herz, das will ich.“

„Und laß uns, soweit es irgend thunlich, allein leben, Du wirst sehen, daß wir der Verwandten und Freunde nicht bedürfen, um glücklich zu sein.“

„Wie Du willst, mein Schatz. Aber“ – hier kraute er sich lächelnd den Kopf, „wenn Du Dich nur nicht langweilst. Die Winterabende sind höllisch lang, ich hab’ oft Dienst –“

„O, fürchte nichts! Die Abende sollen angenehm und traulich werden, recht traulich. Im Salon setzen wir uns zum flackernden Kaminfeuer, Du rauchst Deine Pfeife, ich lese Dir ein gutes Buch vor oder singe Dir ein Lied, und dann plaudern wir über Deine Erlebnisse oder machen Zukunftspläne – ach, das soll herrlich werden!“

„Und was thun wir jetzt?“ fragte Ewald.

„LaS uns eine Stunde segeln,“ schlug Bettina vor. „Der Wind bläst Dir Deine Kopfschmerzen fort und erfrischt uns beide.“

Gesagt, gethan! In der nächsten Viertelstunde flogen sie bei steifem Westwind im Boote der Küste zu. Dort landeten sie und wanderten durch den herbstlichen Wald bis zum Schloß der Gräfin Lindström. sie gedachten der Tage, da sie neben Lisa und Diaz denselben Weg gegangen waren, mit der Liebessehnsucht im Herzen. Nun war ihr Wunsch erfüllt, und wie Bettina am Abend mit dem Gatten nach der Klause zurückfuhr, schien es ihr, als habe das Meer ihrem Bunde erst die Weihe gegeben.

*      *      *

Der Winter setzte in diesem Jahre mit starken Schneefällen ein, und um die Mitte des November schon lag Massow in einer dicken weißen Hülle, welche nicht nur das Dorf von den Nachbarorten schied, sondern auch den Verkehr der Dorfbewohner von Gehöft zu Gehöft erschwerte. Da die Klause am weitesten ablag von der großen Häusergruppe und Bettina mit den Bräunings keinen Umgang hatte, so wurde das Landhaus für das junge Ehepaar in der That zur Klause. Bettina freute sich der aufgezwungenen Abschließung, denn nun wollte sie mit der Erziehung ihres Gatten beginnen. Da der Schiffsverkehr mit dem Eintritt der rauhen Jahreszeit an der Küste bedeutend nachgelassen hatte, so rief der Dienst Ewald selten aufs Wasser, allein der Kommandant nahm die Kraft der Lotsen für die Verkehrswege in Anspruch. Pfade zum Höwt und nach Groß-Küstrow mußten durch den Schnee gebahnt werden, und so war Ewald unter Tags häufig zu anstrengender Arbeit gezwungen. Aber dann gehörten die langen Abendstunden dem jungen Paare. Wenn Ewald in der Dämmerung mit geröthetem Gesicht heimkehrte, fand er Bettina auf der Schwelle; freundlich lächelnd bot sie ihm den Mund zum Kusse. Im Salon flackerte ein lustiges Feuer im Kamin; auf dem Tische brannte die Lampe, deren Licht durch einen rothen Schleier gedämpft wurde. Hatte sich Ewald dann im weichen Sessel niedergelassen, so trug seine junge Frau das einfache kräftige Mahl auf; während des Essens gab sie über ihre Beschäftigung Auskunft und fragte, wie er den Tag verbracht habe oder was im Dorfe Neues geschehen sei. Aber er wußte nur wenig zu berichten; immer einförmiger verlief das Leben. So waren die Bücher Bettinas einzige Zuflucht. Wenn der Tisch abgeräumt war und ihr Mann sich seine kurze Pfeife angesteckt hatte, holte sie einen ihrer Lieblinge aus der Bibliothek und fragte mit allen Zeichen freudiger Erwartung: „Darf ich Dir etwas vorlesen, Ewald?“ Und er antwortete, die breiten Schultern behaglich in die Polster vergrabend: „Ja, Schatz, aber was Schönes!“

