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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Ehrgefühl, Verwahrung eingelegt; sie waren zwar nicht ausdrücklich zurückgenommen, aber stillschweigend beiseite gesetzt worden. Infolgedessen spazierte der junge Herr heute sehr vergnügt im junggrünen Buchenwald an der Seite seines Freundes Oskar und erwiderte dessen Aufschneidereien mit wahrheitsgetreuen Berichten über die Großartigkeit amerikanischen Lebens. Denn darin war er diesem blasierten, absprechenden Oskar doch endlich einmal gründlich über: er hatte einen Amerikaner und jener hatte keinen!

Bei dem Vortrab war mittlerweile die von Frida ersehnte Auflösung der Gruppen eingetreten. Eine Waldwiese, bunt von tausend Blumen, that sich auf, und im Nu eilten die Mädchen zum Pflücken, die jungen Herren, eifrig zur Unterstützung hinterher. Vilma bemühte sich nicht viel selbst, sie bezeichnete ihren Verehrern das Wünschenswerthe und entsandte den hartnäckigsten, Francis, an den entfernten Waldrand nach goldgelben Ranunkeln. Dann beugte sie sich über einige Federnelken am Wege und richtete sich eben wieder vom Pflücken auf, als Walter und Thormann herankamen.

„Nun, Fräulein Vilma,“ sagte der Landgerichtsrath scherzend, „warum widmen Sie sich heute so ausschließlich jenen grünen Jünglingen? Dürfen andere Leute nicht auch einmal das Glück Ihrer Gegenwart genießen?“

„Andere Leute scheinen wenig Bedürfniß danach zu haben,“ erwiderte sie leichthin im Weitergehen, „da sie sich durch politische Gespräche von der übrigen Menschheit absondern. Guten Morgen, Herr Thormann!“ Sie bog sich vor und sandte ihm unter dem Hute hervor einen schalkhaft lächelnden Blick zu. „Ich dachte, Sie seien mit der Studienmappe längst über alle Berge!“

Dieser Ton völliger Unbefangenheit nach der Spannung,, die in der letzten Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte, war ihm sehr erfreulich. So hatte sie also verstanden und – überstanden, wenn je etwas zu überstehen war!

„Nein, ich bin immer noch da,“ entgegnete er heiter. „Uebrigens suchte ich vor einer halben Stunde bereits meinen Gruß anzubringen, gnädiges Fräulein; Sie waren aber so in Anspruch genommen, daß sie es nicht bemerkten.“

Ausgezeichnet - er war eifersüchtig! Vilma fühlte eine Anwandlung, sich vor Vergnügen auf dem Absatz herumzudrehen. „Ach,“ sagte sie unschuldig mit einem verhaltenen Lächeln, „Sie meinen Mister Weston –“

„Ihren glühenden Verehrer!“ schaltete Walter ein.

„Er ist ein so drolliger Junge,“ lachte sie jetzt unbefangen, „und er spricht ein so wundervolles Deutsch. Ich bemühe mich stets, ihm ein besseres beizubringen. Da haben Sie das ganze Geheimniß unserer Beziehungen, Herr Rath! Uebrigens – wandte sie sich nun an Thormann, „wo ist denn Sigrid? Warum haben Sie das Kind nicht mitgebracht?“

„Sie ist weite Wege noch nicht gewohnt, ich fürchtete, sie könnte lästig fallen.“

„O – die süße Kleine! Wie mögen Sie nur so etwas sagen? Schicken Sie sie mir morgen, ich will sie ein wenig über ihren grausamen Papa trösten. O – danke!“ Das galt Francis, der mit langen Sätzen, einen Busch Ranunkeln in der Hand, über die Wiese kam. „Nun auch noch von jenen rothen dort, bitte!“

„Er apportiert wirklich ausgezeichnet,“ sagte Thormann sarkastisch, dem aufs neue Enteilenden nachblickend, „Sie verstehen Ihre Leute zu ziehen, Fräulein Vilma.“

„Warum lassen sie sich’s gefallen! Man behandelt jeden so, wie er selbst es haben will.“

„Aber man übt doch nicht ungern das angeborene Herrschtalent an fügsamen Unterthanen!“

„Da sind Sie stark im Irrthum,“ sagte sie mit einem eigenthümlich leuchtenden Blicke. „Ich möchte sehr gern einmal jemand finden, der es verstände, mich zu beherrschen, aber das ist mir allerdings bis jetzt nicht gelungen …“

Bei dieser Wendung des Gesprächs hielt es Walter für angezeigt, etwas zurückzubleiben, um den rückkehrenden Francis rechtzeitig abzufassen. Die beiden vor ihm gingen schweigend ein Stückchen weiter; Thormann überlegte noch eine harmlose Antwort auf das eben Gehörte, als sie plötzlich, um eine Waldecke biegend, die ganze vorangegangene Gesellschaft vor einem Hinderniß versammelt fanden. Man war an der verhängnißvollen Stelle angekommen, wo die Quellenwasser der Schutthalde, zum Bächlein vereinigt, mit ländlicher Unbefangenheit über den Weg strömten. Ein Bauernstiefel kam leicht hindurch, deswegen war bisher niemand in der Umgegend darauf verfallen, ein Brett zu legen. Deuteten ja doch ein paar hineingeworfene große Steine zu allem Ueberfluß klärlich die Richtung des Durchganges an!

Der leichtfüßigste Theil der Gesellschaft, die Jungen und Backfische, setzten bereits, mit großen Sprüngen über; die anderen standen da und betrachteten, je nach der Verfassung ihres Temperaments und Schuhwerks, mit Lachen oder Entrüstung das ansehnliche Wasserband. Nun kamen auch die Mütter heran, und es folgte eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung und nervösen Aufschreiens, bis die Damen, von rettenden Männerhänden unterstützt, die gefährliche Untiefe passiert hatten. Am schlimmsten stellte sich Frau von Düring an, sie hatte schon vorher durchaus umkehren wollen, nun stand sie, hinaufgehißt, hilflos auf dem ersten Steine und erklärte, „positiv“ nicht weiter zu können. Auch Vilmas scharfer Zuruf: „Mach’ Dich doch nicht lächerlich, Mama!“ erhöhte ihre Zuversicht nicht, sie schwankte, griff in die Luft und trat mit einem lauten Schrei mitten ins Wasser. Thormann eilte herbei, doch schon war Paula, die sich rasch über die Steine hinühergeschwungen hatte, bei ihr, half ihr heraus und zog sie hinüber aufs Trockene.

„Es ist empörend,“ rief die erhitzte, dicke Frau, „uns solch einen Weg zu führen. Das ist gar kein Weg, das ist ein Skandal! Ich habe mir den Tod geholt, positiv den Tod!“

Paula nahm sie tröstend abseits, rieb den nassen Stiefel mit Laub und Gras und versicherte ihr, daß der Fuß im Gehen bald genug trocknen werde.

Derweil stand Vilma immer noch am jenseitigem Ufer und wies jede dargebotene Hand mit einem unmuthigen: „Erst alle anderen!“ ab. Endlich bat sie Thormann, vorauszugehen und ihr nur drüben zum Emporschwingen die Hand zu reichen. Dann faßte sie geschickt ihr Kleid zusammen und balancierte mit Leichtigkeit von einem Steine zum andern. Aber fast drüben angelangt, schien sie einen Fehltritt zu thun, sie schwankte, streckte beide Hände gegen Thormann aus und er, rasch zugreifend, hob sie mit einem starken Ruck den kleinen Abhang herauf; für einen Augenblick ruhte sie an seiner Brust, bis sie wieder Fuß fassen konnte. Wie in rathloser Verlegenheit wandte sich Vilma rasch ab, den anderen Mädchen zu, während er, langsam folgend, noch den blitzschnell vorübergegangenen Eindruck der weichen jungen Glieder in seltsamer Verwirrung nachempfand …

„Es ist das Blut –“ murmelte er durch die Zähne leise vor sich hin, „das Blut! Hüte dich!“

Und er schritt, der jungen Gesellschaft ausweichend, längere Zeit einsam dahin, bis endlich der Kirchthurm von Eschenlohe in Sicht kam. Ein Stück weiter rückwärts folgte Paula, geduldig ihre ächzende, des Gehens ungewohnte Mutter führend. Sie war, mit dieser aus dem Gebüsch tretend, Zeugin der kleinen Scene am Wasser geworden, und das Herz schwoll ihr vor Scham und Entrüstung, denn sie wußte, wie unfehlbar sicher Vilma ihrer Sprunggelenke war, wenn sie wollte. O, nur fort, nur bald fort, um alles dies nicht mehr sehen zu müssen! –

Umblickend gewahrte Thormann die beiden Nachzüglerinnen und blieb stehen, sie zu erwarten. Er wäre längst gerne einmal mit dieser seltsamen Paula ins Gespräch gekommen, die im Salon ihrer Mutter niemals zu finden war, aber er merkte bald, daß die Gegenwart der Frau von Düring das unmöglich machte. Die Dame nahm ihn ganz in Beschlag, strömte über von Liebenswürdigkeiten, pries ihn und sein Kind, das ja auch Vilma so zärtlich liebte, ihre einzige Vilma, dieses Kleinod mit der engelsguten Seele … Dsnn fragte sie umständlich nach seinem neuen Haus und spielte recht deutlich auf eine künftige Hausfrau an, kurz, sie that alles, um das Mädchen an ihrer Seite in bittere Qualen zu stürzen und dem wortkargen Manne einen sehr übeln Eindruck zu machen. Paula wagte nicht, ihn anzusehen. „Er verachtet uns,“ dachte sie, „und mit Recht!“

(Fortsetzung folgt.)




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