Nun galt es, den Prometheusfunken in der Seele des Wilden zu wecken; die junge Frau hatte lange gegrübelt, mit welchem Buche sie ihn am leichtesten auf das geistige Gebiet locke. Sie sagte sich, daß sie mit Unterhaltungslektüre beginnen müsse, und wählte den „David Copperfield“ von Dickens. Sie las mit Eifer und las gut. Von Kapitel zu Kapitel hielt sie inne, um den Gatten auf die Vorzüge der Darstellung aufmerksam zu machen, um ihm eigenartige englische Verhältnisse zu erläutern und sie mit den deutschen zu vergleichen. Diese Randglossen spann sie geschickt zum Gelegenheitsunterricht aus, allein sie mußte zu ihrer tiefen Betrübniß erfahren, daß die Geistessaat auf unfruchtbaren Boden fiel. Ewald sah es gern, wenn Bettina las, er konnte dabei so verloren hinhorchen und zugleich doch seinen eigenen Gedanken nachhängen. Wus sie vortrug, kümmerte ihn wenig; für das, was außerhalb seines Berufes lag, hatte er kein Interesse, und so entlockte ihm denn seine Frau mit allen Darlegungen nur ein müdes: „Ganz recht, Betty“ oder durch die oft wiederkehrende Fragen „Ist Dir das klar?“ ein schläfriges Nicken. Beim zweiten, spätestens beim dritten Kapitel wurde die Vorlesung seitens des Hörers durch ein gelindes Schnarchen unterbrochen.

„Du hast die Zeit schlecht gewählt,“ sagte sich Bettina nach wiederholten vergeblichen Bemühungen, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. „Der Aermste kommt müde und erschöpft heim, da ist es kein Wunder, wenn ihn der Schlaf überwältigt. Versuch’s am Sonntag Morgen – aber mit was?“ Sie zerbrach sich den Kopf, um die Zauberworte zu finden, durch welche sie den dumpfen Bann von seinem Geiste nehmen könnte; endlich verfiel sie auf Edgar Poes „Raben“. Sie las das von erhabener Melancholie durchzogene Werk des amerikanischen Dichters mit einem seltenen Aufschwung der Seele und berauschte sich völlig am düstern Klange der Verse, an der geheimnißvollen schwermüthigen Stimmung, die sie beseelte. Sie vergaß es ganz, daß sie für Ewald las, der sie lautlos anstarrte und eine Rauchwolke nach der andern au der Pfeife blies.

Als Bettina geendet hatte, blickte sie mit feuchtschimmernden Augen ihren vom Rauch halb verhüllten Gatten an und sagte leise. „Ist das nicht groß und wundervoll?“

Ewald paffte noch eine starke Wolke in die Luft und entgegnete nach einigem Grübeln. „Der Vogel war wohl abgerichtet?“

Das Buch entsank Bettinas Hand, und sie murmelte bitter: „Es ist vergebens!“ Aber sie gab ihre Bemühungen noch nicht auf. Noch blieb ihr die Musik und mit dieser versuchte sie es, als der Abend kam. Ewald erklärte freudig, daß er sie lieber singen als vorlesen höre. Sie sang ihm ihre besten Lieder und erfuhr, daß die einschläfernde Wirkung der Musik für ihn noch ungleich stärker war als jene der Vorlesung. Sie hatte Chamissos „Frauenliebe und Leben“ in der Komposition von Schumann begonnen, aber noch bevor der Brautstand der besungenen Jungfrau zu Ende war, belehrten Ewalds tiefe Athemzüge seine Frau, daß sie den Rest vor tauben Ohren singen werde; aufseufzend brach sie ab und faltete verzweifelnd die Hände im Schoß.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_138.jpg&oldid=- (Version vom 16.11.2019)